30.000 Vereine scheuen politisches Engagement: Umfrage zeigt, wie Angst um Gemeinnützigkeit ziviles Engagement hemmt

 

Das überholte Gemeinnützigkeitsrecht unterdrückt wichtiges demokratisches Engagement von gemeinnützigen Vereinen und Initiativen in Deutschland. Der Entzug der Gemeinnützigkeit von Attac 2014 war bereits ein Angriff auf die kritische Zivilgesellschaft; zahlreichen anderen fürs Gemeinwohl engagierten Vereinen wurde danach die Gemeinnützigkeit abgesprochen. Der ZiviZ-Survey 2023 des „ZiviZ im Stifterverband“ (Zivilgesellschaft in Zahlen) bestätigt: Wichtige Stimmen gehen im Diskurs verloren, weil Vereine es nicht mehr wagen, sich politisch einzumischen.

(Berlin, 7. März 2023) Fünf Prozent der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen haben Angst, sich politisch zu engagieren – aus Sorge, ihre Gemeinnützigkeit zu verlieren. Zu diesem Ergebnis kommt “ZiviZ im Stifterverband” (Zivilgesellschaft in Zahlen) in ihrer aktuellen Umfrage. Hochgerechnet verliert die politische Debatte in Deutschland damit mehr als 30.000 Organisationen und Vereine. Im Bereich Umweltschutz geben sogar elf Prozent der Befragten an, sich aus Vorsicht politisch zurückzuhalten. Diese Zahlen untermauern die Erfahrungen vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen: Das überholte Gemeinnützigkeitsrecht unterdrückt wichtiges demokratisches Engagement von gemeinnützigen Vereinen und Initiativen. 14 zivilgesellschaftliche Organisationen drängen die Ampel-Regierung daher, dringend diesen Missstand zu beheben und die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts anzugehen – wie im Koalitionsvertrag versprochen.

Die Abgabenordnung muss um gemeinnützige Zwecke erweitert und vorhandene Zwecke müssen konkretisiert werden. Nur auf diese Weise kann die wichtige Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Förderung von Demokratie, Grund- und Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, politischer Bildung sowie sozialer Gerechtigkeit gewürdigt und abgesichert werden. Gemeinnützigen Organisationen muss es zudem erlaubt sein, sich an der politischen Willens- und öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen – in dem Maß, in dem sie es für angemessen halten. Ferner fordert das Bündnis eine Demokratieklausel, mithilfe derer gemeinnützige Organisationen aus aktuellem Anlass über den eigenen Satzungszweck hinaus aktiv werden können.

Frauke Distelrath, Geschäftsführerin von Attac Deutschland: „Der Entzug der Gemeinnützigkeit von Attac 2014 war ein Angriff auf die kritische Zivilgesellschaft. Zahlreichen anderen fürs Gemeinwohl engagierten Vereinen wurde danach die Gemeinnützigkeit abgesprochen. Fast noch demokratieschädigender sind die weniger sichtbaren Folgen, die der ZiviZ Survey bestätigt: Wichtige Stimmen gehen im Diskurs verloren, weil Vereine es nicht mehr wagen, sich politisch einzumischen. Es ist höchste Zeit für ein modernes Gemeinnützigkeitsrecht, das die demokratische Zivilgesellschaft stärkt, statt ihren Gegner*innen zu helfen. Wir brauchen Engagement statt Politikverdrossenheit!”

Aus dem ZiviZ-Survey 2023

Mit dem ZiviZ-Survey erfasst ZiviZ im Stifterverband seit 2012 in regelmäßigen Abständen und repräsentativ Strukturmerkmale und Entwicklungen in der organisierten Zivilgesellschaft. Am ZiviZ-Survey 2023 nahmen insgesamt 12.792 Organisationen teil. Die in diesem Bericht dargestellten Befunde geben erste Einblicke in Trends und Veränderungen in der Zivilgesellschaft über die vergangenen zehn Jahre. Sie geben auch darüber Aufschluss, inwiefern die Krisen der vergangenen Jahre, insbesondere die Corona-Pandemie, langfristige Entwicklungen im Engagement beeinflusst haben.

Zivilgesellschaftliche Organisationen verstehen sich immer häufiger als Impulsgeber für sozialen Wandel, als Sozialunternehmen oder auch als Akteure der politischen Willensbildung, stellt der ZiviZ-Survey 2023 fest. Sie möchten mit ihren Aktivitäten und Angeboten nach außen wirken und Gesellschaft sowie Politik mitgestalten. Hingegen schwächt sich das Rollenverständnis als Mitgliederorganisation ab. Das heißt, Vereinigungen sind seltener nach innen orientiert und fühlen sich seltener vordergründig den Interessen ihrer Mitglieder verpflichtet.

