Kissinger warnt mit Analogien zum Ersten Weltkrieg

 

Henry Kissinger ist beinahe 100 Jahre alt. Er versammelt in einzigartiger Weise historisches Wissen aus Augenzeugenschaft und Studium. Am 17. Dezember 2022 hat er sich in The Spectator geäußert, in unnachahmlicher Präzision und Kondensation. Er nimmt den sogenannten „Ersten Weltkrieg“ als Folie, um uns Heutige zum Krieg in der Ukraine zu lehren.

Der eben geäußerte Vorbehalt zum „Ersten Weltkrieg“ – Kissinger benutzt im warnenden Titel seines Aufsatzes diese Benennung nicht – bezieht sich nicht darauf, dass der Krieg 1914/18 etwa nicht der Erste Weltkrieg gewesen sei; das war er zweifellos. Der Vorbehalt bezieht sich darauf, ob man ihn trennen kann, ob man im historischen Narrativ nicht vielmehr sagen muss: Die drei Kriege 1870/71, 1914-18 (eigentlich, nimmt man den polnisch-sowjetischen sowie den türkisch-griechischen Krieg hinzu, bis 1922) und 1939-1945 (beziehungsweise bis 1949) sind eigentlich einer, wenn auch mit Unterbrechungen. Die Fortsetzungen wurden nämlich geboren aus dem Siegfriedens-Charakter der jeweiligen Kriegsbeendigung. Das war jeweils ein Oktroi, zelebriert aus innenpolitischen Zwängen der jeweiligen Siegermächte heraus, der dann absehbar elementare Revanchegelüste triggerte. Nach einer Regenerationspause, die auch zur Aufrüstung genutzt wurde, entluden sie sich erneut.

Ich entfalte hier drei von Kissingers impliziten Hinweisen ein wenig.

  1. Paar-Bildung und Paar-Konflikt

Kissinger enthält sich jeglicher Wortwahl dazu, welcher Konfliktpartner den Krieg 1914 angefangen habe. Stattdessen heißt es bei ihm

the first world war was a kind of cultural suicide that destroyed Europe’s eminence. Europe’s leaders sleepwalked … into a conflict which none of them would have entered had they foreseen the world at war’s end in 1918. In the previous decades, they had expressed their rivalries by creating two sets of alliances whose strategies had become linked by their respective schedules for mobilisation. As a result, in 1914, the murder of the Austrian Crown Prince in Sarajevo … was allowed to escalate into a general war.

Nach Kissinger ist ein Krieg somit nichts von einer Seite Aufgezwungenes, es braucht zum sogenannten „Ausbruch“ vielmehr immer zwei, das ist die Zustimmung beider Seiten. Es ist nicht viel anders als bei jedem hundsgewöhnlichen Paar-Konflikt. Eines aber ist anders: Staaten gibt es schließlich viele. Bei Staaten steht zunächst die Schaffung von Dualität an, das nennt man „Bildung von Allianzen“ – dann erst hat man eine Paar-Konstellation. Die zu schaffen, ist nichts Selbstverständliches, man erkennt es daran, wie viele Staaten in der Welt sich heute dem westlichen Druck der Paar-Bildung entziehen, wenn auch einzuräumen ist, dass der Westen von jener Rigorosität eines George Walker Bush Abstand hält, der 2001 zu der Formel griff „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Binäre Allianzbildung ist vielmehr eine erstaunliche Leistung, nämlich die Verengung der höchst unterschiedlichen Interessen einer eigentlich diversen Staatengemeinschaft in der Wahrnehmung. Zu gelingen hat, dass hinterher „die“ gegen „uns“ stehen. Demokraten gegen Autoritäre sind heute die gegriffenen Namen für diese Polarität.

Das Wundersame an dem aktuellen Vorgang unter Führung der Biden-Administration ist, dass heute die Türkei, Ungarn, Polen und sogar Japan, aber auch die beiden Staaten mit dem traditionellen angelsächsischen „winner-takes-all“-Wahlsystem, USA und Großbritannien, welches der Europarat als unverträglich mit den Prinzipien eines Wahlsystems nach den Grundsätzen derVenedig-Kommission bezeichnen würde, ohne nähere Prüfung ihres jeweiligen Rechtssystems als Rechtsstaaten und Demokratien durchgehen.

