KI-Assistenten stoppen Kassen-Patienten!

Digitalisierung im Gesundheitswesen darf niemals bedeuten, dass Menschlichkeit wegoptimiert wird. Sie muss bedeuten: Technik unterstützt Medizin, nicht ersetzt sie. Es geht nicht darum, Fortschritt abzulehnen, – es geht darum, daran zu erinnern, dass Digitalisierung nicht nur für Praxen, Anbieter oder Softwarehersteller funktionieren darf, sondern für echte Menschen. (Eine Kolumne von Michael Detjen, November 2025)

Ohne Tricks kommst du nicht mehr zum Arzt!

Es war einmal ein ganz normaler Patient, der wollte nichts weiter, als mit seinem Arzt über ein gesundheitliches Problem zu sprechen, nein, er wollte einen Termin absagen, in dem es es sich hätte herausstellen können, dass es ein gesundheitliches Problem geben könnte. Nennen wir ihn mal Hans Schmitt (Identitäten mit real lebenden Personen wären vollkommen dem Zufall geschuldet). Hans Schmitt nahm also den Hörer in die Hand, in der Erwartung, mit einer freundlichen Sprechstundenhilfe zu reden, die vielleicht einen Augenblick Zeit für ihn hätte, um in Ruhe einen Termin zu vereinbaren.

Doch stattdessen begrüßte ihn eine künstliche Stimme, die ihm sogleich mitteilte: „Wenn sie nicht damit einverstanden sind, ihren Termin von mir, einer hochmodernen KI, zu erhalten, dann legen Sie doch bitte einfach wieder auf.“

Und so saß Herr Schmitt ‑ nennen wir ihn nun einfach nur noch Hans ‑ da, mit einer Praxis in der Leitung, die ihm eigentlich nur helfen sollte, einen Termin zu vereinbaren, und wurde stattdessen von einer KI gefragt, ob er überhaupt mit ihr reden will.

ER dachte: „Ich will nur einen Termin.“ Nicht einmal einen komplizierten – keinen Lungenfunktionstest im Höhenlabor, keine Ganzkörper-MRT, keinen NASA-Tauglichkeitscheck. Nur ein Gespräch. Mit meinem Arzt. Weil mein Körper – anders als Software – keine Updates bekommt, wenn etwas nicht richtig läuft.

Jetzt beginnt eine Geschichte, die zeigt: Wenn niemand – weder die Ärzte noch die Kassenärztlichen Vereinigungen noch die Krankenkassen – wirklich versteht, wie man Digitalisierung menschlich gestaltet, dann endet man in einer Welt, in der der Fortschritt am Menschen vorbeigeht. Und so wird Herr Hans Müller zum Sinnbild dafür, dass es am Ende nicht um Technik um der Technik willen gehen darf, sondern immer um den Menschen, der dahintersteht.

Hans war sogar vorbereitet: Versichertenkarte bereitgelegt, Kalender offen, Medikamentennamen parat – wie man das eben macht, wenn man menschlich kommuniziert.

Und dann kam sie: Die Stimme. Kalt, glatt, synthetisch – wie ein Kühlschrank, der gelernt hat zu sprechen: „Hallo hier ist der Assistent der Arztpraxis Dres. Müller, Lohens & Partner der Praxis der Zukunft! Wenn Sie nicht damit einverstanden sind, dass ein KI-Terminassistent Ihre Anfrage bearbeitet, legen Sie bitte jetzt auf.“

Nicht: „Guten Tag.“

Nicht: „Womit können wir Ihnen helfen?“

Nein.

Erst einmal: Unterwerfung. Ein digitales Einreiseverfahren ins neue Gesundheitswesen.

Hans stand da, das Telefon am Ohr, und dachte: „Huch, bin ich beim Arzt oder am Flughafen der Zukunft, kurz bevor eine Maschine entscheidet, ob ich sicher genug bin, um weiterzuleben?“

Doch er blieb dran. Er ist ja vernünftig. Und leidensfähig. Beides braucht man zunehmend als Patient.

