Friedensethik der Evangelischen Kirchen und das Verhältnis von Sicherheitsordnung, Krieg und Rule of Law

 

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann (April 2024)

Der Beginn des Krieges in der Ukraine hat wie ein Schock gewirkt und hat viele die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 erneut zur Hand nehmen lassen. Der völkerrechtswidrige militärische Einfall Russlands in die Ukraine ist für mich ein Symptom wenn nicht Resultat dessen, dass die Sicherheitsordnung in Europa defizient und damit brüchig geworden „war“ – Aussage im Präteritum.

Wir sind Zeitzeugen eines Kampfes um die Dominanz in der Ukraine. Dazu kursieren diverse Erzählungen. Ein in diesem Kontext besonders verbreitetes und wirkmächtiges Narrativ hebe ich hier hervor. Es besteht aus drei Elementen, hantiert mit drei Schlüsselbegriffen:

  1. Der Kampf ist ein mit militärischen Mitteln ausgefochtener Krieg.
  2. Russland, das diesen Krieg begonnen hat, hat damit die Sicherheitsordnung (in Europa) zerstört.
  3. Der Westen, insbesondere Europa, engagiert sich in diesem Kampf auf der Seite der Ukraine, um die Rechtstaatlichkeit, die rule of law, zu verteidigen.

Das ist ein stark abstrakt begrifflich geprägter Dreisatz. Aus diesem Abstraktum wird geschlossen:

Ein Teil der Rule of law, das ist Rechtstaatlichkeit mit Gewaltenteilung, wird als realisiertes Konzept innerhalb der Staatengemeinschaft, also außenpolitisch, genommen – das sei die reale Sicherheitsordnung. Das geschieht trotz des warnenden Diktums von Carl Friedrich von Weizsäcker, nach dem Weltinnenpolitik eine Utopie sei mit dem spezifischen Gefährdungspotential, dass sie contra-faktisch als realisiert unterstellt wird. In diese Falle wird gegenwärtig vielfach getappt.

Um der zwischenstaatlichen rule of law wieder Geltung zu verschaffen, dürfe die militärisch herbeigeführte Zerstörung der Sicherheitsordnung nicht hingenommen werden, es dürfe zudem eh nicht zugelassen werden, dass ein so rechtswidrig herbeigeführter Territorialgewinn Bestand hat. Deswegen müsse der Krieg gegen den Verursacher solange weitergeführt werden, bis ihm der Territorialgewinn wieder abgenommen worden ist. Dann habe der Angriff keinen Ertrag gehabt, damit sei die Sicherheitsordnung wieder hergestellt, weil für eventuelle Nachahmer der Anreiz genommen sei.

Das ist ein extrem blutrünstiges Verständnis von „Sicherheitsordnung“. Es wurde bereits in einer Kolumne in diesem Urteilstenor dargestellt – aus Anlass des Bemühens an der FESt in Heidelberg, dem Think Tank der Evangelischen Kirchen, Hilfestellung zu leisten zu einem Diskussionsprozess, um innerhalb der Evangelischen Kirchen zu einer „Konkretisierung“ der „Evangelischen Friedensethik“ im Lichte des Ukraine-Krieges zu kommen. Dieser Strang der Meinungsbildung unter Christen wird hier erneut aufgegriffen.

Unzufriedenheit mit der EKD-Denkschrift von 2007

Der Beginn des Krieges in der Ukraine hat wie ein Schock gewirkt und hat viele die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 erneut zur Hand nehmen lassen. Herausgekommen ist dabei für die Urteilsfähigkeit der Spitzenvertreter der Evangelischen Kirche wenig. „Die häufig anzutreffende Sprachlosigkeit führender Repräsentantinnen und Repräsentanten der Kirchen in Deutschland zum Ukrainekrieg“ zeige den Bedarf an einer systematischen Aufarbeitung, gegebenenfalls einer Revision oder auch nur Konkretisierung der Denkschrift und ihrer Prämissen – so die Einschätzung von Ines-Jacqueline Werkner, der thematisch zuständigen Studienleiterin an der FESt in Heidelberg.

