Neue Welthungerzahlen: „Globales Wirtschaftssystem verursacht Hunger und Unterernährung“

 

Rund 733 Millionen Menschen leiden weltweit unter chronischem Hunger. Der gesteigerte Vertrieb und Einsatz von kommerziellem Hochertragssaatgut, synthetischen Düngemitteln und Agrargiften sollte die afrikanische Landwirtschaft „modernisieren“; doch anstelle den Hunger zu reduzieren, profitierten nur die wohlhabendsten Bäuer*innen. In den 13 afrikanischen Schwerpunktländern mit einer entsprechenden Hungerbekämpfung erhöhte sich die Zahl der Menschen, die unter extremem Hunger leiden, um 30 Prozent.

(Köln/Aachen/Berlin, 24. Juli 2024) Die Welternährungsorganisation, Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), hat heute die aktuellen Welthungerzahlen veröffentlicht. Demnach leiden rund 733 Millionen Menschen weltweit unter chronischem Hunger. 2,33 Milliarden Menschen – fast 30 Prozent der Weltbevölkerung – befinden sich in mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit. Mehr als 2,8 Milliarden Personen können sich keine gesunde Ernährung leisten.

Philipp Mimkes, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland, fordert eine Kehrtwende in der Welternährungspolitik: „Schon lange produzieren wir mehr als genug Nahrung, um alle satt zu machen. Die größten Probleme liegen in der grassierenden Armut, der Verschuldung vieler Staaten sowie der massiven Ungleichheit beim Zugang zu Ackerflächen, Wasser und Saatgut – also den Grundvoraussetzungen für den Anbau von Nahrungsmitteln. Um den Hunger zu bekämpfen, sind Landreformen und der Erlass von Schulden am wichtigsten. Kurzfristig sind auch Bargeldtransfers sehr effektiv“.

Global werden immer mehr Ressourcen von einer kleinen Zahl von Agrarkonzernen und Investoren beansprucht. Die Erträge der riesigen Monokulturen landen jedoch mehrheitlich in Futtertrögen und Treibstofftanks. FIAN kritisiert, dass die FAO bei der Hungerbekämpfung dennoch auf „innovative Anreize“ für die Privatwirtschaft setzt. Die Ungleichheiten beim Zugang zu Ressourcen könnten sich dadurch weiter erhöhen. „Unser Ernährungssystem drückt die am stärksten von Hunger betroffenen Menschen immer weiter an den Rand. Dabei sind es genau die am meisten diskriminierten Gruppen – Frauen, kleinbäuerliche Gemeinden, Indigene, Fischerfamilien –, die nach wie vor die Mehrheit der Weltbevölkerung ernähren, und nicht kapitalstarke Agrarkonzerne“, so Mimkes weiter.

2024 markiert das 20. Jubiläum der Verabschiedung der FAO-Leitlinien zur Umsetzung des Menschenrechts auf Nahrung. Die Leitlinien waren das erste UN-Dokument, das unter aktiver Beteiligung marginalisierter Gruppen verhandelt wurde. Es schreibt einen menschenrechtsbasierten Ansatz bei der Ernährungssicherung fest. Dazu Jan Dreier, FIAN-Referent für das Recht auf Nahrung: „Mit den Leitlinien zum Recht auf Nahrung hat die FAO vor 20 Jahren einen Meilenstein für soziale Teilhabe in der UN gesetzt. Die Leitlinien waren das Grundgerüst für viele weitere völkerrechtliche Instrumente zum Recht auf Nahrung, die seitdem durch das Engagement sozialer Bewegungen entstanden sind. Mit diesem menschenrechtlichen Rahmenwerk könnten wir so viel erreichen! Umso bedauerlicher, dass der Welternährungsbericht auch in diesem geschichtsträchtigen Jahr weiter auf die Steigerung der globalen Anbaumengen durch private Investitionen fokussiert, statt soziale Teilhabe durch öffentliche Förderung zu stärken, um damit das tieferliegende Problem der Ungleichheit anzugehen.“

Brasilien ist ein Beispiel dafür, wie die Anwendung eines Menschenrechtsansatzes den Hunger in die Schranken weist. Allein von 2022 auf 2023 konnte die Zahl der Menschen in Ernährungsunsicherheit um 13 Millionen verringert werden. Im Kern des brasilianischen Modells steht der nationale Ernährungsrat CONSEA – ein komplexes System sozialer Teilhabe, das der Zivilgesellschaft ermöglicht, an politischen Entscheidungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene mitzuwirken. Flankiert von weiteren menschenrechtlichen Mechanismen wie einer staatlichen sozialen Sicherung, der Förderung der Agrarökologie sowie Schulspeisungsprogrammen ist Brasilien auf einem guten Weg, von der Hungerkarte zu verschwinden.

