Wem gehören wir im digitalen Raum – uns selbst oder den Systemen, die uns vermessen?

Ein Essay von Rudolf Tillig und Michael Detjen

Freiheit ohne Rückbindung zerstört sich selbst. Das gilt auch für digitale Freiheit. Der europäische Weg könnte darin bestehen, das Eigentum an Daten als geteilte Verantwortung zu denken – nicht als Waffe gegen Innovation, sondern als Garant dafür, dass sie dem Menschen dient. Dafür braucht es keine Revolution, sondern politischen Willen.

Europa war immer der Kontinent, auf dem Eigentum mehr bedeutete als Besitz. Seit der Antike diente es nicht bloß der Anhäufung von Dingen, sondern der Ordnung des Zusammenlebens. Eigentum war das sichtbare Zeichen einer Freiheit, die nicht schrankenlos, sondern eingebettet war in Verantwortung und Maß. Aus der Vorstellung, dass der Mensch sich durch Arbeit und schöpferische Tätigkeit die Welt aneignet, entwickelte sich eine der produktivsten Ideen der abendländischen Zivilisation – und zugleich eine ihrer gefährlichsten, wenn sie sich vom Geist löst, der sie trägt.

Heute stehen wir erneut an einem Wendepunkt. Nach dem materiellen und dem geistigen Eigentum ist ein dritter Bereich entstanden – das Dateneigentum. Es ist unstofflich, flüchtig, verhaltensbasiert, eigentümlich in jeder Hinsicht. Wir erzeugen Daten, indem wir leben, sprechen, klicken, reisen, uns bewegen. Sie sind die unausweichlichen Spuren unserer Existenz in einer vernetzten Welt – und zugleich die Grundlage einer neuen Ökonomie, die unsere Aufmerksamkeit, Vorlieben und Beziehungen in Kapital verwandelt. Diese neue Form des Eigentums hat sich längst materialisiert – nur nicht für diejenigen, die sie hervorbringen.

Über diese Differenzierungen hinaus sollte eine weitere Unterscheidung anerkannt werden: Ein Teil der Daten gehört seiner Natur nach zum Bereich des Gemeinguts (Public Good). Insbesondere Forschungs- und Wissenschaftsdaten sind nicht bloße Produkte individueller Arbeit, sondern Bausteine kollektiver Erkenntnis. Sie verkörpern das, was in Europa zunehmend als „fünfte Freiheit“ bezeichnet wird – die Freiheit des Wissens- und Datenaustauschs über Grenzen hinweg. Diese Freiheit erfordert mehr als nur den Ruf nach „Open Data“. Sie verlangt verlässliche und nachvollziehbare Strukturen gemeinsamer Nutzung. Technologien wie blockchain-basierte Lizenzsysteme können hier Transparenz und Rückverfolgbarkeit schaffen, damit Urheber, Institutionen und die Gesellschaft gleichermaßen an der Wertschöpfung partizipieren. Auch die internationalen Vereinbarungen, etwa das WTO-Memorandum über den E-Commerce, weisen in diese Richtung. Digitale Nutzung muss künftig an überprüfbare, gerechte und interoperable Vertragsmechanismen gebunden sein. Europa könnte auf dieser Basis zeigen, dass Gemeinwohlorientierung und Innovation keine Gegensätze sind, sondern die Voraussetzungen eines digitalen Humanismus.

Die großen digitalen Plattformen haben es verstanden, unsere Spuren zu bündeln, zu analysieren und zu monetarisieren. Sie besitzen, was sie nicht geschaffen haben, und regeln, was ihnen nie übertragen wurde. Der Mensch, einst Urheber und Träger seiner Welt, ist zum Lieferanten seiner eigenen Daten geworden – ohne Vertrag, ohne Gegenleistung, ohne Kontrolle. Der wirtschaftliche Nutzen entsteht aus seinem Verhalten, die Rechte daran liegen anderswo.

Europa steht damit vor einer grundsätzlichen Frage:

Wem gehören wir im digitalen Raum – uns selbst oder den Systemen, die uns vermessen?

In den Eigentumstheorien Europas war immer klar, dass Besitz nicht nur eine Sache der Verfügung, sondern auch der Beziehung ist. Für Aristoteles war Eigentum ein Mittel zur Verwirklichung des guten Lebens; für Locke die Frucht menschlicher Arbeit; für Hegel der Ausdruck des freien Willens, der sich in der Welt konkretisiert. In all diesen Vorstellungen steckt die Überzeugung, dass Eigentum nur dann legitim ist, wenn es den Menschen stärkt, nicht entwürdigt.

Das digitale Zeitalter aber stellt diesen Gedanken auf den Kopf. Es hat den Menschen in eine permanente, unfreiwillige Produktivität versetzt. Jedes Wort, jeder Standort, jeder Herzschlag wird zur Ressource. Damit ist etwas geschehen, das die klassische Philosophie noch nicht kannte: Das Individuum selbst wird zum Rohstoff, ohne dass es das je beschlossen hätte. Wenn Arbeit einst Quelle des Eigentums war, dann ist heute das Verhalten selbst zu einer Art Arbeit geworden – nur dass ihr Ertrag in andere Hände fließt.