Der Text der 2007er Denkschrift kommt sehr völkerrechtlich daher. Es ist in der Tat schwer zu sehen, was mehr daraus folgen sollte als eine Ablehnung des russischen Bruchs von Art. 2 (4) UN-Charta. Auch die Interpretation von Wolfgang Huber, auch hier als Vortrag, zur Zeit der Ausarbeitung EKD-Ratsvorsitzender, hat nicht wirklich weitergeführt – seine Differenzierung mittels des Terminus „Defensivwaffen“ ist nicht einlösbar. Hubers Ableitung gipfelt in den abstrakten Maßstäben

das Tötungsverbot schließt die Verpflichtung ein, nicht töten zu lassen“ sowie

„<Das> schließt die Möglichkeit ein, … rechtserhaltende oder das Recht wieder herstellende Gewalt … einzusetzen, wenn keine anderen ausreichenden Mittel zur Verfügung stehen. … auch der Einsatz militärischer Gewalt <ist> an die Herrschaft des Rechts gebunden. Deshalb werden überlieferte Kriterien der „Lehre vom gerechten Krieg“ in der neueren Friedensethik verwendet. … damit soll … die Verteidigung gegen einen Angriffskrieg … an die Maßstäbe des Völkerrechts gebunden und in den Dienst eines gerechten Friedens gestellt werden.

Damit ist „das Völkerrecht“ zum alleinigen Maßstab des Urteils gemacht. Daher das Dilemma einer eigenständigen kirchlichen Urteilsbildung. Ich sehe nur zwei Auswege.

  • Entweder man geht den Weg des Friedensbeauftragten der EKD – nachzulesen hier. Er ist der Auffassung, dass man davon Abstand nehmen solle, die Friedensethik ultragenau zuzuspitzen beziehungsweise zu präzisieren. Im Ergebnis habe vielmehr zu gelten: Die Frage von Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet Ukraine ist „keine Frage des status confessionis, … sondern eine Frage der vernunftbasierten ethischen Güterabwägung, deren Beantwortung unterschiedlich ausfallen kann, je nachdem, welchen Fokus man wählt und welchem Argument man mehr Gewicht gibt.“ Der Punkt „Waffenlieferungen in Kriegsgebiete“ ist weiterhin aufschlussreich, weil die Politik der Bundesregierung zum Krieg im Sudan jüngst diese Position bezogen hat und weil die Bundesregierung gemäß Ampel-Koalitionsvertrag die Position, generell keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern, ab Dezember 2021 als eine neue Maxime vertrat – also als friedensethischen Grundsatz, nicht als Leitlinie, der man in Abhängigkeit von den Umständen des einzelnen Falles folgen könne oder auch nicht. Der Beschluss zu der Maxime in ihrer Grundsätzlichkeit war noch vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine gefallen, aber die Auguren pfiffen dessen Möglichkeit bis Wahrscheinlichkeit bereits von den Dächern. Damals befürwortete noch die Mehrheit der leitenden Geistlichen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dezidiert, was in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden war – eine Maxime, die von beiden Volkskirchen lange schon in großer Einhelligkeit gefordert worden war. Dann erfolgte das, wovor die Geheimdienste gewarnt hatten: Der russische Angriff auf die Ukraine wurde real. Die Bundesregierung hat daraufhin ihre Position schließlich geändert – sie liefert nun Waffen an die Ukraine. Der frisch berufene Friedensbeauftragte des Rates der EKD hingegen, der sich im Januar 2022 voll hinter diesen Punkt des Koalitionsvertrages gestellt hatte, ist bei der ursprünglichen Position der neuen Bundesregierung geblieben. Die Mehrheit der leitenden Geistlichen in der EKD hingegen hat sich dem Positionswechsel der Bundesregierung angeschlossen. Das wirft die Frage auf: Was hat sich die Mehrheit der leitenden Geistlichen im Dezember 2021 bis Februar 2022 gedacht? Lediglich dass nicht sein kann, was nicht sein darf? Der Friedensbeauftragte erscheint im Nachhinein als einer der wenigen, der seine Position angesichts der Realität von Waffen, Militärs und Verfeindung vorher durchdacht hat.
  • Die zweite Option: Man bohrt die Schlüsselbegriffe „Völkerrecht“, „Krieg“ und „Gewalt“ deutlich mehr auf als es in der Friedensdenkschrift der EKD von 2007 geschehen ist. Erst dann gelangt man zurück auf ein Plateau, auf dem Abwägungen wieder möglich sind. Zum Zweck einer solchen Orientierung ersetze ich den Begriff „Völkerrecht“ durch „Sicherheitsordnung“, um die alleinige Verpflichtung auf die defiziente UN-Charta zu vermeiden. Diese blieb in der Umsetzung gegenüber der Intention bekanntlich defizient, insofern macht eine sklavische Bindung daran keinen rechten Sinn. Sie ist zwar geltendes Völkerrecht, bietet aber keine Sicherheitsordnung, deren Funktion ist, den Anreiz für einen Krieg zu nehmen.

