Verbände-Bündnis geht Ursachen für zu hohen Antibiotikaeinsatz in der industriellen Tierhaltung an

 

Entgegen der EU-Tierarzneimittelverordnung setzen noch immer 80 bis 85 Prozent der deutschen Hähnchenmästereien standardmäßig Antibiotika ein, die bei Verbraucher*innen zu Resistenzen gegen Antibiotika führen können – laut Weltgesundheitsorganisation eine der größten Menschheitsbedrohungen. Germanwatch, Deutsche Umwelthilfe sowie 21 weitere Verbände aus Human- und Veterinärmedizin sowie Umwelt- und Tierschutz schlagen konkrete Maßnahmen vor, um Antibiotikamissbrauch im Stall zu beenden und Resistenzbildung erfolgreich zu bekämpfen. Sie fordern unter anderem eine Verbesserung des Tierschutzes in Zucht und Haltung sowie ein sofortiges Verbot von Reserveantibiotika, zumindest für die vielverbrauchende Gruppenbehandlung von Tieren, da Reserveantibiotika für Menschen bei Resistenzen gegen Standard-Antibiotika oft das letzte wirksame Mittel sind.

(Berlin, 26. Januar 2023) Seit einem Jahr ist die neue Tierarzneimittelverordnung der EU nun in Kraft. Im Widerspruch zum EU-Recht setzen noch immer 80 bis 85 Prozent der deutschen Hähnchenmästereien standardmäßig Antibiotika ein. Das ist ein großes Risiko, denn Resistenzen gegen Antibiotika sind schon heute laut Weltgesundheitsorganisation eine der größten Menschheitsbedrohungen. Die Ausbildung und Verbreitung dieser Resistenzen wird unter anderem durch die industrielle Tierhaltung beschleunigt. Mindestens 1,3 Millionen Todesfälle weltweit hätten ohne solche Resistenzen allein in 2019 verhindert werden können.

Heute haben die Umwelt- und Verbraucherschutzorganisation Germanwatch und die Deutsche Umwelthilfe einen Fünf-Hebel-Plan zur Antibiotikareduktion in der Tierhaltung an Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sowie weitere zentrale Akteure aus Politik, Landwirtschaft, Fleischwirtschaft und Veterinärmedizin versendet mit der Bitte um Stellungnahme. Die Organisationen schlagen in dem gemeinsamen Papier fünf Hebel vor, um Antibiotikamissbrauch im Stall zu beenden und Resistenzbildung erfolgreich zu bekämpfen. Anders als die meisten früheren Maßnahmen reichen diese Hebel weiter, da sie die systemischen Hauptursachen zu hohen Antibiotikaeinsatzes identifizieren und beheben können.

Fünf Hebel sollen helfen, Antibiotikaeinsatz bis 2030 zu halbieren

Das Papier wird bereits von 21 weiteren Verbänden aus Human- und Veterinärmedizin sowie Umwelt- und Tierschutz unterstützt. Die Unterzeichnenden sind der Überzeugung, dass das im Tierarzneimittelgesetz festgesetzte Ziel, den Antibiotikaverbrauch bis 2030 zu halbieren, nur erreicht werden kann, wenn diese fünf politischen Hebel bewegt werden. Sie umfassen ein weitgehendes Verbot von Reserveantibiotika, eine Verbesserung des Tierschutzes in Zucht und Haltung, eine zielgenaue Entwicklung und Umsetzung von Antibiotikaresistenz- und Tiergesundheits-Strategien sowie eine verbesserte Überwachung des Antibiotikaeinsatzes und der Risiken auch des grenzüberschreitenden Handels.

Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch: „Die bisherigen politischen und rechtlichen Maßnahmen haben in Deutschland nur zeitweilig zu einer ersten Reduktion des Antibiotikaverbrauchs in der Tierhaltung geführt. Sie sind längst an ihre Grenzen gekommen. Es muss endlich an der Hauptursache angesetzt werden: Die industrielle Tierhaltung produziert inakzeptable Risiken für Mensch und Tier, für die Gesundheit, das Klima, das Wasser. Die Hochleistungszucht von Tieren gilt es ebenso zu begrenzen wie die Anzahl der gehaltenen Tiere zu reduzieren. Wir fordern zudem ein sofortiges Verbot von Reserveantibiotika, zumindest für die vielverbrauchende Gruppenbehandlung von Tieren. Reserveantibiotika sind für Menschen bei Resistenzen gegen Standard-Antibiotika oft das letzte wirksame Mittel. Ihre Wirksamkeit muss besonders geschützt werden.“

Sascha Müller-Kraenner, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, ergänzt: „Wenn 85 Prozent der Hähnchenbetriebe in Deutschland Antibiotika benötigen, dann sind sehr viele Tiere in der industriellen Tierhaltung offensichtlich schlimm krank. Das EU-Tierarzneimittelrecht verbietet es, schlechte Haltungsbedingungen mit dem Einsatz von Antibiotika zu kompensieren. Daher muss das Bundeslandwirtschaftsministerium die relevanten Gesetze, die derzeit noch krankmachende Zucht und Haltung erlauben, umfassend verbessern und so die Hebel umlegen zugunsten gesünderer Tiere. Die im Koalitionsvertrag angekündigte Tiergesundheitsstrategie muss die Hebel für eine stabile Tiergesundheit benennen, anpacken und umlegen. Notwendig ist parallel dazu, bei der aktuellen Ausarbeitung der Deutschen Antibiotika-Resistenzstrategie, der DART 2030, klare Reduktionsschritte für die Antibiotikahalbierung bis 2030 festzulegen, um die fortschreitende Ausbildung und Verbreitung von antibiotikaresistenten Erregern schnellstmöglich zu bremsen.“

Deutschland zählt zu den hochverbrauchenden Ländern

Beim Einsatz von Antibiotika in der landwirtschaftlichen Tierhaltung liegt Deutschland mit 73,3 mg je kg Tiergewicht (mg/PCU) im europäischen Vergleich deutlich vor Ländern wie Frankreich (51,7 mg/PCU), Niederlande (47,6 mg/PCU) oder Dänemark (33,4 mg/PCU). Ein durchschnittliches Masthuhn wurde in 2021 im Vergleich zu 2017 an fünf zusätzlichen Tagen antibiotisch behandelt, das entspricht einem Anstieg um 28 Prozent.

Das aktuelle Zoonosen-Monitoring des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) bestätigt zudem, dass insbesondere bei Masthähnchen seit Jahren keine wesentlichen Fortschritte bezüglich des Auftretens von Antibiotikaresistenzen erzielt worden sind. Das BVL als zuständige Behörde fordert überdies seit Jahren mehr Engagement für die Reduktion von Reserveantibiotika bei Tieren, weil diese Wirkstoffe für Menschen von höchster Bedeutung sind.

Christoph Bals ist Politischer Geschäftsführer von Germanwatch.

Der Fünf-Hebel-Plan zur Antibiotikareduktion in der Tierhaltung steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.