Unsere Art des Lebens findet auf dem Rücken anderer statt

 

Unsere heute dominierende Form der Lebensmittelerzeugung ist Ursache für 70 Prozent des Verlustes an Biodiversität und ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen. An diesen Zahlen lässt sich ablesen, dass die Menschen in Deutschland für einen übermäßigen Abbau und Verbrauch von irdischen Ressourcen und die Entstehung der globalen Klimaveränderungen eine hohe Mitverantwortung tragen. Der „German Overshoot Day“ 2022 fällt auf den 4. Mai: An diesem Tag hat Deutschland alle Ressourcen aufgebraucht, die dem Land nach dem Gebot der Nachhaltigkeit für das gesamte Jahr 2022 zur Verfügung stünden.



(Aachen, Heidelberg, Berlin, 4. Mai 2022) Zum heutigen Erdüberlastungstag in Deutschland („German Overshoot Day“) äußert sich Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Werks für Entwicklungszusammenarbeit Misereor:

„Auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner kommen in Deutschland 573 Pkw. Auf den Philippinen sind es 9,75, in Bangladesch 1,13. Vom Beginn der industriellen Revolution bis heute ist Deutschland für 5,56 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Die Philippinen für 0,2 und Bangladesch für 0,09 Prozent. Blicken wir noch auf einen anderen Bereich: Unsere heute dominierende Form der Lebensmittelerzeugung ist Ursache für 70 Prozent des Verlustes an Biodiversität und ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen.

An diesen Zahlen lässt sich ablesen, dass die Menschen in Deutschland für einen übermäßigen Abbau und Verbrauch von irdischen Ressourcen und die Entstehung der globalen Klimaveränderungen eine hohe Mitverantwortung tragen. Ebenso, dass die uns von der Natur geschenkten Güter extrem ungleich verteilt sind. Der heutige Erdüberlastungstag in Deutschland, weltweit am 29. Juli, führt uns mahnend vor Augen, unsere Art des Lebens und Wirtschaftens umzusteuern hin zu einem Alltag, der nicht auf Kosten der Natur und anderer Menschen geht. Natur ist ein Teil von uns, und wir sind Teil der Natur, deren Reichtümer wir nur innerhalb der planetaren Grenzen nutzen dürfen. Es ist ein Gebot der Solidarität, durch unseren Verbrauch und Konsum die Möglichkeiten anderer Menschen, vor allem im globalen Süden, zu einem guten Leben in Gegenwart und Zukunft nicht einzuschränken. Statistisch gesehen erfordert unsere Lebensweise 2,9 Erden. Auch in der gegenwärtigen Krisensituation ist es von existenzieller Bedeutung, die sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaften ambitioniert fortzuführen.“

Was können wir tun?

Das Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg gGmbH (ifeu) fordert zum „German Overshoot Day“ am 4. Mai einen schnellen Schwenk Richtung Nachhaltigkeit und zeigt, was Einzelne hier und jetzt gegen den Raubbau an Ressourcen und Energie tun können. Denn gemessen am „Erdüberlastungstag“ sei der ökologische Fußabdruck in den letzten Jahren nicht kleiner geworden. Schon nach einem Drittel des Jahres habe Deutschland alle Ressourcen aufgebraucht, die dem Land nach dem Gebot der Nachhaltigkeit für das gesamte Jahr 2022 zur Verfügung stünden.

„Unsere Industriegesellschaft leistet sich trotz des hohen Umweltbewusstseins einen im Weltmaßstab rekordverdächtig hohen Umweltverbrauch“, sagt Dr. Guido Reinhardt, Vorstandsmitglied des Instituts für Energie- und Umweltforschung (ifeu). Nach den Berechnungen der Organisation „Global Footprint Network“ (overshootday.org) liegt Deutschland beim Umweltverzehr zwischen Saudi-Arabien und Frankreich, gleichauf mit Israel. Die Staaten gehören zu den rund 20 Nationen mit dem höchsten Umweltverbrauch pro Kopf. Wenn alle Menschen weltweit in diesem Maße Energie und Ressourcen konsumieren würden, bräuchten wir drei Erden, um diesen Verbrauch zu decken.