Hat Russlands Angriff auf die Ukraine ernstlich die Sicherheitsordnung in Europa zerstört?

Russland hat am 24. Februar 2022 die Ukraine militärisch angegriffen. Das wurde in der Urheberschaft nicht verbrämt, das wurde offen vollzogen, das ist zweifelsfrei. Interpretatorisch teilen sich dann aber die Auffassungen.

  • Gemäß einer Haltung hat Russlands Angriff die europäische Sicherheitsordnung zerstört.
  • Die umgekehrte Haltung besagt, die Sicherheitsordnung in Europa sei in den letzten 20 bis 30 Jahren Schritt für Schritt abgebaut worden – und diese Degradation war es, was den Angriff Russlands ermöglicht hat.

Ich habe das Zutrauen, dass nur eine der beiden Auffassungen „richtig“ im Sinne von angemessen sein kann. Welche das ist, wird in diesem Abschnitt geklärt.

Prominente Vertreterin der erstgenannten Auffassung ist Annalena Baerbock, Deutschlands aktuelle Inhaberin des Ressorts für auswärtige Beziehungen. Aus Anlass des 75-jährigen Jubiläums der NATO hat sie dem Deutschlandfunk immerhin ein ungewöhnlich langes Interview gewährt. Das ist auch der rhetorischen Technik der Ambiguität wegen hörenswert. In diesem Interview äußert Frau Baerbock sich auch zum Verhältnis von Sicherheitsordnung und Krieg. Ihre Aussage lautet sinngemäß.

Russland hat mit seinem Angriff auf die Ukraine die Friedensordnung in Europa zerstört.

Mir fällt es schwer, der Logik dieses Gedankens beziehungsweise dem verwendeten Bild zu folgen. Mein Verständnis ist vielmehr kausal genau entgegengesetzt: Der Sinn beziehungsweise die Funktion einer Sicherheitsordnung ist, die Option, Konflikte mit militärischer Gewalt auszutragen, möglichst unwahrscheinlich zu machen, im besten Fall wirklich zu verhindern. Der völkerrechtswidrige militärische Einfall Russlands in die Ukraine ist für mich deshalb ein Symptom wenn nicht Resultat dessen, dass die Sicherheitsordnung in Europa defizient und damit brüchig geworden „war“ – Aussage im Präteritum. Sie hat die ihr zugedachte Funktion, den Austrag von Konflikten in Europa mit Gewalt zu bannen, schließlich nicht mehr zu erfüllen vermocht. Im Februar 2022 ist gleichsam zu einem Dammbruch gekommen, und zwar erneut. Vorläuferversagen war der NATO-Angriff im Jahre 1999 auf Jugoslawien. Der Georgien-Krieg und die 2014er Vorgänge im Osten der Ukraine und auf der Krim wird man, in diesem Bild, als kurzzeitige Damm-Überläufe einordnen, ohne dass es zum Bruch des Damms gekommen wäre.