Wie mangelhaft eine mengenorientierte Hungerbekämpfung ist, führt das Beispiel der Allianz für eine grüne Revolution in Afrika (AGRA) vor Augen: Innerhalb von 15 Jahren sollte das von der Gates- und der Rockefeller Stiftung sowie von Staaten wie den USA und Deutschland großzügig finanzierte Projekt die Ernährungsunsicherheit in 20 afrikanischen Ländern halbieren. Der gesteigerte Vertrieb und Einsatz von kommerziellem Hochertragssaatgut, synthetischen Düngemitteln und Agrargiften sollte die afrikanische Landwirtschaft „modernisieren“. Doch anstelle den Hunger zu reduzieren, profitierten nur die wohlhabendsten Bäuer*innen. In den 13 Schwerpunktländern erhöhte sich die Zahl der Menschen, die unter extremem Hunger leiden, um 30 Prozent.

Die Verantwortung der deutschen Politik

Auch die kirchlichen Hilfswerke Misereor, Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe nehmen Stellung zum heute veröffentlichten UN-Bericht „The State of Food Security and Nutrition in the World (SOFI)“ und sprechen dabei die Verantwortung der deutschen Politik an. Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe sagt:

„Es ist ein Skandal, dass noch immer bis zu 757 Millionen Menschen weltweit hungern. In Afrika leidet jeder fünfte Mensch Hunger – Tendenz steigend. Der UN-Bericht zeigt, dass gerade die Unterstützung von kleinen Familienbetrieben, die noch immer die Hauptlast der Welternährung tragen, viel zu gering ist. Doch genau hier liegt der Schlüssel, um Millionen Menschen satt zu machen. Das zeigt Südamerika, der einzige Kontinent, in dem es gelungen ist, den Hunger substanziell zurückzudrängen.

Gerade mit Blick auf den Hunger in der Welt ist es vollkommen unverständlich, dass die Bundesregierung den Haushalt für Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe derart kürzen will. Wir leisten es uns, dass die ärmsten Menschen wieder einmal die Leidtragenden sind. Selbst die Welternährungsorganisation FAO muss nun konstatieren, dass eines der wichtigsten Nachhaltigen Entwicklungsziele, nämlich den Hunger in der Welt bis 2030 zu besiegen, verfehlt wird.“

Auch Andreas Frick, neuer Hauptgeschäftsführer von Misereor, fordert, Kürzungen bei der Hunger- und Armutsbekämpfung rückgängig zu machen:

„2015 hat die Weltgemeinschaft vereinbart, den Hunger weltweit bis 2030 zu beenden. Es braucht dringend ambitioniertere Anstrengungen, um dieses Ziel zu erreichen! Im Vergleich zu 2015 gibt es jetzt sogar 163 Millionen mehr Hungernde. Dabei ist die Welt seither reicher geworden, und es gibt genügend Lebensmittel für alle! Die Ursachen von Hunger – Ungleichheit, Kriege und durch die Klimakrise verstärkte Naturkatastrophen – sind bekannt. Die G20 wollen den Kampf gegen Hunger und Armut priorisieren, aber die Bundesregierung kürzt zeitgleich bei den Ärmsten. Die humanitäre Hilfe wird mehr als halbiert, die Entwicklungszusammenarbeit um eine Milliarde gekürzt. Den Versprechen an die von Hunger und Armut betroffenen Menschen, müssen auch Taten folgen. Fortschritte beim Kampf gegen die Mangelernährung bei Kindern zeigen, dass politischer Wille und internationale Anstrengungen durchaus Wirkung zeigen können.

Die Partnerorganisationen von Misereor arbeiten weltweit daran, dass Menschen sich aus Hunger und Armut befreien können. Diese Menschen vertrauen für ihre gute und wichtige Arbeit auf unsere finanzielle und politische Unterstützung. Die Bundesregierung muss sich fragen lassen, wie sie in Anbetracht der weltweiten Entwicklungen von Armut und Hunger die geplanten Haushaltskürzungen rechtfertigt.“

Philipp Mimkes ist Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland.

Der UN-Bericht von 2024 „The State of Food Security and Nutrition in the World (SOFI)“ steht über diesen Link zum Download als PDF-Datei bereit.