Reichtum verdirbt die Ökobilanz

„Länder mit hohem Lebensstandard schaffen es bis heute nicht, nachhaltig zu wirtschaften“, sagt Reinhardt. Dabei ist das Wissen um Ressourcenverbrauch und Klimawandel gerade in den hoch gebildeten, reichen Ländern groß. Doch im Moment der konkreten Einkaufsentscheidung fallen ein günstigerer Preis oder ein größeres Konsumversprechen oft schwerer ins Gewicht als Umwelt-Überzeugung.

„Auch wenn verändertes Denken nicht sofort zu einem neuen Handeln führt, liegt der Schlüssel zur Nachhaltigkeit weiter in der Umweltbildung und einem immer weiter steigenden Umweltbewusstsein“, sagt Reinhardt. „Mit der Zeit verändern die Menschen ihr Verhalten im Alltag – etwas indem sie weniger Fleisch essen oder weniger fliegen. Und sie sorgen dafür, dass Parteien und Regierungen ihre politische Agenda ändern.“

Nachhaltigkeit bedeutet keinen Verlust an Lebensqualität

Auf Umwelttechniken wie Kläranlagen oder Recycling als Teil einer Kreislaufwirtschaft will trotz der Kosten bei ihrer Einführung heute niemand mehr verzichten. Sie stellen sicher, dass wir uns in einer gesunden Umwelt bewegen und nicht immer mehr Ressourcen aus der Erde kratzen. Auch die Investitionen in den Umstieg von Atom und Kohle auf erneuerbare Energie hat sich gelohnt. „Für die Verbraucherinnen und Verbraucher macht das keinen Unterschied, welcher Strom aus der Steckdose kommt. Und heute ist die Entwicklung so weit, dass Second-Hand-Rohstoffe und Energie aus Erneuerbaren oft einen Kostenvorteil haben“, so Reinhardt.

Gleichzeitig plädiert Reinhardt für einen sparsameren und bewussteren Umgang mit Ressourcen: „Die Glücksforschung zeigt, dass Lebensqualität sich nicht daran bemisst, wie viel Geld man beim Shoppen ausgeben kann oder wie viele Flugmeilen auf dem Konto stehen. Immer mehr Menschen finden für sich heraus, dass ein Weniger oder ein Anders ein Mehr an Lebensqualität bedeuten kann.“

Zehn Tipps zum nächsten „Germany Overshoot Day“

Damit jede und jeder Einzelne ab sofort im Alltag etwas zur Ressourcenschonung beitragen kann, rät das ifeu:

  • Reduzieren Sie den Verbrauch von Fleisch und Milchprodukten
  • Kaufen Sie regional, saisonal und möglichst bio ein und vermeiden Sie Lebensmittelabfälle
  • Kaufen Sie langlebige Textilien statt Fast Fashion
  • Vermeiden Sie Retouren im Online-Handel, vor allem bei Kleidung und Elektrogeräten. Denn diese Retouren werden meist entsorgt
  • Kaufen Sie langlebige Konsumgüter und kaufen Sie secondhand
  • Nutzen Sie erneuerbare Energien: Etwa mit einer Öko-Heizung, einer Solaranlage oder einer Beteiligung an einer regenerativen Bürgeranlage
  • Fliegen Sie so wenig wie möglich
  • Reduzieren Sie ihren Spritverbrauch durch Umstieg auf Fahrrad und Elektro-Mobilität oder ein kleineres Auto
  • Achten Sie auf Energiesparen – vor allem beim Heizen
  • Engagieren Sie sich in Politik und Öffentlichkeit für Klima- und Umweltschutz

„Damit der German Overshoot Day eines Tages auf den 31. Dezember fällt, brauchen wir das ökologische Verhalten der Einzelnen im Alltag und eine entschiedene Nachhaltigkeitspolitik für Klimaneutralität und geschlossene Kreisläufe“, so Reinhardt.

Dr. Guido Reinhardt ist Vorstandsmitglied des Instituts für Energie- und Umweltforschung (ifeu) in Heidelberg. Das ifeu wurde 1978 von wissenschaftlichen Mitarbeitern der Universität Heidelberg gegründet mit dem Ziel, unabhängige Forschungsarbeiten zu umweltrelevanten Themen zu ermöglichen. Es war eines der ersten selbstverwalteten und selbstbestimmten Forschungsinstitute in Deutschland.