Nimmt man das Damm-Bild etwa in dieser Weise ernst, dann wird man übrigens sagen können: Im Februar 2022 bestand noch die Chance, dass es bei einem Kurzfrist-Krieg geblieben wäre – der Dammbruch, in Frau Baerbocks Vorstellung das Ende der Sicherheitsordnung in Europa, ist somit erst mit der Entscheidung eingetreten, die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die direkt nach Kriegsbeginn aufgenommen wurden und den ersten Kriegsmonat intensiv begleiteten, abzubrechen, also etwa Ende März 2022. Auch da ist Frau Baerbock, wie nicht selten in ihren Äußerungen, unpräzise.

Ist das bildhafte Gleichnis des Dammes aber wirklich geeignet zur Charakterisierung einer Ordnung zwischen Staaten, die Sicherheit im Miteinander verbürgen soll? Ich zweifle. Man mache einen gedanklichen Vergleich, indem man dieses bildhafte Gleichnis auf einen analog bedrohlichen Vorgang anwendet, nun unter dem Regime einer innerstaatlichen Sicherheitsordnung. Kommt es da zu rechtswidrigen Gewalttaten, so würde kaum jemand das als Zerstörung der Ordnung, als Dammbruch, auffassen. Rechtsbrüche kommen eben vor, die Ordnung vermag sie nicht auf Null zu drücken, das wäre ein zu hoher Anspruch an die Effizienz einer Sicherheitsordnung nach innen. Die Ordnung schützt vor Gewalt nur statistisch, nicht zu 100 Prozent. Anders ist es, wenn eine Gruppe, zum Beispiel aus der OK oder als politisch motivierter Verbund, gezielt das rechtsstaatliche System versucht dysfunktional zu machen, indem Schlüsselakteure wie Staatsanwälte und Richter bedroht und Zeugen grundsätzlich und systematisch umgebracht werden – also die Vorgänge in den 1920er Jahren und die Stadtguerilla in Berlin. Fasst man diese Form der Bedrohung im Bild eines Dammes, so wären als Grund eines Bruchs systematisch unterlassene Instandsetzungen beziehungsweise gar Sabotage-Handlungen am Damm zu konstatieren. So in etwa ginge das verwendete Bild auf.

Hinzu kommt bei einem Dammbruch ein weiterer Grund: Es muss vorher einen erhöhten Zulauf und damit Druck auf das Damm-Bauwerk gegeben haben. Diesen Energieanstieg kann der Mensch entweder selbst veranlasst haben, wie beim Klimawandel, oder der Damm-Verantwortliche kann, sofern er das Erhöhte nicht abzustellen vermag, versäumen, sich darauf einstellen – er kann das unterlassen. In diesem Sine ist das Dammbruch-Bild auf die überlastete Sicherheitsordnung in Europa übertragbar.

Aber nichts davon scheint Frau Baerbock gemeint zu haben – sonst würde sie nicht so eindeutig auf einen Mono-Verursacher für den Dammbruch verweisen. Schließlich ist doch selbstverständlich, dass eine konzipierte Sicherheitsordnung ihre Stabilität nur durch Kooperation erhält und wenn sie diese durch Destruktion wieder verloren hat, dann wird dies in aller Regel kooperativ geschehen sein.

Das Verhältnis von UN-Sicherheitsordnung und Sicherheitsordnung in Europa

Auffällig an der Sprechweise unserer Außenministerin und von Juristen, die analog argumentieren, ist überdies, dass das Objekt in der Kausalkette, der Begriff „Sicherheitsordnung“, völlig blass bleibt. Gemeint ist augenscheinlich in der Regel allein das Angriffskriegsverbot nach Art. 2 (4) UN-Charta, selbst dann, wenn wie im Zitat von Frau Baerbock, ein „in Europa“ hinzugesetzt wird.

