Schließt einen Kompromiss auf Augenhöhe!

 

Die Kuba-Krise wurde letztlich durch einen klassischen Kompromiss auf Augenhöhe gelöst: Die USA und die UdSSR haben wechselseitig akzeptiert, dass es jeweilig Sicherheitsinteressen gibt, denen durch einen Cordon Sanitaire Rechnung getragen wird; die UdSSR hat ihre Mittelstreckenraketen aus Kuba abgezogen und die USA später ebenso die ihrigen aus der Türkei. Gibt es im Ukraine-Russland-NATO-Konflikt, immer noch mitten in einer Pandemie mit starken wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, nicht vielleicht gute Gründe für ein wenig verbale Abrüstung und eine Suche nach Kompromisslösungen? Vier Fragen und ein Vorschlag zum Ukraine-Konflikt, von Gerd Grözinger.


NU 220209 gg Ukraine

Wie vermutlich viele bin ich von der Intensitätszunahme im Ukraine-Russland-NATO-Konflikt überrascht und auch verwundert. Gibt es, immer noch mitten in einer Pandemie mit starken wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen, nicht vielleicht gute Gründe für ein wenig verbale Abrüstung und eine Suche nach Kompromisslösungen? Zur besseren Einschätzung der politischen Lage habe ich mir deshalb vier, für mich offene Fragen zurechtgelegt. Sie beziehen sich jeweilig auf historische Kontexte, deren mögliche Lehren mir bisher hier in der öffentlichen Diskussion zu wenig mitbedacht werden.

Die erste Frage geht an Russland. Das Land hat 144 Millionen Einwohner. Die Ukraine hat 44 Millionen. Ich bezweifele nicht, dass Russland als weit überlegene Militärmacht die Ukraine erobern kann. Und was folgt dann, kann sie das Land auch auf Dauer besetzen und befrieden? Das ist ihr jedenfalls in Afghanistan 1979 nicht gelungen, einem Land mit damals etwa 14 Millionen Einwohnern. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass Russland sich ohne wirklichen Anlass tatsächlich der Gefahr eines langandauernden blutigen Partisanenkriegs aussetzen wird. Da kann Moskau eigentlich nur verlieren. Genau für solche Situationen wurde der Begriff „Imperiale Überdehnung“ geprägt.

Die zweite Frage ist für Europa. Natürlich wäre ein Angriff Russlands auf die Ukraine eine flagrante Verletzung des Völkerrechts. Aber war das nicht genauso der Angriff der USA und ihrer vorwiegend europäischen Verbündeten auf den Irak 2003? Auch das Bundesverwaltungsgericht hast das so gesehen und einen degradierten deutschen Offizier wieder in seine Rechte eingesetzt, der trotz Befehls dabei nicht kollaborieren wollte. Und beim Irakkrieg war selbstverständlich keine Rede von Sanktionen oder persönlicher Verantwortung, weder damals noch im Nachgang als selbst-kritische Aufarbeitung. Stattdessen ist just jetzt der frühere britische Premierminister Toy Blair mit der höchsten Würde des Landes bedacht werden, einer der wichtigsten damaligen Kriegstreiber. Eine Petition mit dem Ziel, dies wieder zu revidieren, hat im Vereinigten Königreich in wenigen Tagen mehr als eine Million Unterschriften erreicht.

Die dritte Frage geht an die USA. Sicher ist es ein ehrenwertes Prinzip, dass jedes Land sich seine militärischen Bündnisse selbst aussuchen darf und auch, welche Truppen und Waffen es auf seinem Gebiet stationieren will. Aber sind die Vereinigten Staaten auch bereit, solches in ihrer Nähe zu dulden, so wie es im Fall der Ukraine von Russland verlangt wird? Als die UdSSR 1961 auf Kuba Mittelstreckenraketen stationieren wollte (die USA hatten hier mit der Türkei, einem geografischen Nachbarn der UdSSR, mit solchen Waffen vorgelegt), verhängte der damalige Präsident Kennedy eine Seeblockade. Ich fürchte, eine vergleichbare Antwort wäre auch heute zu erwarten, wagte Havanna eine engere militärische Zusammenarbeit mit Moskau oder etwa auch Peking. Das Völkerrecht gilt seinem Sinn nach aber für alle Staaten und nicht nur für demokratisch-rechtstaatlich formierte.

Die vierte Frage schließlich ist für die NATO. Sie verteidigt das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa. Eine russische Militäraktivität in einem Teil des Nachbarlandes Ukraine und die eventuelle rechtliche Anerkennung dieser abtrünnigen Gebiete wie im Fall der Donezker und Lugansker „Volksrepubliken“ durch Moskau verurteilt sie scharf. Wie handelte und handelt sie weiter aber in einem vergleichbaren Fall? Das Bündnismitglied Türkei besetzt seit 1974 einen Teil des Nachbarlandes Zypern und hat dort trotz Einspruchs des Sicherheitsrates mit den Resolutionen 541, 550 eine „Türkische Republik Nordzypern“ ausgerufen, die mit Ausnahme Ankaras von niemanden völkerrechtlich anerkannt wird.

Aus alledem ergibt sich für mich, dass die politische und auch moralisch-rechtliche Gemengelage doch weit komplexer ist als eine Diagnose von „Putin’s indulgence of his imperial impulses“, wie es der frühere Außenminister Joschka Fischer gerade formulierte. Vielleicht bietet aber der kleine geschichtliche Verweis auch Grund zur Hoffnung. Denn wie wurde die Kuba-Krise gelöst? Letztlich durch einen klassischen Kompromiss auf Augenhöhe. Die USA und die UdSSR haben wechselseitig akzeptiert, dass es jeweilig Sicherheitsinteressen gibt, denen durch einen Cordon Sanitaire Rechnung getragen wird. Die UdSSR hat ihre Mittelstreckenraketen aus Kuba abgezogen und die USA später ebenso die ihrigen aus der Türkei.

Was könnte heute Basis eines Abkommens sein? Es beruht implizit natürlich darauf, dass auch Moskau ein reales Interesse daran haben könnte. Und diese Hoffnung ist darin begründet, dass ressourcenmäßig die Kräfteverhältnisse letztlich sehr zugunsten des Westens ausschlagen. Alleine die USA gaben in 2020 778 Milliarden US-Dollar fürs Militär aus, Russland dagegen 62 Milliarden US-Dollar (SIPRI 2021). Mein konkreter Vorschlag: Der Westen zieht seine Mitgliedszusagen an die Ukraine und Georgien für zum Beispiel 50 Jahre zurück. Im Gegenzug handelt man mit Russland aus, dass die jeweiligen von dort militärisch und finanziell am Leben gehaltenen Gebiete Donezk und Lugansk sowie Abchasien und Südossetien wieder geregelt in ihre Ursprungsländer zurückgeführt werden. Beide Seiten hätten so etwas Bedeutsames vorzuweisen, mehr Sicherheit hier, mehr Frieden dort.


Gerd Groezinger

Prof. Dr. Gerd Grözinger (i.R.), Sozial- und Bildungsökonomik, Europa-Universität Flensburg.