  1. Eskalationsdynamiken

Voraussetzung für allow to escalate sind auch langjährige militärische Vorbereitungen, die sich zunächst einmal gegenseitig hochschaukeln – einmal angestoßen aber ribbeln sie sich auch beidseitig wieder auf wie bei einer Laufmasche. Zur Hochschaukel-Vorgeschichte heute, vor dem Knall, gehören

  1. die militärischen Vorbereitungen der USA im Verbund mit Kanada und UK seit 2017, die Ukrainische Armee (UAF) in Stand zu setzen, die okkupierten Donbass-Gebiete und die Krim wieder zurückzuerobern;
  2. das am 24. März 2021 unterzeichnete Regierungsdekret Selenskis „über die De-Okkupation und Rückeroberung der Krim und der Donbass-Region“, also dafür entsprechende Vorbereitungen zu treffen;
  3. dass Russland daraufhin im April 2021 seinen schließlich enormen Truppenaufmarsch an den Grenzen der Ukraine begann. Eine Unterbrechung des Truppenaufbaus gab es einmal, im Juni 2021 – da stoppten die USA eine Waffenlieferung an die Ukraine im Wert von 100 Millionen US-$, nachdem Russlands Präsident angekündigt hatte, seine Truppen zurückzuziehen. Offenbar hatte es zum Truppenaufmarsch quid-pro-quo-Verhandlungen zwischen den USA und Russland gegeben.

All das war im Westen, in dessen Öffentlichkeiten, nicht zur Kenntnis genommen worden – und findet bis heute nur Desinteresse. Was die Regierungen in Europa sich von April bis Dezember 2021 gedacht haben, ist bis heute unthematisiert. In Deutschland wurde Frau Merkel das nicht gefragt, in sämtlichen Interviews, die mit ihr geführt wurden.

Und letztens: Europa ist heute, in diesem Bild, in der Rolle Österreichs – eine Großmacht, mit bislang besten Aussichten für seine weitere Entwicklung; jedoch militärisch unerfahren und zudem abhängig von seinem Allianzpartner USA. Wie Österreich damals befeuert Europa heute seinen dominanten Allianzpartner kriegerisch immer weiter in die Eskalation – ohne zu bedenken, was sein Schicksal mit dem „erfolgreichen“ Ausgang des Krieges sein wird. Sehr wahrscheinlich wird es ein ganz anderes sein als das des fernen Amerikas, welches durch einen Ozean getrennt ist von den hiesigen Nach-Wirren eines Ergebnisses, welches den Titel „Sieg der Ukraine, Niederlage Putins“ trägt.

  1. Traumata

Der Krieg in der Ukraine wütet nun schon ein dreiviertel Jahr. Auf jeder der beiden Seiten wird es bereits um die 100.000 Tote gegeben haben, die Verwundeten sind erfahrungsgemäß um den Faktor zwei höher. Hinzu kommen die kriegsüblichen Gewalttraumata. Die Literatur, die dreißig Jahre nach dem Krieg noch geschrieben werden wird, aus dem Erleben beider Seiten, kann ein in der Nachkriegsliteratur von 1914-18 und 1939-45 erfahrener Leser sich heute schon ausmalen. Insbesondere die “Filtrationslager“, und zwar die beider Seiten, sind für die dort durchgeschleusten Personen ein Albtraum.

Kissinger bringt die Gewalterfahrungs-Falle, die man durch Laufen-Lassen des Krieges selber produziert und in die man dann fast zwangsläufig tappt, qua Analogie so auf den Punkt:

In August 1916, after two years of war and millions in casualties, the principal combatants in the West (Britain, France and Germany) began to explore prospects for ending the carnage. In the East, rivals Austria and Russia had extended comparable feelers. Because no conceivable compromise could justify the sacrifices already incurred … the various leaders … sought American mediation … by Colonel Edward House, President Woodrow Wilson’s personal emissary”

Obwohl beide Kriegsparteien sich in ihren Einlassungen an Edward House eigentlich schon geeinigt hatten, kam es nicht zu einem Stillstand des Waffengangs. Der Grund: Wilson wollte erst seine Wiederwahl in den USA abwarten, bis November aber waren in Europa noch die britische Somme-Offensive und die deutsche Verdun-Offensive geschlagen worden – mit weiteren zwei Millionen Opfern. Mit zunehmenden Opferzahlen aber wird die Schwelle, dass es zu einem vereinbarten Waffenstillstand kommen kann, immer höher gelegt. Nichts-tun beziehungsweise den Krieg mit seiner akkumulierten Gewalt weiterlaufen lassen ist somit, selbst wenn militärisch eine weitere Eskalation vermieden wird, im Hinblick auf die Chancen für einen Stillstand der Waffenanwendung nicht etwa neutral.

Man darf schließlich nicht der Illusion unterliegen, Regierungen von kriegführenden Nationen, die nicht lediglich Söldner (nur) einsetzen sondern junge Männer aus dem eigenen Volk opfern, seien allmächtig, sie könnten einen Waffenstillstand nach eigenem Gutdünken verhandeln. Seit Erfindung des Nationalstaates besteht zwischen Demokratien und Autokratien da ein wesentlicher Unterschied. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine demokratische Regierung, die Zugeständnisse macht, die den bisherigen Blutzoll als unverhältnismäßig erscheinen lassen, den Rückhalt in der eigenen Bevölkerung verliert und gestürzt wird, ist sehr hoch. Nicht ohne Grund werden ernstliche Verhandlungen als Geheimverhandlungen via Emissären geführt – also in Form von Angeboten, die eine Regierung jederzeit dementieren kann.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.