Das Gespräch – oder das, was dafür gehalten wurde

Der KI-Assistent fragte: „Was möchten Sie?“

Er antwortete: „Ich brauche einen Termin, um mit meinem Arzt über Beschwerden zu sprechen.“

Der KI-Assinstent antwortete: „Meinten Sie: Rezeptabholung, Sehschärfenmessung, Haustscreening oder Impfung?“

Hans: „Nein.“

Der KI Assi: „Sagen Sie jetzt JA für: Rezeptabholung.“

Hans: „NEIN.“

Der KI-Assi: „Ich habe Sie nicht verstanden. Sagen Sie jetzt JA für: Rezeptabholung.“

Und in diesem Moment wurde Hans klar: Diese Systeme sind nicht geschaffen, um zu helfen. Sie sind geschaffen, um zu sortieren, zu blockieren, zu reduzieren – vor allem aber, um menschliche Arbeitszeit durch untrainierte Maschinenlogik zu ersetzen, die schon an der Aufgabe scheitert, Sprache zu verstehen.

Aber bevor Hans Müller überhaupt in die Nähe eines Menschen kommt, wird er heute von Systemen begrüßt, die sich selbst „digitaler Durchbruch“, „modernste KI-gestützte Praxisorganisation“ oder „Entlastungslösung für medizinische Fachkräfte“ nennen.

Also trifft Hans Müller auf einen KI-Terminassistenten – sei es Doptolib, Blameda, CLIppDOC, ZerMed, 116117-Terminservice oder einen ihrer Mitbewerber – und dieser eröffnet ihm Folgendes: „Wenn Sie nicht damit einverstanden sind, dass ein KI-Terminassistent Ihren Termin übernimmt, legen Sie jetzt bitte auf.“

Eine höfliche Vorwarnung? Nein. Eine digitale Eintrittsbedingung. Ein Türsteher mit monotoner weiblicher Stimme, die nicht fragt, was Hans Müller braucht – sondern ob er bereit ist, sich dem System unterzuordnen.

Doch Hans Müller bleibt dran. Nicht, weil das System funktioniert. Sondern, weil er hartnäckiger ist als eine Maschine, die primär darauf trainiert wirkt, Menschen loszuwerden, bevor sie eine Praxis erreichen.

Wem dient das eigentlich?

Hans Müller – ab sofort der offizielle Stellvertreter aller Menschen mit realem Körper und echter Erkrankung – hat es ausprobiert. Und die Antwort ist erschütternd einfach: Niemandem.

Nicht den Patienten. Die irren inzwischen durch eine akustische Escape-Room-Inszenierung, in der sie nicht ausbrechen, sondern aufgeben sollen. Gewünschte Wirkung? Schon erreicht, bevor ein Mensch überhaupt zuhören musste.

Nicht den Ärzten. Die bekommen dieselben Inhalte später noch einmal – erst murmelnd gegen eine Maschine gerichtet, dann erneut, dieses Mal menschlich und zunehmend gereizt, weil Hans Müller inzwischen die Geduld eines tibetanischen Mönchs und die Stimmung eines russischen Grenzbeamten hat.

Nicht den Praxisteams. Die telefonieren sich jetzt durch Rückrufe wie: „Hallo, Herr Müller… Sie hatten irgendwas, irgendwas, der KI-Assistent hat ‚Körper‘ verstanden. Hilft das?“

Nein. Tut’s nicht.

Nicht den Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen. Dort herrscht die völlig absurde Überzeugung, Digitalisierung sei ein Faxgerät – aber mit WLAN.

Nicht der Politik. Die steht daneben, klatscht höflich und nickt inkompetent, sobald im Raum das Wort Innovation fällt – egal, ob es sich dabei um funktionierende Technologie, unausgereifte Spielerei oder eine digitale Sackgasse handelt.

