MISEREOR beklagt mangelnde Impfgerechtigkeit

 

„Impfnationalismus“, der nur die Pandemie im eigenen Land im Blick hat, verkennt deren globale Tragweite: Gelingt es nur in einzelnen Regionen, das Virus so schnell wie möglich unter Kontrolle zu bringen, hat es Zeit zu mutieren und lässt sich noch schwerer bekämpfen. MISEREOR fordert Deutschland und die Europäische Union zu verstärkten Anstrengungen auf, im Zuge der Corona-Pandemie allen Menschen gleichermaßen und rasch einen Zugang zu Impfstoffen gegen das Virus zu ermöglichen. Solidarität mit schwächeren Staaten sei auch eine Frage der Vernunft.



 

(Aachen, 13. Januar 2021) MISEREOR fordert Deutschland und die Europäische Union zu verstärkten Anstrengungen auf, im Zuge der Corona-Pandemie allen Menschen gleichermaßen und rasch einen Zugang zu Impfstoffen gegen das Virus zu ermöglichen. Nach Ansicht von Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des katholischen Werks für Entwicklungszusammenarbeit, ist es dringend erforderlich, die im Umfeld der Weltgesundheitsorganisation WHO gegründete Initiative COVAX (Covid-19 Vaccines Global Access) finanziell so auszustatten, dass flächendeckende Impfungen auch in Ländern mit hoher Armutsquote zügig eingeleitet werden können. Experten befürchten, dass die Verwirklichung dieses Ziels noch Jahre dauern könnte, wenn die wohlhabenden Nationen nicht bereit seien, diesbezüglich mehr zu investieren.

„Machen wir uns nichts vor“, mahnt Spiegel, „die Welt wird die COVID-19-Krise nur dann bewältigen können, wenn wir sie überall und nicht nur bei uns bekämpfen.“ Er bezieht sich dabei auch auf Äußerungen von Tilman Rüppel vom Missionsärztlichen Institut in Würzburg, mit dem MISEREOR eng zusammenarbeitet. Rüppel warnt vor einem “Impfnationalismus“, der nur die Pandemie im eigenen Land im Blick hat und deren globale Tragweite verkennt. Es gehe jetzt darum, das Virus in allen Ländern dieser Erde so schnell wie möglich unter Kontrolle zu bringen, sagt der Experte. Gelinge dies nur in einzelnen Regionen, habe das Corona-Virus Zeit zu mutieren, also sich genetisch zu verändern, und könne noch schwerer bekämpft werden. „Solidarität mit schwächeren Staaten wird am Ende wiederum uns zugutekommen und ist deshalb auch eine Frage der Vernunft. Es ist nichts gewonnen, wenn wir als Gesellschaft zwar durch eine Impfung geschützt werden, diese jedoch ihre Wirksamkeit verliert, weil das Virus in einem anderen Land mutiert und von dort wieder zu uns getragen wird“, erklärt Rüppel.

Patent-Regelungen aussetzen

Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis unterstützt Pirmin Spiegel Forderungen nach einer befristeten Aussetzung von Patenten auf die verschiedenen Impfstoffe, um diese zeitnah produzieren und erwerben zu können, sie proportional zur jeweiligen Bevölkerungsgröße zu verteilen und die Gefährdungsgrade und die Vulnerabilität zu berücksichtigen.

Die Corona-Lage ist in vielen Ländern des Südens nach wie vor sehr angespannt. Blickpunkt Brasilien: „Hier berichten uns unsere Partnerorganisationen bei mehr als acht Millionen Infizierten und über 200.000 Corona-Toten von zum Teil verheerenden Zuständen“, so Spiegel. In Manaus zum Beispiel seien die Krankenhäuser überfüllt, es fehle an Schutzausrüstung. Noch wurde in dem lateinamerikanischen Land auch kein Impfstoff durch die staatliche Gesundheitsbehörde zugelassen. Mitverursacht werde die Problematik durch das Verhalten von Präsident Jair Bolsonaro, der Falsch-Informationen über angebliche Folgen von Impfungen verbreite und den Impfstart blockiere, weil er nicht ausreichend Geld für den Kauf von Spritzen und Nadeln freigebe und den rechtzeitigen Kauf von Impfstoffen verpasst habe, berichten MISEREOR-Partner. „Gouverneure, die sich in Eigeninitiative um die Beschaffung des medizinischen Materials kümmern, haben Drohungen erhalten, dass die Nationalregierung diese konfiszieren könnte“, so Adriano Martins, Berater von der brasilianischen MISEREOR-Partnerorganisation CAIS.

Mexiko: Fast die Hälfte von Armut bedroht

Dramatisch ist die Situation auch in Mexiko: Dort sind ‑ Stand heute ‑ über 134.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Insgesamt infiziert haben sich mehr als 1,5 Millionen Menschen. Das Land mit einer Bevölkerung von knapp 130 Millionen Menschen, der zehntgrößten Bevölkerung der Welt, verzeichnet die viertmeisten Todesfälle im Zusammenhang mit dem Corona-Virus. Die Pandemie verschärft die bestehenden sozialen Ungleichheiten. Bis zu 45 Prozent der mexikanischen Bevölkerung, die vor der Krise ein niedriges oder mittleres Einkommen bezogen, seien von Armut bedroht. Und die Regierung beschränke sich auf Appelle, um die Pandemie einzudämmen, berichten MISEREOR-Partner.

In Ländern wie Bolivien oder Argentinien fehlt es an genügend Finanzmitteln, um leistungsstarke und zuverlässige Impfstoffe kaufen zu können. Aufgrund dessen setzt etwa die Regierung in La Paz vor allem auf den aus russischer Produktion stammenden Impfstoff Sputnik. Dieser Impfstoff wurde weniger ausgiebig getestet als andere Präparate, und seine hinreichende Wirksamkeit ist umstritten. Aus Bolivien melden MISEREOR-Partner, dass es vor allem in ländlichen Regionen an der notwendigen Infrastruktur und Ausstattung für Impfungen (Kühlsystemeund so weiter) mangele, ebenso an geschultem Personal. Die Regierung lasse es auch an wichtigen Informationen fehlen, etwa zur Gesamtzahl der garantierten Impfstoffe, deren Zuverlässigkeit, Verträglichkeit, Wirksamkeit und Preise. Zudem verweigere sie zivilgesellschaftlichen Organisationen die Beteiligung bei der Bewältigung der Pandemie.

Mehr Impfstoff als nötig

„Einige wohlhabende Länder haben sich bereits mehr Impfstoffe gesichert, als sie zur Versorgung ihrer eigenen Bevölkerung benötigen“, sagt Spiegel. In vielen Staaten des Südens müsse die Bevölkerung dagegen lange warten, bis ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht. „Sorgen wir dafür, dass alle Menschen, die dies wünschen, schnell geimpft werden können“, mahnt der MISEREOR-Chef. „Im Sinne universaler Geschwisterlichkeit und Solidarität benötigen Armgemachte und Verletzlichste eine besondere Achtsamkeit. Und wir sollten trotz der Pandemie weitere gravierende und sich verschärfende Krisen des Südens nicht aus dem Blick verlieren: Hunger, fehlender Zugang zu Gesundheitsversorgung, mangelnde Bildungschancen, die Folgen des Klimawandels sowie Geschlechterungerechtigkeit.“

Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer des Bischöflichen Hilfswerkes MISEREOR.