Die beidseitige Sistierung des INF-Vertrages

 

Der INF-Vertrag wurde von den USA] am 1. Februar 2019 per 2. Februar sistiert und zur Kündigung gestellt. Russland hat am 2. Februar dasselbe erklärt. Die Berichterstattung zu diesem Vorgang ist durch das Werfen von Nebelkerzen gekennzeichnet. Deswegen hier Zweierlei:

  • die Essenz in Kürze und
  • etwas zur Analyse der geworfenen Nebelkerzen.

Das Wesentliche

Die Interpretation des INF-Vertrags ist tückisch. Es beginnt damit, dass sein Kurztitel nicht stimmt. „INF Treaty“ steht für „Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty“. Sein offizieller Titel schon klärt darüber auf, dass das „nuclear“ da nur hineingesetzt wurde, weil das damals, zu Zeiten des Vertragsschlusses, die relevante Waffenkategorie war. Offiziell ist der Titel des Vertrags „Treaty Between the United States of America and the Union of Soviet Socialist Republics on the Elimination of Their Intermediate-Range and Shorter-Range Missiles“. Zu ergänzen hat man aus dem Inhalt, dass:

  1. es nicht nur um „missiles“ (ballistisch und cruising), sondern auch um „launcher“, also Startgeräte geht;
  2. es allein um landgestützte Geräte geht, Luft- und insbesondere Seestützung ist unberührt;
  3. intermediate“ definiert ist als Reichweite, und zwar von 500 bis 5.500 km.

Die Begrenzung auf landgestützte Systeme ist von entscheidender Bedeutung, denn die USA sind in Europa beziehungsweise in der Nähe des in Europa gelegenen Teils Russlands als eine Seemacht präsent: im Atlantik, in der Ostsee, im Mittelmeer und im Persischen Golf. Um Ziele in Russland mit Mittelstreckenraketen abzudecken, sind die USA nicht auf die Landstützung angewiesen. Russland hingegen ist eine Landmacht, zudem mit Grenzen nicht allein gen Europa.

Der offizielle Titel verweist zudem darauf, dass der Vertrag, nach dem Zerfall der Sowjetunion, auf dieser Seite mehrere Rechtsnachfolger hat und bindet, nicht allein Russland. Mit der drohenden Kündigung werden auch die Ukraine, Weissrussland, Kasachstan und andere frei in dieser Hinsicht.

Der Vertrag umfasste natürlich nicht nur ein Verbot, sondern bot auch ein gewisses Maß Transparenz, via Verifikations-Mechanismen.

Die Sistierung mit dem Ziel der Kündigung erfolgte beidseits nicht als Reaktion auf behauptete Vertragsverletzungen der Gegenseite. Diese Behauptungen, die vermutlich beidseits korrekt sind, sind nur der Anlass, in der öffentlichen Kommunikation als Vorwand herangezogen. Beide Seiten wollen (mindestens) eine Revision – beide sehen den existierenden Vertrag als nicht mehr passend. Dass die USA da eine eigenständige Entscheidung getroffen haben, wird daran deutlich, dass die Obama-Administration denselben Sachverhalt, der nun zur Begründung der Kündigung herhalten muss, im Juli 2014 öffentlich gemacht hat – und nicht gekündigt hat. Russland wurde zu einer wahrhaftigen Stellungnahme gedrängt – was Russland verweigert hat –, in 2017 schließlich hat Russland mit der Staionierung begonnen – und dennoch sind die USA nicht zur Kündigung geschritten.

Die Frage, ob Russland beziehungsweise ob die USA den Vertrag verletzt haben, ist für die Entscheidungen, die nun getroffen wurden, also politisch, somit unerheblich. Dass in den Medien die Thematisierung eines solchen Vorgangs über das Schuld-Narrativ jedesmal so verfängt, ist bemerkenswert. Ich bin der Auffassung, dieser Schuld-getriebene Komplex in die Strategie der EU zur Desinformations-Abwehr aufgenommen gehört.

Einige Nebelkerzen im Fokus

A) Ich beginne mit dem thematisch einschlägigen Auszug aus der Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Münchner Sicherheitskonferenz dieses Jahres – eine äußerst beeindruckende Rede, nach meinem Urteil.

Für … die Europäer … war in diesem Jahr die wirklich schlechte Nachricht die Kündigung des INF-Vertrags. Nach nicht jahrzehnte-, aber jahrelangen Verletzungen der Vertragsbedingungen durch Russland ist diese Kündigung unabwendbar gewesen. Wir haben sie als Europäer alle mitgetragen. Trotzdem ist es – das sage ich unseren amerikanischen Kollegen – eine ganz interessante Konstellation: Ein Vertrag, der im Grunde für Europa gefunden wurde, ein Abrüstungsvertrag, der unsere Sicherheit betrifft, wird von den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland in der Rechtsnachfolge der Sowjetunion gekündigt; und wir sitzen da und werden natürlich mit unseren elementaren Interessen auch alles versuchen, um weitere Abrüstungsschritte möglich zu machen.