Die globale Sicherheitsordnung nach UN-Recht, konzipiert in 1944 und in Kraft gesetzt 1945, ist von der nach 1989 geschaffenen speziellen regionalen Sicherheitsordnung, der in Europa, aber zu unterscheiden. Die UN-Sicherheitsordnung gemäß Atlantik-Charta wurde nicht, wie ursprünglich designed, umgesetzt, sie blieb defizient. Auf sie war somit, gerade in Konflikten, in die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates beidseits involviert sind, kein Verlass. Das war der Grund, weshalb für Europa nach Ende des Kalten Krieges eine eigene, besser verzurrte Sicherheitsordnung konzipiert und recht weitgehend auch realisiert worden ist. Sie besteht beziehungsweise bestand aus drei Pfeilern,

  • aus der UN-Rechtsordnung, die weiter Bestand hatte,
  • aus einem rechtlich-organisatorischen Pfeiler gemäß den Verabredungen in KSZE/OSZE in Form von Rechtstexten minderer Dignität; und
  • einem Bündel von Rüstungsbegrenzungs- und -kontrollabkommen.

Das Bündel von Rüstungskontrollabkommen war geschlossen worden zwischen westlichen (NATO-) Staaten einerseits und Staaten des Warschauer Pakts andererseits. Das Bündnis Warschauer Pakt löste sich 1991 auf, das Bündnis NATO nicht; etliche ehemalige Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes wechselten nach einigen Jahren ins westliche Lager. Das ergab rüstungskontrollpolitisch eine numerisch neue Konstellation. An die wären die maßgeblich 1990 abgeschlossenen Verträge sinngemäß anzupassen gewesen.

Damit stand an, zu demonstrieren, dass man beidseits zum Sinn der Abkommen weiterhin stand. Doch der Test schlug fehl. Der Westen, vertreten durch die USA, nun in einer militärisch weit überlegenen Dominanz-Position, hatte sein Interesse an einer Ordnung im Modus der Kooperation verloren. Damit war vom Westen demonstriert, dass er kein Interesse an einer echten Sicherheitsordnung in Europa unter Gleichen mehr hatte, es reichte ihm, dass seine Sicherheit durch militärische Dominanz (schein-)gesichert war. Das aber war keine durch „Ordnung“, also kooperativ, geschaffene Sicherheit, im Gegenteil, das Oktroi-Moment in einer solchen durch Dominanz erreichten Sicherheit war der Keim, der beim (vermeintlichen) Partner das nationalistische Ressentiment wuchern ließ. Politik-systemisch betrachtet „musste“ es beinahe so kommen, wie es nun eingetreten ist. Es wurde bekanntlich auch in den frühen 1990er Jahren, als die diesbezüglichen Entscheidungen in den USA getroffen wurden, exakt mit Hinweis auf dieses Systemmuster gewarnt.

Überdies ist das Phänomen: Die Maßgaben des OSZE-Rechts werden von keinem Juristen auch nur erwähnt beziehungsweise herangezogen, wenn über die Rechtmäßigkeit der russischen Positionierung zur faktisch expansiven NATO-Politik der „offenen Tür“ geurteilt wird. Immerhin handelt es sich hier um eine Politik des Revisionismus. Und jedes rechtliche Urteil ist schließlich eines der Abwägung zwischen Vorschriften aus unterschiedlichen Rechtsgebieten. Jeder Rechtsverstoß kann legitimiert sein durch anderweitige Rechtsgüter. Jedes Rechtsurteil hat ein Netto-Urteil zu sein. Entschieden wird über Recht und Unrecht letztlich dadurch, was zur Abwägung herangezogen wird, also durch die Horizont-Wahl.

Vorbereitungen zur Neupositionierung der Friedensethik der EKD

Das Programm an der FESt zur Unterfütterung der friedensethischen Debatte der Evangelischen Kirche hat inzwischen zu einem weiteren Band geführt. Dessen Titel: „Friedensethik angesichts des Krieges in der Ukraine. Kontroversen und Neubestimmungen“.

Die Herausgeberin, Ines-Jacqueline Werkner, teilt die Auffassung, die Friedensdenkschrift der EKD mit ihrem Leitbild des gerechten Friedens habe sich angesichts des Kriegs in der Ukraine nicht wirklich als hilfreich erwiesen. Als Grund diagnostiziert sie: Sie sei von den politischen Umbrüchen von 1989/90 und der Friedensdividende in Europa geprägt gewesen. Als zentral wird von der Herausgeberin folgender Mangel behauptet:

Im Vordergrund standen zu jener Zeit die Hoffnungen der Charta von Paris mit dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West und der Perspektive auf eine gesamteuropäische Friedensordnung. Konstellationen wie die derzeitige Situation mit einem Angriffs- und Eroberungskrieg, der sich eher mit Kriegen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vergleichen lässt, hatte sie jedenfalls nicht im Blick.

