Auch nach 2007/08: Das Finanzsystem wird weiter instabil gehalten

 

Die meisten Regulierungsreformen nach der globalen Finanzkrise von 2007-2009 wurden ohne systematische und umfassende Analyse der Ursachen und Mechanismen der Krise durchgeführt. Viele Maßnahmen waren stückchenweise, ebenso die dafür angeführten Argumente. In den Vereinigten Staaten lieferte der Bericht der vom Kongress eingesetzten Financial Crisis Inquiry Commission zwar eine offizielle Analyse, in der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten gab es keine offizielle Analyse.

Zu wesentlichen und Tabu-behafteten Fragen sind nur Top-Experten urteilsfähig. Die äußern sich selten. Wenn sie sich äußern, ist das aller Aufmerksamkeit wert.

Hier „retweete“ ich eine Äußerung solchen Typs. Autor ist Martin Hellwig. Hellwig ist Top-Ökonom, zuletzt Co-Chef des Max-Planck-Instituts für Gemeinschaftsgüter. Die Stabilität des internationalen Finanzsystems gehört zu den zu schützenden Gemeinschaftsgütern. Übertragen ist diese Aufgabe der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) mit ihren so genannten „Basel Accords“ – nach jeder Krise werden die verändert. Die Besonderheit Hellwigs ist, dass er nicht zur Szene wirklich gehört: Er ist kein Zentralbanker und er ist auch kein Bankenwirtschafts-Spezialist. Aufgrund seiner hohen ökonomischen Kompetenz kann er Fragen der Stabilität des Systems aber bestens beurteilen. Das sieht die Szene auch, deswegen zieht sie ihn hochrangig hinzu – was seine Urteilsfähigkeit umgekehrt stärkt.

Hellwig hatte gesehen, dass die Krise 2007/08 von der einschlägigen ökonomischen Spezialdisziplin irrig interpretiert wird und hatte deswegen mit seiner US-amerikanischen Kollegin Anat Admati zusammen ein Buch dazu geschrieben. Das war 2013. Der Titel der deutschen Fassung: „Des Bankers neue Kleider: Was bei Banken wirklich schief läuft und was sich ändern muss.“ (München: FinanzBuch Verlag 2013). Anschließend wurde er Vorsitzender des Advisory Scientific Committee of the European Systemic Risk Board und  Mitglied des Expert Panel on Banking Union – Resolution, welchen das Europäische Parlament eingesetzt hatte.

Vor einem Jahr hat er in Form einer lesenswerten Anekdote Résümée gezogen. Das Ergebnis ist wie in der Überschrift benannt. Hier seine Schilderung im Original:

When I was a child, I once heard the dialogue: ‘Are you well again?’ – ‘No, but I am better’, and wondered how ‘better’ could be worse than ‘well’. Over the past decade, I have often been asked whether I thought that regulatory reform after the global financial crisis had made the financial system safer. My answer was always ‘safer, yes, but not safe’. ‘Safer’ is too weak a standard to assess whether reforms of financial regulation after the crisis can be regarded as satisfactory.

On one occasion over lunch at a conference, a former central bank governor asked me why I was dissatisfied with the reforms that had been brought about since 2008. I answered by ask- ing: If all these reforms had been in place in 2000, would the global financial crisis have been avoided. Before the questioner even had time to think, another former central bank governor jumped in with a resounding ‘No!

Most regulatory reforms after the global financial crisis of 2007-2009 were enacted without any systematic and comprehensive analysis of the causes and the mechanisms of the crisis. Many measures were piecemeal and so were the arguments given for them.

In the United States, the Congress-appointed Financial Crisis Inquiry Commission’s report did provide an official analysis, but it came out in 2011, too late to influence the Dodd-Frank Act of 2010. In the European Union and its member states, there was no official analysis. The 2010 reform of the Basel Accord on banking supervision (‘Basel III’) was based on piecemeal assessments of what had gone wrong, without much of a departure from the mindset that had shaped the flawed regulation of the preceding decade.

So ist es. Die Fragen, die offen bleiben, sind

  1. Warum liefern die politischen Eliten ihre Bürger und ihre vorsorglich angehäuften Vermögenswerte so ans Messer?
  2. Warum nimmt der Souverän in der Demokratie nicht wahr, dass er ans Messer geliefert wird – immer erneut?

Es könnte einen der Verdacht beschleichen: Wenn es so ist, ist es möglicherweise gar nicht eine Demokratie, in der wir leben.