Dokumente zur US-Entscheidung für die NATO-Ost-Erweiterung

 

Das Nationale Sicherheits-Archiv der USA erlaubt einmal mehr einen Blick hinter die Kulissen. Diesmal erneut zum Bestreben der USA, die NATO als Militärbündnis gen Osten zu erweitern. Freigegeben wurden Schlüsseldokumente, die von Svetlana Savranskaya und Tom Blanton herausgegeben wurden. Sie erlauben

  1. zu verstehen, dass es eine US-interne Entscheidung war, die eine Zeit lang zwischen den Ressorts umstritten war;
  2. rückzuübersetzen, was an öffentlichen Sprechweisen gewählt wurde, um die eigentlichen Intentionen zu verbergen. Das erlaubt eine Art Training in „Propaganda-Resilienz“ gegenüber der eigenen Regierung;
  3. das kaum zu Verstehende zu begreifen: Die handelnden Top-Personen haben den Kampf um Narrative anscheinend in einem solchen Maße verinnerlicht, dass sie ihn auch noch in ihren anschließend regelmäßig publizierten Erinnerungen, als Pensionäre also, fortsetzen, obwohl sie ja eigentlich freie Menschen geworden sind;
  4. nachzuvollziehen, was Clintons wirkliches außenpolitisches Motiv für die NATO-Osterweiterung gewesen sein mag, mit dem er die russische Seite wenigstens teilweise beeindruckte.

Von der Erstherausgeberin stammt übrigens auch die Dokumentensammlung

Svetlana Savranskaya, U.S.-Russia Relations: From the Fall of the Soviet Union to the Rise of Putin, 1991-2000.

Die grundsätzliche Problematik im Hintergrund ist bekannt: Führungen von Staaten, je demokratischer diese verfasst sind, sind gezwungen, Außenpolitik innenpolitisch, im Hinblick auf den Machterhalt, zu kalkulieren. Genuin außenpolitische Kalküle haben im innenpolitischen Notfall hinten an zu stehen. Zugleich gilt, dass die außenpolitischen Rivalen Partner sind. Das heißt sie beeinflussen gegenseitig mit ihren außenpolitischen Aktionen die innenpolitische Konstellation der gegnerischen Seite. Physikalisch gesprochen: Sie evolvieren gemeinsam in Wechselwirkung.

So handelte Bill Clinton, der für seine Wiederwahl im Jahre 1996 in Swing States die insbesondere ukrainisch-stämmige Minderheit benötigte. George Kennan mit seiner breiten historischen Erfahrung schaltete sich hellsichtig ein. Unter den nun publizierten Dokumenten befindet sich der Entwurf einer Antwort von Steve Talbott, dem stellvertretenden Außenminister unter Clinton, auf den Brief, den Kennan ihm am 31. Januar 1997 gesandt hatte. Darin bringt dieser seinen Widerspruch gegen eine Expansion der NATO zum Ausdruck. Sein Argument ist eine Erläuterung des allgemeinen Gesetzes der wechselseitigen Interferenz der Außenpolitiken von Hegemonial-Rivalen auf die jeweilige Innenpolitik des anderen.

Kennan calls the decision to expand NATO “the greatest mistake of Western policy in the entire post-Cold War era,” which, in his view, would undermine the building of Russian democracy and lead to the rise of nationalistic forces.

Exakt so ist es gekommen. Das heute herrschende Narrativ ist, dass der Abbau der Demokratie und der russische Nationalismus im russischen Selbstlauf gekommen seien. Das Motiv für diese Geschichtsklitterung ist durchschaubar: Man will sich wie Pilatus die Hände in Unschuld waschen können.

Rücksicht wurde US-seits schon genommen, nämlich auf die Wiederwahl-Aussichten des russischen Präsidenten Jelzin, der 1995 Duma-Wahlen und in 1996 seine Wiederwahl als Staatspräsident zu bestehen hatte. Also das wurde vollzogen, was seit 2016 in den USA des Teufels ist: „Foreign interference“ in den Wahlprozess eines anderen Staates – es gab damals keine Hemmnisse. So vorzugehen galt vielmehr noch als eine selbstverständliche Handlungsweise, gespeist aus politischer Klugheit.

