Ernährungsarmut weltweit dramatisch hoch
Weltweit fehlt 3,1 Milliarden Menschen das Geld für eine gesunde Ernährung, zusammengerechnet insgesamt 2,59 Billionen US-Dollar. Bei einer globalen Wirtschaftsleistung von 139 Billionen US-Dollar entspricht diese Lücke lediglich 1,86 Prozent der globalen Einkommen. Misereor fordert vor diesem Hintergrund, den globalen Reichtum einzusetzen, um Armut zu reduzieren und durch Hunger und Mangelernährung verursachtes Leid zu beenden: „Die deutsche Bundesregierung sollte sich bei den Vereinten Nationen für den Abschluss eines globalen Steuerabkommens und ein geordnetes Entschuldungsverfahren für hoch verschuldete Länder einsetzen.“

(Aachen, Berlin, Göttingen, 1. Oktober 2024) Weltweit fehlen Menschen 2,59 Billionen US-Dollar, um sich gesund ernähren können. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie von Misereor und Wissenschaftlern der Georg-August-Universität Göttingen zur „Armutslücke Welternährung“.
„Trotz einer wachsenden Weltwirtschaft ist die Ernährungsarmut dramatisch hoch“, ordnet Lutz Depenbusch, Entwicklungsökonom und Ernährungsexperte bei Misereor, die Ergebnisse der Studie ein. 3,1 Milliarden Menschen fehle das Geld für eine gesunde Ernährung, zusammengerechnet insgesamt 2,59 Billionen US-Dollar. „Bei einer globalen Wirtschaftsleistung von 139 Billionen US-Dollar entspricht diese Lücke lediglich 1,86 Prozent der globalen Einkommen, trennt aber zwei von fünf Menschen von einer gesunden Ernährung“, erklärt Jonas Stehl, Entwicklungsökonom an der Universität Göttingen. Wie groß die Ungleichheit ist, zeigt sich auch im Jahresvergleich: Während die durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen bereits 2021 das Vor-Corona-Niveau überschritten hatten, bleibt die globale Armutslücke auch 2022 auf Niveau des Krisenjahres 2020. „Nachdem Menschen in Armut besonders stark von den Krisen der vergangenen Jahre betroffen waren, bleibt ihnen nun ein gerechter Anteil am wieder wachsenden Wohlstand verwehrt“, so Lutz Depenbusch. Besonders kritisch sei die Situation in Subsahara-Afrika. Hier wachse die Armutslücke durchgehend seit 2019. Depenbusch warnt: “Ohne eine rasche Trendumkehr wird es immer schwieriger, den Rückstand im Kampf gegen Mangelernährung in der Region aufzuholen.“
Zivilgesellschaft stärken und Armut reduzieren
Misereor fordert vor diesem Hintergrund, den globalen Reichtum einzusetzen, um Armut zu reduzieren und durch Hunger und Mangelernährung verursachtes Leid zu beenden. „Die deutsche Bundesregierung sollte sich bei den Vereinten Nationen für den Abschluss eines globalen Steuerabkommens und ein geordnetes Entschuldungsverfahren für hoch verschuldete Länder einsetzen“, fordert der Misereor-Ernährungsexperte. „Lokale zivilgesellschaftliche Akteure, die sich bei ihren Regierungen für Menschen in Armut und Ernährungssicherung einsetzen, brauchen verlässliche Unterstützung.“ Angesicht der anhaltenden Krisenlage seien Kürzungen bei der internationalen Zusammenarbeit daher nicht vertretbar. „Das Einkommen, das Menschen weltweit fehlt, entspricht weniger als zwei Prozent der Wirtschaftsleistung. Es ist genug für alle da. Jetzt muss es auch dort ankommen, wo es am dringendsten gebraucht wird,“ so Depenbusch.
Konkrete Vorschläge zur Beendigung der Ernährungsarmut
Regierungen und die internationale Gemeinschaft haben die Verantwortung, das Unrecht der Ernährungsarmut zu beenden, formuliert die Studie zur „Armutslücke Welternährung“. Die deutsche Bundesregierung sollte folgende Maßnahmen international unterstützen:
- Soziale Sicherungssysteme und andere Maßnahmen zur Armutsbekämpfung müssen ausgebaut und ihre Finanzierung gesichert werden
Die öffentliche Finanzierung der Sozialsysteme durch progressive Steuersysteme sollte gestärkt werden. Steuerflucht und der schädliche Steuerwettbewerb zwischen Ländern dürfen dieses Ziel nicht unterlaufen. Die Bundesregierung sollte daher die Verhandlungen der Vereinten Nationen über eine Rahmenkonvention zur internationalen Zusammenarbeit in Steuerfragen aktiv unterstützen. Schuldendienstzahlungen dürfen nicht die Finanzierung von Armutsbekämpfung und Klimaschutz gefährden. Ein internationales Staateninsolvenzverfahren zur Lösung der globalen Schuldenkrise ist notwendig. Hocheinkommensländer müssen ihrer Verpflichtung nachkommen, mindestens 0,7 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) können nur in einer gemeinsamen Anstrengung erreicht werden. - Ernährungssysteme müssen transformiert werden, um Krisen zu verhindern
Der internationale Lebensmittelhandel sollte stärker reguliert und die Marktmacht großer Unternehmen reduziert werden. Dazu gehören kartellrechtliche Maßnahmen und eine stärkere Regulierung der Lebensmittelspekulation. Öffentliche Lager für Lebensmittel sollten ausgebaut und international koordiniert werden, um Preisextreme zu vermeiden. Ernährung sollte nicht von den Importen weniger Länder und Firmen abhängen. Basierend auf agrarökologischen Prinzipien sollte die lokale Nahrungsproduktion gesteigert und die Abhängigkeit von importierten Betriebsmitteln verringert werden.