Ein europäisches Verständnis von Eigentum muss darauf antworten. Es kann nicht in der Logik der anglo-amerikanischen Rechtsordnung geschehen, die den Markt als Schiedsrichter aller Ansprüche betrachtet und Vertragsfreiheit zur höchsten Instanz erhebt. Diese Denkschule hat das Digitale zur freien Wildbahn erklärt: Wer sammelt, der besitzt. Doch das ist nicht die Idee Europas. Hier hat Eigentum immer auch eine soziale und moralische Dimension gehabt. Es war nie bloß Recht, sondern Verantwortung, eingebettet in Gemeinwohl, Solidarität und Würde.

Gerade darin liegt Europas Chance: den nächsten Schritt in der Geschichte des Eigentums nicht dem Markt, sondern dem Recht anzuvertrauen – und damit der Freiheit selbst. Denn ein Dateneigentum, das diesen Namen verdient, wäre kein Besitzrecht im engen Sinne, sondern ein Verfügungsrecht: das Recht, zu wissen, wer mit meinen Daten arbeitet; das Recht, diese Nutzung zu erlauben oder zu verweigern; das Recht, an der Wertschöpfung beteiligt zu sein, die auf meinem digitalen Abbild beruht. Kurz: das Recht, Subjekt und nicht Objekt der eigenen Daten zu sein.

Andere Kulturen kennen ähnliche Ideen, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Im Konfuzianismus bedeutet Verantwortung immer auch Fürsorge für das Ganze – das Ich ist untrennbar mit dem Wir verbunden. In der islamischen Rechtsphilosophie gibt es das Konzept der Amanah, der Treuhänderschaft: Wer etwas empfängt, trägt es nicht für sich allein, sondern in moralischer Verantwortung gegenüber anderen. Und in der indischen Dharma-Lehre gilt das Prinzip, dass jede Handlung Teil eines kosmischen Gleichgewichts ist, dessen Störung Folgen hat.

Diese Vorstellungen klingen entfernt, doch sie berühren denselben Kern: Freiheit ohne Rückbindung zerstört sich selbst. Das gilt auch für digitale Freiheit. Der europäische Weg könnte darin bestehen, das Eigentum an Daten als geteilte Verantwortung zu denken – nicht als Waffe gegen Innovation, sondern als Garant dafür, dass sie dem Menschen dient.

Dafür braucht es keine Revolution, sondern politischen Willen. Das Europäische Parlament kann eine Opinion bei der Kommission anregen, die den Rahmen für Fachtagungen und Expertengespräche schafft. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Zivilgesellschaft vereint, könnte als erster Ort einer gemeinsamen europäischen Reflexion wirken. Er hat das Mandat, Initiativ-Stellungnahmen zu formulieren, und könnte damit den Weg bereiten für ein „Dateneigentumsgrundrecht“ – eingebettet in die europäische Grundrechtecharta, abgestimmt mit der DSGVO und den Zielen des Data Act.

Solch ein Prozess wäre mehr als ein juristisches Unterfangen. Er wäre ein kultureller Akt, eine Rückgewinnung des europäischen Gedankens in einer Zeit, da Datenmärkte die Grenzen von Staat, Markt und Person verwischen. Wenn Europa diesen Schritt wagt, könnte es zeigen, dass Digitalisierung nicht Entfremdung bedeuten muss, sondern Selbstbestimmung. Dass Technologie nicht Herrschaft über Menschen, sondern Werkzeug menschlicher Mündigkeit sein kann.

Dateneigentum ist keine technische Frage. Es ist eine anthropologische. Es betrifft die Definition des modernen Menschen: ob er sich selbst gehört oder den Systemen, die ihn modellieren. Europa könnte das erste Gemeinwesen sein, das diese Frage politisch beantwortet – durch ein Recht, das Freiheit nicht als Abwesenheit von Grenzen versteht, sondern als Fähigkeit zur Gestaltung.

In dieser Idee liegt eine tiefe Kontinuität des europäischen Geistes. Denn immer, wenn sich das Eigentum verändert hat, ging es im Kern um dieselbe Bewegung: vom Haben zum Sein, vom Besitz zum Bewusstsein. Heute heißt das: vom Datenrausch zur Datensouveränität.

„Wir sind Europa – wir können das.“ Dieser Satz wäre keine Parole, sondern eine Erinnerung daran, dass Fortschritt nicht nur in der Maschine steckt, sondern im Begriff des Menschen. Wenn Europa das Eigentum der Zukunft gestalten will, muss es zuerst sich selbst verstehen – als Raum, in dem Freiheit und Verantwortung untrennbar sind. Das Dateneigentum wäre dann nicht die Verlängerung des Kapitalismus ins Digitale, sondern seine zivilisierende Begrenzung. Eine europäische Antwort auf die Frage, wem wir gehören.