Die Ansprüche an gesellschaftliche Mitgestaltung zeigen sich auch darin, dass die Organisationen im Zehnjahresvergleich immer häufiger in den Bereichen Bildung (plus 3,9 Prozentpunkte) und Umwelt (plus 1,3 Prozentpunkte) aktiv sind. In Teilen der Zivilgesellschaft herrscht Verunsicherung darüber, inwiefern politische Mitgestaltung den Gemeinnützigkeitsstatus gefährden könnte. 5 Prozent der Organisationen geben an, sich aus Sorge um ihren Gemeinnützigkeitsstatus nicht intensiver politisch zu engagieren. Überdurchschnittlich ausgeprägt ist diese Sorge insbesondere in den Engagementfeldern Umwelt (11 Prozent) und internationale Solidarität (10 Prozent).

Mehr Organisationen berichten von rückläufigen Zahlen im freiwilligen Engagement: Die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten während der Corona-Pandemie stellten Organisationen vor besondere Herausforderungen in der Gewinnung und Bindung von Mitgliedern und freiwillig Engagierten. Mehrheitlich waren die Zahlen an Mitgliedschaften und freiwillig Engagierten in den vergangenen fünf Jahren stabil. Während Sportorganisationen am häufigsten von sinkenden Engagiertenzahlen (27 Prozent) betroffen sind, berichten Umwelt- und Naturschutzorganisationen am häufigsten von steigenden Zahlen im Engagement (32 Prozent).

Auch die Bewältigung der Klimakrise wird zunehmend als Querschnittsaufgabe in der Zivilgesellschaft erkannt. Jede vierte Organisation hat in den vergangenen Jahren angefangen, sich aktiv mit dem Thema zu befassen oder plant dies für die kommenden Jahre.

Weitere Ergebnisse im Überblick

Im Jahr 2022 gab es in Deutschland 656.888 zivilgesellschaftliche Organisationen. Das sind rund 18.000 Organisationen mehr als zum Zeitpunkt der letzten umfassenden Bestandsaufnahme von ZiviZ im Jahr 2016. Allerdings werden von Jahr zu Jahr weniger neue Vereine gegründet. Zeitgleich zeigt sich eine starke Gründungsdynamik von gemeinnützigen Kapitalgesellschaften, deren Zahl zwischen 2016 und 2022 um 27 Prozent wuchs.

Vereine werden immer häufiger als Fördervereine gegründet. Gaben in 2016 noch 22 Prozent der Vereine an, Fördervereine zu sein, waren es in 2022 bereits 25 Prozent. Fördervereine werden nicht nur im Bildungsbereich (zum Beispiel als Schulfördervereine) gegründet, sondern inzwischen auch häufig in anderen Engagementfeldern (zum Beispiel in den Bereichen Bevölkerungs- und Katastrophenschutz, Gesundheit und Wissenschaft).

Das Beschäftigungswachstum im gemeinnützigen Sektor beschränkt sich auf große Organisationen. Während der Anteil zivilgesellschaftlicher Organisationen mit bezahlten Beschäftigten zwischen 2012 und 2016 noch deutlich von 21 auf 28 Prozent stieg, verbleib der Wert in 2022 mit 27 Prozent auf ähnlichem Niveau wie 2016. Gleichzeitig berichten gerade Organisationen mit überdurchschnittlich vielen bezahlten Beschäftigten von weiteren Zuwächsen.

Die Finanzierungserwartung an den Staat nimmt zu. Zwar sind noch immer 54 Prozent der Organisationen der Ansicht, dass sie ihre Aktivitäten selbst durchführen und finanzieren sollten, dennoch zeigt sich: Während im Jahr 2016 noch 31 Prozent der Organisationen angaben, dass ihre Arbeit vermehrt vom Staat finanziell unterstützt werden sollte, stieg der Wert in 2022 auf 40 Prozent an.

Frauke Distelrath ist Geschäftsführerin von Attac Deutschland.

Die ersten Befunde des ZiviZ-Survey 2023 unter dem Titel „ZIVILGESELLSCHAFT IN KRISENZEITEN: POLITISCH AKTIV MIT GESCHWÄCHTEN FUNDAMENTEN“ stehen über diesen Link zum Download als PDF bereit.

Der Methodenbericht zum ZiviZ-Survey 2023 steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.

Der Fragebogen zum ZiviZ-Survey steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.