Festgezurrt wurde das westliche Expansions-Anliegen deswegen erst beim Pariser Gipfel im April 1997 – da wurde das entscheidende Abkommen, die NATO-Russland-Grundakte, geschlossen. Ihr Entstehen steht im Fokus der Dokumentensammlung. Öffentlich wurde sie gerühmt als Beendigung der Rivalität, die der Ära des Kalten Krieges zugrunde gelegen habe. Faktisch war es anders, das kann man jetzt nachlesen.

Präsident Jelzin hat im nicht-öffentlichen Gespräch gegenüber Präsident Clinton Klartext formuliert. Das war beim Clinton-Jelzin-Gipfel in Helsinki am 21. März 1997. Da habe die russische Seite am klarsten zum Ausdruck gebracht, wie sie den Vorgang einschätzt. Jelzin beschreibt seine Zustimmung als “a forced step”. Das vollständige Zitat lautet:

Our position has not changed. It remains a mistake for NATO to move eastward. But I need to take steps to alleviate the negative consequences of this for Russia. I am prepared to enter into an agreement with NATO, not because I want to but because it is a forced step. There is no other solution for today.

Im Ausgleich, so Jelzins Bitte, möge man ein geheimes “gentlemen’s agreement“ abschließen, des Inhalts: Die NATO-Osterweiterung stoppt, wenn es um ehemalige Mitgliedsrepubliken der Sowjetunion gehe. Clinton lehnte ab.

Talbott erläutert in seiner Reaktion an Kennan Präsident Clinton’s Denkweise zur Funktion NATO und zu seinen Bemühungen, Russland zu versichern, dass die neuausgerichtete NATO keine Bedrohung für Russlands Sicherheitsinteressen sein werde. Dazu bezog sich Talbott auf Beispiele aus dem 19. Jahrhundert, wo Allianzen nicht einfach nur gerichtet gewesen seien auf die Verteidigung gegen einen Feind, sondern auch eine wichtige politische Funktion hatten, einschließlich “<to> manage relations between their member states and restrain and control the policies of alliance members themselves.” In diesem Sinne sei die erweiterte NATO dafür da, Stabilität und Sicherheit in Europe zu erhöhen und Unterstützung zu bieten für die demokratische Entwicklung der neuen Mitglieder. Der Anspruch war, wie die Entwicklung in EU-Staaten zeigt, nicht einlösbar.

Von hohem Interesse scheint mir zudem eine Aussage zu sein, welche Talbot in Reaktion auf ein an ihn gerichtetes Memorandum vom 10. Februar 1997 macht, offenbar gerichtet an seine Vorgesetzten. Autor des Memorandums ist Dennis Ross, ein Urgestein der US-Außenpolitik, in der Zeit des Kalten Krieges Top-Assistent von Außenminister Baker. Auch er erhebt Einspruch und weist auf die absehbar fatalen Konsequenzen für das Verhältnis zu Russland und Russlands innere Entwicklung hin. Ross im Wortlaut:

„< the Russians> feel they were snookered at the time of German unification. As you noted with me, Baker’s promises on not extending NATO military presence into what was East Germany were part of a perceived commitment not to expand the Alliance eastward.

Talbott fügt dem diese bemerkenswerte Aussage hinzu:

 “the 1991 promise to transform NATO from a military alliance into a political alliance was part of a Soviet explanation for accepting unified Germany in NATO

Diese Aussage bringt Talbott in Anführungsstrichen, sie ist als Zitat von kenntnisreicher Seite gekennzeichnet. So könnte es Sinn machen, dass die Zustimmung Russlands zum NATO-Beitritt ganz Deutschlands an die Erwartung einer Transformation des Charakters der NATO gebunden war. Das Nebeneinander von OSZE und NATO alter Couleur ist ja offenkundig sinnwidrig.

Hans-Jochen Luhmann, Mitglied der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).