Und während die Köpfe sich zufrieden wiegen, übersieht man geflissentlich, dass das, was hier als Zukunft verkauft wird, eigentlich das digitale Äquivalent eines Schildes ist, auf dem steht: „Bitte nicht klingeln – wir wollen nicht gestört werden.“

Und wofür das alles?

Offiziell natürlich für den Satz, der mittlerweile wie eine schlechte Tapete überall klebt: „Zur Entlastung der Praxis.“

Aber in Wahrheit lautet der Text – in kleiner Schrift und ohne Marketingfilter: „Zur Entlastung von Verantwortung.“

Denn echte Digitalisierung – die, die wirklich etwas verändert – braucht:

  • klare, abgestimmte Prozesse
  • Schulung, nicht Hoffnung
  • Fachwissen statt PowerPoint-Behauptungen
  • einen realistischen Blick auf Bedürfnisse der Menschen
  • und vor allem eine einfache Leitfrage: „Was soll besser werden – und für wen?“

Doch stattdessen wird blind eingeführt, was sich modern anhört oder auf Messen glänzt – vorausgesetzt, niemand zwingt es, real zu funktionieren.

Und das Bitterste?

Es ist nicht Bosheit. Es ist Unfähigkeit. Unfähigkeit, Digitalisierung zu verstehen. Unfähigkeit, Technologie menschenzentriert zu gestalten. Unfähigkeit, die Beziehungen im Gesundheitswesen zu schützen.

Denn eine Arzt-Patient-Beziehung beginnt nicht beim ICD-Code, nicht bei der Gebührenziffer, nicht beim Login in einer App. Sie beginnt beim ersten Kontakt. Und genau dieser Kontakt wurde ersetzt durch eine Maschine, die nicht zuhört, nicht versteht und nicht hilft. Und als wäre das nicht schon grotesk genug, kündigte das System auch noch an, dass das Gespräch möglicherweise nicht vollständig richtig verstanden worden sei und man daher — zur Sicherheit — vom Praxisteam zurückrufen werde.

Hans Müller wartete. Einen Tag. Zwei. Fünf. Nach 14 Tagen begann er sich zu fragen, ob nicht vielleicht etwas ganz anderes passiert war: War die Praxis inzwischen geschlossen? War das System nicht kompatibel mit gesetzlich Versicherten? Oder nur mit Privatpatienten? Hatten sie beschlossen, grundsätzlich gar keine Menschen mehr zu behandeln, weil digitale Systeme doch so viel „effizienter“ seien? Oder ‑ und das war die unangenehmste Frage ‑ war er als Patient einfach nicht mehr vorgesehen?

Hans Müller hatte das Gefühl, dass er nicht nur keinen Termin bekommen hatte ‑ sondern gleich das ganze Konzept von Arztbesuch und Patientensein stillschweigend abgeschafft worden war.

Also, wenn „KI-Assitenten“ im Gesundheitswesen eine Rolle spielen sollen dann muss man endlich begreifen:

  • Digitalisierung ist kein Filter. Keine Hürde. Keine Vorhölle der Bürokratie. Keine Abschreckanlage zur Patientenselektion. Und erst recht keine Simulation von Effizienz.
  • Digitalisierung ist eine Verlängerung menschlicher Kompetenz. Nicht ihr Ersatz.

Und ja – damit wären wir erst am Anfang. Hans Müller hat es immer noch nicht geschafft, den Termin zu bekommen. Nicht, weil er nicht funktioniert hätte – sondern, weil er hartnäckiger war als die Maschine, die ihn loswerden wollte.

Aber sein tatsächliches Problem beginnt erst jetzt. Denn Hans Müller glaubt ja noch, dass das Abenteuer vorbei sei, sobald der Termin steht. Er weiß noch nicht – wie sollte er – dass die digitale Neuzeit des Gesundheitswesens ihm erst noch zeigen wird, was: „Warum einfach, wenn es technisch kompliziert geht?“, wirklich bedeutet.

