Der jüngste Habermas-Essay

 

Lesetipp vom 3. April 2025

Dieser Tage las ich den beeindruckenden Essay von Jürgen Habermas zur sicherheitspolitischen Situation in Europa nach der aktuellen Zeitenwende. Kurz danach fiel mir ein Bericht über das Gespräch mit Ex-Außenminister Joschka Fischer auf der lit.Cologne zur Vorstellung seines Buches „Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung“ in die Augen. In einem Bericht der Westdeutschen Zeitung zu diesem Gespräch wird Fischer zitiert mit diesem Satz zum Pazifismus:

Angesichts eines brutalen Aggressors kommen Sie mit Singen sympathischer Lieder und Schweigekreisen nicht mehr weiter.

Zynische Aussagen zur Haltung des Pazifismus sind en vogue – dennoch irritiert es mich immer erneut, eine solch herabsetzende Aussage zur Kenntnis zu nehmen. Komplementär dazu ist, so mein Eindruck, der strikte Bellizismus, der Konzept und langen Atem eines Mahatma Gandhi sich nicht vorzustellen vermag.

Ausgestiegen aus dieser Atmosphäre von Gedankenlosigkeit und Geschichtsvergessenheit ist, was Habermas in seinem Essay aus Anlass der aktuellen Debatte in Deutschland zur Wiederaktivierung der Wehrpflicht formuliert. Das Ergebnis der zuständigen Arbeitsgruppe ist bekanntlich der diametrale Gegensatz zwischen „Aussetzung der Wehrpflicht beenden“ (Unionsparteien) und „Der neue Wehrdienst soll auf Freiwilligkeit basieren.“ (SPD). Habermas zur Unionsposition:

In dieser Abschaffung der Wehrpflicht spiegelt sich ein weltgeschichtlicher Lernprozess, nämlich die auf den Schlachtfeldern und in den Kellern des Zweiten Weltkrieges gewachsene Einsicht, dass diese mörderische Form der Gewaltausübung menschenunwürdig ist – auch wenn dieses einstweilen letzte Mittel zur Lösung internationaler Konflikte, gewiss, politisch nur Schritt um Schritt abgeschafft werden kann. Mich erschreckt, von welchen Seiten die deutsche Regierung, die sich nun zu einer beispiellosen Aufrüstung des Landes anschickt, gedankenlos oder gar ausdrücklich mit dem Ziel der Wiederbelebung einer zu Recht überwunden geglaubten militärischen Mentalität unterstützt wird.

Carl Friedrich von Weizsäcker, mit dem Habermas zusammen das Starnberger Max-Planck-Institut geleitet hat, hat diese Einsicht eine Stufe systematischer formuliert: „Nichts weniger als die Überwindung der Institution des Krieges ist notwendig“.

Im Anschluss an die mich ermutigende Lektüre des Habermasschen Essay habe ich auch die sogenannte „Debatte“ nachgelesen, in der führende deutsche Intellektuelle auf den Habermasschen Essay reagiert haben. Meine Suche nach einer Bezugnahme auf die zentrale, äußerst schmerzhaft errungene Einsicht, dass der Krieg eine menschenunwürdige Form der Konfliktaustrags sei, blieb erfolglos. Man freut sich nur, dass nun auch Habermas für Aufrüstung sei. Das auszudrücken, recht zu haben, gelingt dann auch wieder in von Zynismus triefenden Formen, professionell meisterhaft in der NZZ.

Zynismus ist bekanntlich eine, auch selbstschädigende, Haltung der Herabsetzung anderer. Sie verweist auf eine larvierte Depression. Für Journalisten, ein Berufszweig mit gespaltener Identität, müsste sie als Berufskrankheit akzeptiert werden. Soweit sind wir aber noch nicht. Die aktuell tonangebende Generation von Gelehrten will erst erneut selbst die desaströse Erfahrung machen, auf Schlachtfeldern und in Kellern.

Hans-Jochen Luhmann, Mitglied der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).