Strategische Orientierung im Ukraine-Krieg: Hinweise aus Anlass Offener Briefe Ende April 2022

 

Russland führt seit dem 24. Februar 2022 Krieg gegen die Ukraine. Der Westen ist Kriegspartei – wohl nicht im engeren kriegsrechtlichen Sinne, sicherlich jedoch faktisch. Vor diesem Hintergrund sind die Erklärungen und Artikel von in Deutschland führenden Intellektuellen lesenswert, die Ende April 2022 veröffentlicht worden sind. (Hans-Jochen Luhmanns Lesetipp, Mai 2022)

  1. Russland führt seit dem 24. Februar 2022 „Krieg“ gegen die Ukraine. Die Emotion, die diese Nachricht auslöst, ist treffend zusammengefasst durch das Zitat von Matthias Claudius’ „’s ist Krieg! ’s ist Krieg!“. Das Wort „Krieg“ aber ist doppeldeutig. Der Bedeutungsumfang von angelsächsisch „war“ ist viel weiter als von „Krieg“ bei uns, das Textkonvolut, welches bei uns „Kriegsvölkerrecht“ überschrieben ist, wird angelsächsisch ohne Verwendung von „war“ betitelt. Da im Krieg Desinformation zu den Waffen zählt, muss man zum Selbstschutz nicht nur an Bunker und Vorräte denken sondern auch an Schutz vor der Verführung durch gezielten engen Gebrauch der Vokabel Krieg.
  2. Eines ist sonnenklar: Der Westen ist „Kriegspartei“ – wohl nicht im kriegsrechtlichen Sinne i.e. S., sicherlich aber faktisch, bei einem angemessenen Verständnis von „Krieg“. Dass er Kriegspartei nicht im kriegsvölkerrechtlichen Sinne ist, ist im übrigen faktisch unerheblich, es schützt ihn nämlich nicht. Er steht in Gefahr, militärisch involviert zu werden, auf seinem Territorium beziehungsweise seinen in internationalen Gewässern kreuzenden Marinen, die hoheitlich Territorium gleichgestellt sind. Das wird nur solange nicht der Fall sein, wie Russland noch einen Vorteil darin sieht. In Worten von Jürgen Habermas:
    Nun entscheidet Putin darüber, wann der Westen die völkerrechtlich definierte Schwelle überschreitet, jenseits derer er die militärische Unterstützung der Ukraine auch formal als Kriegseintritt des Westens betrachtet.
  3. Der Westen ist „Kriegspartei“ in einem weiteren Sinne, nämlich in drei Dimensionen. Er
  4. führt einen Wirtschaftskrieg gegen Russland;
  5. liefert der Ukraine aktuell verstärkt Waffen, zunächst Präzisionswaffen zur Defensive (Nah-Abwehr); seit kurzem auch solche zur Offensive (Fernwirkung);
  6. liefert der Ukraine in erheblichem Umfang Aufklärungsdaten für den Einsatz der vom Westen seit fünf Jahren, seit der Trump-Präsidentschaft, gelieferten lenkbaren mann-gestützten Klein-Präzisionswaffen.

Vor diesem Hintergrund sind die Erklärungen und Artikel von in Deutschland führenden Intellektuellen lesenswert, die Ende April veröffentlicht worden sind. Es begann (21. 4. 2022) mit einem Offenen Brief an den Bundeskanzler pro Deeskalation. Es folgte ein in Artikeln ausgetragener Disput zwischen Ralf Fücks (22. 4. 2022) und Jürgen Habermas (29. 4. 2022) in der Süddeutschen Zeitung jeweils. Und zum Abschluss eine Doublette, welche an das Muster von 2014 erinnert: Ein Offener Brief an den Bundeskanzler vom 29. 4. 2022, der von Alice Schwarzer initiiert war,  ebenfalls pro Deeskalation – „gekontert“ umgehend am 4. 5. 2022 von in etwa derselben Gruppe von Autoren, die 2014 mittels ihrer Diffamierung der sogenannten „Putin-Versteher“ bekannt geworden war – Initiator Ralf Fücks.