Daran ist im Hinblick auf die Desinformations-Kommunikation bemerkenswert:

  1. Die Bundeskanzlerin bedient das Schuld-Narrativ, dass der einseitigen Vertragsverletzung und dass daraus folge, dass eine Kündigung unabwendbar sei;
  2. Hinsichtlich der Haltung Europas zur Kündigung inklusive Transparenz-Verlusten spricht sie so unbestimmt, dass nur Insider ahnen können, was anschließend hinter verschlossenen Türen als Klartext zu den „amerikanischen Kollegen“ („Freunde“ sind es schon nicht mehr) gesprochen werden wird. Sie behauptet Zustimmung der Europäer (in der NATO) zur Kündigung des INF-Vertrags seitens der USA – und lässt dann doch erhebliche Vorbehalte angesicht gegenteiliger Sicherheits-Interessen Europas durchscheinen.

B) Damit sind wir bei der bemerkenswerten blind-unterwürfigen Deklaration der Außenminister in der NATO vom 4. Dezember 2018. Da haben die NATO-Staaten ihr von Frau Merkel zu Recht betontes eigenständiges Sicherheits-Interesse hintangestellt und haben eine Erklärung in zehn Punkten verabschiedet, welche Russland wegen seiner Vertragsverletzungen verurteilt, den USA hingegen einen völlig unsubstantiierten Persilschein ausgestellt:

The United States has remained in full compliance with its obligations under the INF Treaty since it entered into force. Allies have emphasised that the situation whereby the United States and other parties fully abide by the Treaty and Russia does not, is not sustainable.

Dase bewusst asymmetrische Darstellung kann man als Zustimmung zur Kündigungsabsicht der USA lesen – und wurde jenseits des Atlantiks auch so verstanden. Die offene Frage an die Bundesregierung ist: Weshalb dieser Akt der Nibelungentreue, unter Vernachlässigung der eigenen Interessen? Das wird noch Thema werden, wenn denn die Parteien im Bundestag dazu aufwachen.

C) Ich betone noch einmal: Die rechtliche Bewertung, wer und ob überhaupt die USA und/oder Russland den Vertrag verletzt haben, ist politisch nach meinem Verständnis des Vorgangs unerheblich – wer diese Diskussion aufgreift, entscheidet sich, auf die Propaganda-Ebene zu gehen. Das Narrativ „Mit einem Rechtsbrecher kann man keine Verträge halten“ mag verfangen, ist aber rechtsstaat-widrig. Eine Parteien-Äußerung wie die der NATO: ‚Wir erklären, wir sind im Recht’, hat mindestens einiges an Chuzpe, man kann aber auch sagen: ist eine Steilvorlage für die Kabaretts – hat aber auch Tradition, reiht sich in entsprechende Äußerungen ein nach dem Muster: ‚Wir haben lediglich defensive Absichten, vor unserer Rüstung musst Du Dich nicht fürchten.’

Dessen ungeachtet mag ein Zeitgenosse das Bedürfnis haben, auch diesen Punkt, den des Rechtsbruchs, geklärt zu sehen. Der auf russischer Seite ist ja ziemlich dürftig nur verhangen. Schwieriger erscheint es auf US-Seite. Aber wenn man hinschauen will, ist auch dort der Durchblick nicht so schwierig.

Deswegen hier dazu ein Lesetipp, von Theodore A. Postol, im Bulletin of the Atomic Scientists in den USA erschienen. Wer das rechtlich verstehen will, muss in die Technik moderner Raketen-Abschuss-Systeme einsteigen. Die Struktur ist: Technisch haben wir eine Entwicklung hinter uns, dass die Launcher All-Zweck-Einrichtungen geworden sind. Die dual-use-Problematik hat dort Einzug gehalten. Was da, mit welcher Reichweite zu welchem Zweck und mit welchem Sprengkopf gestartet werden kann, ist innerhalb weniger Stunden durch andere Software-Aufspielungen änderbar. Die Aussage der USA, von der NATO einstimmig getragen, besagt im Klartext: Wir haben die entsprehende vertragsverletzende Software bislang nicht aufgespielt. Man erkennt daran, dass es nicht darum gehen kann, ob diese Aussage richtig oder falsch ist – das ist schlicht unerheblich. Damit ist kein Vertrauen und keine Stabilität erreichbar.