Diese Analogisierung blendet historisch, nach dem Zweiten Weltkrieg, doch etliche Angriffs- und Eroberungskriege aus. Zudem kann ich mir schwer nur vorstellen, dass diese Behauptung über das Bewusstsein der Autoren korrekt ist – wofür sollen Armeen denn sonst gut sein als dazu, Kriege zu führen? Aber die Diagnose einer tiefen Gespaltenheit innerhalb der EKD sowie einer Sprachlosigkeit, die wie eine Lähmung ausstrahlt, diese Wahrnehmung teile ich. Frau Werkner kümmert sich darum, das ist gut.

Der aktuelle Band geht auf eine Konsultation des Heidelberger Forums zur Friedensethik im Mai 2023 an der FEST zurück. Einer von drei Themensträngen galt dem Verständnis einer Friedensordnung als Rechtsordnung. In diesem Strang analysiert Stefan Oeter den Ansatz »Frieden durch Recht«. Oeter ist Völkerrechtler an der Universität Hamburg, er steuerte bereits zum Band zuvor den zentralen völkerrechtlichen Aufsatz bei. Den Ansatz der Denkschrift von 2007 kritisiert er wie folgt:

Eine kritische Reflexion der friedenspolitischen Herausforderungen muss viel stärker als 2007 angedacht die Grenzen des Ansatzes »Frieden durch Recht« in den Blick nehmen. Recht steuert nicht per se politisches Handeln, sondern bedarf eines politischen Rahmens, der die Akteure dazu zwingt, die rechtlichen Vorgaben als Restriktionen politischen Handelns ernst zu nehmen. Konkret bedeutet dies, dass ohne die Bereitschaft der Rechtsgemeinschaft, die zentralen Normen der Ächtung von Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung auch tatsächlich durchzusetzen, das Recht als Medium des Managements von Konflikten allzu leicht leerläuft.

Schlüsselbegriff ist offenkundig „Mittel des Zwangs“ – man erkennt, dass man sich im Kielwasser Clausewitzscher Terminologie befindet. Die Frage ist, welches Mittel Oeter sich vorstellt, wenn nicht „Gewalt“. Dessen Antwort im Wortlaut:

Die Lektion ist schmerzhaft: Kruder Gewaltpolitik ist nur durch glaubhafte Drohung mit – und im Ernstfall auch Anwendung von – Gegengewalt zu begegnen.

Das heißt der Autor sieht die Ausübung von Gewalt als einziges Zwangsmittel. Die alternative Option, auf der moderne Hoffnung beruht, das Zwangsmittel „Sanktionen“, übergeht er einfach. Angesichts dessen, dass der Westen angesichts des drohenden Einmarsches in die Ukraine anfangs seine Hoffnung auf angedrohte „beispiellose“ Sanktionen zur Abschreckung Russlands gesetzt hatte, wirkt das ein wenig wie aus der Zeit gefallen, als Mangel interessierter Zeitzeugenschaft. Das ist nicht wirklich legitim. Man kann schließlich nicht argumentieren, dieses erstmalige kriegshistorische Experiment habe erwiesen, dass Sanktionen als Zwangsmittel offenkundig nicht funktionieren, und deshalb könne man sie für die Zukunft „vergessen“. Die im Dezember 2021 angedrohte massive Sanktionierung Russlands durch den Westen war vielmehr kaum vorbereitet und deshalb zur Abschreckung ungeeignet – überspitzt formuliert: Die EU drohte mit einem Potemkinschen Dorf. Was sie bot, war keine glaubhafte Abschreckung, die EU bastelt schließlich immer noch, nach mehr als zwei Jahren Krieg, an neuen Sanktionspaketen; deren Löcher und widersprüchlichen Effekte sind zudem allgemein bekannt.

