Reformiertes Chemiewaffen-Übereinkommen

 

Am 27. Juni 2018 wurde auf einer kurzfristig, auf britische Initiative hin, einberufenen Sonderkonferenz der Vertragsstaaten des Chemiewaffenübereinkommens (CWÜ) beschlossen, die Aufgaben der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen in Den Haag zu erweitern. Es handelt sich um einen Vorgang von erheblicher Tragweite, über den bislang lediglich eine dürre Agenturmeldung berichtete. Augenöffnend ist die Lektüre der Analyse von Oliver Meier von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Die Dramatik des Vorgangs kommt in zwei Formalia bereits zum Ausdruck:

  • Der äußerst knappe terminliche Ablauf: Nach den Vergiftungen in Salisbury (UK) und der gemeinsamen Schuldzuweisung westlicher Staaten an Russland beantragte Großbritannien am 29. Mai 2018 eine außerordentliche Sitzung der CWÜ-Vertragsstaaten. Kurz darauf stand die erforderliche Unterstützung von mehr als 64 Staaten für die Durchführung. Der erste Beschlussentwurf Großbritanniens ging den Vertragsstaaten am 13. Juni 2018 zu. Am 22. Juni ging der substantiell überarbeitete Entwurf an die Vertragsstaaten. Vier Tage später begann die Konferenz, am 27. Juni 2018 wurde das britische Papier angenommen.
  • Der Entscheid wurde als Kampfabstimmung mittels eines Mehrheitsbeschlusses getroffen – gegen die Stimme Russlands. Das ist laut Statuten des Chemiewaffenübereinkommens möglich. Erforderlich war eine Dreiviertel-Mehrheit; wobei Enthaltungen nicht als Stimmabgabe gerechnet werden. Auf dieser Basis war das Ergebnis 82:24 (bei 26 Enthaltungen – das heißt von 193 Mitgliedstaaten des Chemiewaffenübereinkommens hatten an der Abstimmung 132 teilgenommen (von 152 anwesenden). Zu den ablehnenden Staaten gehören neben Russland, Syrien und Iran auch China, Indien, die Philippinen und viele andere Staaten Südostasiens; sowie Südafrika und etliche schwarzafrikanische Staaten. Eine globale Spaltung also ist vom Westen herbeigeführt worden.

Inhaltlich wurde eine Ausweitung des Mandats der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW) beschlossen. Bislang war sie bereits mit dem Mandat für Fact Finding Missions ausgestattet – die haben sich mit behaupteten Einsätzen von Chemikalien als Waffen in Syrien zu befassen. Die Fact Finding Missions arbeiten nach wie vor, sollen aber nur klären, ob Chemiewaffen zur Anwendung kamen. Hinzugekommen ist das Mandat, Verantwortliche für Chemiewaffeneinsätze in Syrien, die von Fact Finding Missions festgestellt worden sind, zu identifizieren. Im Wortlaut:

„Decides that the Secretariat shall put in place arrangements to identify the perpetrators of the use of chemical weapons in the Syrian Arab Republic … in those instances in which the OPCW Fact-Finding Mission in Syria determines or has determined that use or likely use occurred, and cases for which the OPCW-UN Joint Investigative Mechanism has not issued a report ….“

Der Hintergrund des Vorgangs: Bislang war das Mandat für die Täter-Bestimmung dem erwähnten Joint Investigative Mechanism (JIM) der UN erteilt gewesen. Dieser hatte mehrere Berichte vorgelegt, mit dem Ergebnis, dass er in vier Fällen dem syrischen Staat die Täterschaft zurechnete und in zwei Fällen dem Islamischen Staat (Senfgas-Verwendung).

„Russland, Syrien und Iran aber kritisierten die JIM-Berichte fortwährend als parteiisch. In einer zunehmend aufgeheizten Atmosphäre legte Russland im November 2017 sein Veto im UN Sicherheitsrat gegen eine Verlängerung des JIM-Mandats ein. Moskaus Vorschläge, einen Untersuchungsmechanismus einzurichten, der zur Ausweitung des Mandats über Syrien hinaus geführt hätte, trug der Westen nicht mit. Seitdem gibt es keinen unabhängigen, internationalen Untersuchungsmechanismus mehr, der die Aufgabe des JIM übernommen hätte, »so umfassend wie möglich die Personen, Einrichtungen, Gruppen oder Regierungen ausfindig [zu] machen […], die in [Syrien] Chemikalien […] als Waffen eingesetzt oder diesen Einsatz organisiert oder gefördert haben oder anderweitig daran beteiligt waren«.“ (Oliver Meier)

Das heißt der Westen hat mit der Kampfabstimmung die Kooperation in Sachen Kampf gegen Massenvernichtungswaffen verlassen. Er hat zudem das Veto Russlands (und potenziell Chinas) im UN-Sicherheitsrat gleichsam „ausgehebelt“, indem er die (äquivalente) Entscheidung in ein anderes Gremium verlagerte. Die ausstehenden, weil blockierten Feststellungen zur Täterschaft seitens des Joint Investigative Mechanism (der UN) hat nun die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen zu erarbeiten. Funktion der Feststellung der Verantwortlichen ist die Legitimierung einer Bestrafung. Dass der Westen darunter den Einsatz von Gewalt am (bisherigen) Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrates vorbei versteht, hat er mehrfach demonstriert.

Ob sich die taktisch erfolgreiche spalterische Vorgehensweise des Westens im Chemiewaffenübereinkommen als Element einer tragfähigen ‚Strategie’ erweisen wird, ist nach meinem Urteil mit Skepsis zu sehen. Für 21. bis 30. November 2018 ist die Vierte Überprüfungskonferenz der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen für das neugeschaffene Mandat, auf Basis von Vorschlägen des neuen Generaldirektors, zu entscheiden; zudem dürfte über eine generelle Mandatserweiterung, über Syrien hinaus, beraten werden. Da wird sich erweisen, ob das Chemiewaffenübereinkommen erheblich an Bedeutung gewinnen oder in den Abgrund gestürzt werden wird.