Die Studie erinnert daran, dass bereits 2016 der Ausschuss für Welternährungssicherheit (CFS) Empfehlungen zur Anbindung von Kleinproduzent*innen an Märkte verabschiedet hat. 116 Länder haben die Empfehlungen angenommen, darunter auch Deutschland. Es sei an der Zeit, sie konsequent umzusetzen. Regierungen sollten in Zusammenarbeit mit allen relevanten Akteur*innen:
- Gesetze zur Förderung von Märkten für Kleinproduzent*innen und ärmere Konsument*innen ausreichend budgetieren und die zuständigen Regierungsebenen stärken, damit sie umgesetzt werden.
- Verantwortungsvolle öffentliche und private Investitionen fördern, die die lokale Bevölkerung beteiligen und stärken. Dazu gehören Investitionen in die Marktinfrastruktur, die Lagerung von Lebensmitteln und die lokale Verarbeitung. Investitionen sollten lokale Wertschöpfungsketten stärken, Preise stabilisieren und Märkte miteinander vernetzen, statt lange Lieferketten einiger weniger Firmen zu begünstigen.
- Direkte Verbindungen zwischen Kleinproduzent*innen und Bewohner*innen ärmerer Stadtgebiete stärken. Bestehende Strukturen wie lokale Lebensmittelmärkte und Solidaritätsküchen sollten unterstützt werden. Digitale Plattformen haben ein hohes Potenzial, solange sie die Verhandlungsmacht von Kleinproduzent*innen und Verbraucher*innen stützen.
- Kleinproduzent*innen vor unlauteren Handelspraktiken schützen.
- Frauen in der Landwirtschaft gezielt stärken, etwa durch Bildungsmaßnahmen, Förderung der öffentlichen Meinungsäußerung und Beseitigung diskriminierender Praktiken.
- Kleinproduzent*innen durch Schulungen stärken, und lokale Berater*innen beim Aufbau von Produzentenorganisationen und der gemeinsamen Vermarktung ihrer Produkte unterstützen.
Die Zahlen belegen, dass Südasien und Subsahara-Afrika besonders betroffen sind
„Im Vergleich der Weltregionen weist Südasien auch im aktuellen Berechnungszeitraum 2022 mit 30 Prozent den größten Anteil an der globalen Armutslücke auf“, führt Jonas Stehl von der Universität Göttingen aus. Im Vergleich: Der Anteil von Europa und Zentralasien zusammengenommen liegt unter vier Prozent. Pro Kopf ist die Ernährungsarmut in Mosambik am größten. „Dort können sich 94 Prozent der Menschen keine gesunde Ernährung leisten“, so Stehl weiter. Zudem ist die Armutslücke in Mosambik größer als die gesamte Wirtschaftsleistung des Landes.
Neben Niedrigeinkommensländern weisen auch Länder mit mittleren Einkommen und hoher Ungleichheit große Armutslücken auf. In Brasilien, Südafrika und Kenia zum Beispiel kann sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung keine gesunde Ernährung leisten. „Die hohen Werte zeigen, dass Ernährungsarmut oft mit sich verstärkenden Krisen einhergeht“, erklärt Misereor-Ernährungsexperte Depenbusch. In Kenia etwa fehlt 72 Prozent der Menschen das Geld für eine gesunde Ernährung. In kurzer Folge sei das Land von der COVID-Epidemie, einer Schuldenkrise, einer durch die Klimakatastrophe verstärkten Dürre und Überschwemmungen getroffen worden. Die Zivilgesellschaft im Land kritisiere die unzureichende Vorbereitung der Regierung auf die Klimakatastrophe, sagt Depenbusch, vor allem aber den Schuldenabbau auf den Schultern einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen. „Die wachsenden Proteste gegen Steuererhöhungen und steigende Lebenshaltungskosten in Kenia und anderen Ländern wie Nigeria und Uganda zeigen, dass für viele Menschen die Belastungsgrenze erreicht ist,“ so Depenbusch.
Lutz Depenbusch ist Entwicklungsökonom und Ernährungsexperte bei Misereor.

1958 als „Werk gegen Hunger und Krankheit in der Welt“ gegründet, nimmt Misereor das Erntedankfest zum Anlass einer Publikationsreihe, in der Lösungswege zur Hungerbekämpfung skizziert und Vorschläge gemacht werden, wie das UN-Nachhaltigkeitsziel „Null Hunger“ bis 2030 noch erreicht werden kann. Denn, so Misereor: „Erntedank ist politisch.“
Die Studie „Armutslücke Welternährung“ steht über diesen Link zum Download als PDF-Datei bereit.