Das Verhältnis von militärischem Konfliktaustrag und dem mittels Sanktionen im Lichte der UN-Sicherheitsordnung

Real wird der Ukraine-Krieg tripolar asymmetrisch geführt: Militärisch, Russland gegen die Ukraine, geht es full scale beidseits. Daran beteiligt sich der Westen auf der Seite der Ukraine nur begrenzt, er greift nicht als Voll-Alliierter mit eigenen Streitkräften ein. Doch die westliche Beteiligung ist nicht nur peripher, sie ist nicht lediglich auf die Lieferung von Waffen und Aufklärungsdaten („intelligence“) beschränkt – die intensive Schulung der Ukrainischen Streitkräfte (UAF) durch UK und USA seit 2017, dem Ende der Obama-Zeit, hat zu einer IT-technischen Kompatibilität geführt, die aktuell höchst vorteilhaft und wirksam ist. Die Kooperation geht hin bis zur gemeinsamen strategischen Gefechtsfeld-Planung.

An der Front des Wirtschaftskrieges hat der Westen weiterhin die Initiative, da ist er es, der regelmäßig eskaliert, der systematisch Angriffe gegen Russland plant und ausführt. Auch da gelten die üblichen Gesetzmäßigkeiten eines Krieges,

  1. die der Eskalation;
  2. die der mangelnden Zielgenauigkeit und vor allem Selbstschädigung. Zur Selbstschädigung gehört auch wenn nicht vor allem, dass es im Westen zu einer erheblichen Einschränkung von rechtsstaatlichen Standards gekommen ist und weiterhin kommt – Wirtschaftskriegsrecht ist eben Kriegsrecht, es ist ein Kampfmittel. Sofern die Attraktivität der westlichen Staaten, nach außen wie nach innen, auf ihrer Verpflichtung auf das Recht, die rule of law, basiert, läuft der Westen mit dieser Strategie zunehmend Gefahr, dass seine Politik der Doppelstandards selbstschädigend wird. Dass diese Politik im Verhältnis zu Staaten des Globalen Südens bereits selbstschädigend ist, ist nur noch selbstkritisch wahrzunehmen.

Sanktionen gelten eben – im Westen – als Hoffnungsträger, Konflikte machtvoll austragen zu können, sie aber nicht mit Waffengewalt austragen zu müssen – passend zur nicht-heroischen Gesellschaftsverfassung der westlichen Nationen.

Vor diesem Hintergrund, bei dieser besonderen Bedeutung des nicht-gewalttätigen Zwangsmittels „Sanktionen“, erscheint ein Debattenzuschnitt unter Ausschluss der Option „Sanktionen“ als Zwangsmittel, wie er von der FESt für die EKD-Meinungsbildung geframed wird, als unangemessen.

Der Konflikt des Sanktionsrechts mit der rule of law

Hingewiesen wird hier auf einen Beitrag von Viktor Winkler, der eine auf Sanktionen spezialisierte Kanzlei gegründet hat und nebenbei als Professor lehrt. Eingearbeitet hat er sich in das Thema in seiner vorherigen Beschäftigung bei der Commerzbank als Head of Global Standards Sanctions. Der programmatische Titel seines Beitrags: „Die Verfassung der Sanktionspolitik“.

Sanktionen seien „grundrechtsintensiv“, „übertroffen in der Tiefe des Eingriffs nur noch vom finalen Rettungsschuss und grundrechtsintensiver sogar als der Strafvollzug. Grund: Das vollständige Fehlen der prozessualen Safeguards des Verfassungsstaates, vom rechtlichen Gehör bis hin zum Recht auf Rechtsbeistand.

Mit anderen Worten: Für die Sanktionspolitik gilt ein Rechtsverständnis, welches sich neben der rule of law des Rechtsstaates befindet. Diese „Verfassung“ der Sanktionspolitik, mit der der Westen in den Krieg Russlands gegen die Ukraine eingreift, hat einen Charakter, der den Werten des Westens diametral widerspricht. Zugleich herrscht dazu öffentlich völlige Blindheit, produziert indem die Rechts-Community im Westen davor die Augen verschließt, es nicht thematisiert.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>