Er hat noch keine Bekanntschaft gemacht mit:

  • der elektronischen Patientenakte, die angeblich alles weiß – aber Hans Müller nicht kennt,
  • der App, die ihn authentifizieren will, obwohl sie schon weiß, dass er es ist,
  • den Datensystemen, die miteinander sprechen sollen, es aber aus Prinzip nicht tun,
  • und der freundlichen Erinnerung, dass alles nur zu seinem Schutz passiert. Auch wenn es sich exakt andersherum anfühlt.

Aber keine Sorge. Hans Müller hat Zeit. Und Geduld. Er ist schließlich nur Patient. er braucht Hilfe.

Wann wir weiterschreiben? Keine Ahnung. Vielleicht morgen. Vielleicht nächste Woche. Vielleicht irgendwann, wenn eine dieser glänzenden digitalen Innovationen ausnahmsweise funktioniert.

Oder – und das wäre fast poetisch – wenn die KI selbst darum bittet.

Disclaimer

Alle in diesem Text erwähnten Personen, Namen, Rollen, Organisationen, Institutionen oder Unternehmen – einschließlich, aber nicht beschränkt auf „Hans Müller“, digitale Terminassistenten, Gesundheitssystemakteure und vermeintlich intelligente Software – sind frei erfunden.

Eine Übereinstimmung mit realen Personen, lebend oder hervorragend ausgelastet, ist zufällig und nicht beabsichtigt. Sollten Leserinnen oder Leser Ähnlichkeiten zu realen Abläufen, Erfahrungen oder Systemen erkennen, liegt dies ausschließlich daran, dass die Realität gelegentlich dichter an der Satire arbeitet als einem lieb sein kann.

Dieser Text erhebt keinen Anspruch auf Abbildung realer Vorgänge – nur auf die Darstellung eines möglichen Szenarios, das in einer idealen Welt selbstverständlich völlig absurd wäre.

PS: Viele Menschen schaffen es gar nicht mehr bis zu diesem Punkt. Nicht, weil sie keinen Termin brauchen ‑ sondern weil ihnen unterwegs die Kraft ausgeht.

Dieser Text ist deshalb all denen gewidmet, die krank, erschöpft, älter, überfordert oder einfach nur müde vor dem Telefon sitzen und nicht auch noch mit einem KI-System diskutieren können, das vorgibt zu helfen, aber vor allem eins tut: aussieben.

Es geht nicht darum, Fortschritt abzulehnen. Es geht darum, daran zu erinnern, dass Digitalisierung nicht nur für Praxen, Anbieter oder Softwarehersteller funktionieren darf ‑ sondern für echte Menschen. Denn ein Gesundheitssystem, das zuerst die Maschine bedient und erst danach den Menschen, hat vergessen, wofür es existiert.

Und deshalb stellt sich eine Frage, die längst überfällig ist:

  • Wo sind eigentlich die Vertreterinnen und Vertreter in den Selbstverwaltungsorganen – in den Kassenärztlichen Vereinigungen, den Landesärztekammern, dem G-BA, den Verwaltungsräten der Krankenkassen, der KBV, der Kassenverbände und der Selbstverwaltungsräte –, die noch Rückgrat haben?
  • Wo sind die, die sich erinnern, dass sie nicht nur Buchhalter der Versorgung sind, sondern gewählte Verantwortungsträger?
  • Wo sind die, die nicht nur Kosten optimieren, Prozesse verwalten und Ökonomisierung feiern, sondern endlich wieder das tun, wofür diese Strukturen einmal geschaffen wurden: Menschen schützen. Versorgung sichern. Rechte verteidigen. Haltung zeigen.

Denn Digitalisierung darf niemals bedeuten, dass Menschlichkeit wegoptimiert wird. Sie muss bedeuten: Technik unterstützt Medizin – nicht ersetzt sie.