Der Krieg in der Ukraine: Höhepunkt der Geschichte eines zerrütteten Verhältnisses

 

Mit der Invasion Russlands in die Ukraine sind der Westen und Russland nicht mehr nur Gegner sondern Feinde geworden. „Der Westen“ sind im wesentlichen die USA und die Europäer. Grundlage ihrer Beziehungen ist die Landkarte. Die „Europäer“ haben mit Russland eine Landgrenze – die USA sind durch den Atlantik getrennt. Diese territoriale Unverrückbarkeit erzwingt, dass die drei sich zueinander verhalten. Anders als ein Verhältnis ist die Bezogenheit der drei aufeinander kategorial nicht zu beschreiben.

Es geht um ein Verhältnis zwischen Menschengruppen. Nehmen wir „den Westen“ als Einheit, so handelt es sich um eine Paarbeziehung. Wir konstatieren. In dieser Beziehung greift ein Partner, beginnend am 24. Februar 2022, zu massiver Gewalt. Dabei war dieser Partner auch schon vorher als gewaltbereit aufgefallen.

Unsere Seite hat dieses Geschehen nun zu beurteilen. Kategorial gibt es zwei Optionen: moralisch oder als Beziehungsgeschehen. Anders gesagt: Wollen wir Russland als „schuldig“ verurteilen oder wollen wir Russlands Verhalten als „Ausrasten“ in einem von zunehmender Zerrüttung gekennzeichneten Verhältnis/Partnerschaft nehmen?

Wer zu letzterer Option neigt, dem kann zum Hören ein dreiteiliges Feature von Andreas von Westphalen empfohlen werden. Die Titel der vom Deutschlandfunk bauftragten Serie:

  1. Die Wurzeln des Misstrauens. Russland und die Deutsche Einheit 1990.
  2. Die Samen des Misstrauens. Russland und der Westen während Jelzin und Clinton.
  3. Russland und der Westen während Bush und Putin.

Von Westphalen hat sich wissenschaftlich beraten lassen von Christian Nünlist, der inzwischen für das Schweizer Militär arbeitet. Vorher war er Projektleiter und führender Autor eines Berichts zum Prozess der Zerrüttung, der im Rahmen einer Think-Tank Community aus etlichen Mitgliedstaaten der OSZE, des OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions, erarbeitet wurde. So gut möglich war das zu diesem Zeitpunkt, weil die Akten da gerade alle veröffentlicht worden waren. Finanziert wurde das umfangreiche Vorhaben von Deutschland und der Schweiz, den OSZE-Vorsitzländern in 2016 und in 2014. Der Bericht wurde hier vorgestellt.

Das Audio-Feature macht das alles noch einmal viel anschaulicher, weil die Originaltöne zu hören sind, zum Teil für diesen Zweck aus den Akten eingesprochen.

Die junge Generation, gerade in Deustchland, muss sich klarmachen, dass es sich hier um einen Zerrüttungsprozess in Dezennien handelt. Bei normalen Paaren läuft so etwas viel schneller ab, um den Faktor Zehn etwa. Hier aber, zwischen Staaten, kann man das nur wahrnehmen, wenn man sich der Geschichte aus Berichten öffnet, die eigene Wahrnehmung aus Augenzeugenschaft reicht bei weitem nicht hin. Putin hat, als Mitarbeiter unter Jelzin, das zerrüttete Ende des Verhältnisses von Jelzin und Clinton noch persönlich wahrgenommen.

Das kontrastiert extrem zu Lars Klingbeils Stationen seiner Augenzeugenschaft von Weltgeschichte. Der hat in seiner außenpolitischen Grundsatzrede zum Thema „Zeitenwende“ am 21. Juni 2022 in einer geradezu rührenden Weise bekannt:

Als ich 11 Jahre alt war, fiel die Mauer in Berlin und der Kalte Krieg war vorbei. … Als ich mit 23 Jahren für ein Praktikum in New York war, habe ich die Anschläge 9/11 in dieser großartigen Stadt hautnah miterleben müssen. … Und jetzt: der 24. Februar 2022. … Heute bin ich 44 Jahre alt. Als Parteivorsitzender der SPD trage ich Verantwortung.

Mit anderen Worten: Er hat von Weltgeschichte persönlich so gut wie nichts bislang mitbekommen! Das muss man als gut vierzigjährige politische Führungskraft in Rechung stellen.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.