Bereits Ende Februar hatte es eine große Zahl Verlautbarungen ähnlicher Autorschaft gegeben, damals, kriegslagenbedingt, unter gänzlich anderen strategischen Vorstellungen. Die militärisch gänzlich andere Situation in der Ukraine nach dem überraschenden Erfolg der Ukraine / des Westens in der Schlacht um Kiew hat hier bei uns zu einer gänzlich anderen Debattenlage geführt. Das ist ein aus Kriegen bekanntes Phänomen: Eines der interessantesten Bücher, welches ich zum Zweiten Weltkrieg gelesen habe, ist das von Andreas Hillgruber zur Evolution deutscher und alliierter Kriegsziele („Der Zweite Weltkrieg 1939 – 1945: Kriegsziele und Strategie der großen Mächte“ Stuttgart 1996). Ergebnis ist: Sie sind völlig volatil, und das sogar gegenläufig, also nicht Ausfluss klaren strategischen Denkens, sondern eine sich jeweils wandelnde Projektion der aktuellen militärischen Lage – und das beidseits.

Aus dieser mit fünf Dokumenten bezeichneten Intellektuellen-Debatte wird hier Folgendes als Anregung zur Eigen-Lektüre hervorgehoben.

  1. Haupttopos ist, mit Ausnahme des Habermas-Textes, ein Plädoyer für oder gegen Eskalation – die Fraktion für Eskalation nennt das aber nicht so, sondern wie folgt im Offenen Brief, den Ralf Fücks initiiert hat;
    Wer einen Verhandlungsfrieden will, der nicht auf die Unterwerfung der Ukraine unter die russischen Forderungen hinausläuft, muss ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und die Kriegsfähigkeit Russlands maximal schwächen. Das erfordert die kontinuierliche Lieferung von Waffen und Munition, um die militärischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Ukraine zu wenden.
    Dabei wird allein über militärische Mittel gesprochen, nicht über Mittel im Wirtschaftskrieg und kaum über Relationen militärischer Ziele und Mittel – die Offenen Briefe leisten immerhin teilweise die Aufhebung der Ausblendung der strategischen Ebene, welche die journalistische Berichterstattung prägt. Deren Muster ist dasselbe, welches Macron zur Charakterisierung der NATO-Debatten korrekt als „hirntod“ bezeichnet hat.
  2. Autoren mit ausgewiesenem militärischen Sachverstand beteiligen sich nicht. Dessen ungeachtet werden Eskalationsoptionen Russlands allein im Bereich von WMD (Weapons of mass destruction: Atom, chemisch) thematisiert. Die Möglichkeit der Eskalation in die Verwendung nuklearer Sprengköpfe wird beunruhigend abstrakt thematisiert: Auf der Seite „gegen Eskalation“ wird recht unvermittelt als Furchtfolie der „Dritte Weltkrieg“ herangezogen; auf der Seite „pro Eskalation“ gilt die subjektivistische These ‚wer sich bange machen lässt, hat schon verloren’. Rolf Fücks’ schon geniale Stilisierung des ‚Wer fürchtet sich vor’m Schwarzen Mann’ lautet:
    Die russische Machtelite ist keine Bande von Selbstmordattentätern.
    Sie ist von Marketing-erfahrenen Redakteuren der Süddeutschen Zeitung in den Untertitel des Beitrags gehoben worden, dessen Titel lautet „Berlin ist geprägt von Furcht“.  Was ein nuklearer Schlagabtausch heute wirklich bedeutet, insbesondere für Deutschland, Belgien und die Niederlande mit ihren territorial-gestützten Nuklearwaffen, das ist nicht Thema. Klar: Würde ja Furcht erzeugen und damit dem Gegner in die Hände spielen.
  3. Der Habermassche Artikel ist im Ansatz anders und deshalb vielversprechend. Er als einziger ist nicht thetisch sondern dialogisch angelegt. Habermas vermag in Dilemmata zu denken, er gibt den abweichenden Überzeugungen Raum, auf dass deren Vertreter sich aufgenommen sehen können. Das Problem, welches ich mit dem Habermasschen Text habe, ist, dass er deutsch beziehungsweise westlich enggeführt ist – die über diesen Raum hinausgehende strategische Debattenlage kennt Habermas vermutlich nicht, jedenfalls wird sein Text der globalpolitischen Bedeutung des aktuellen Vorgangs nicht gerecht. Auch sehe ich ein Schwarzes Loch bei dem, was er als Russlands oder Putins Ziele und Motive unterstellt. Wenn er oder andere Philosophen ihre Technik des „audiatur et altera pars“ systematisch in diese beiden Räume hinein zur Geltung bringen würden, könnte das für die hiesige Debattenkultur einen gewissen Fortschritt bringen.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.