Alter ist Lebenschance

 

Selbstverwirklichung und Lebensfülle erwarten viele im Alter, wenn sie sich den Möglichkeiten stellen

Von Heiderose Gärtner-Schultz

Altern ist Chance

„»Als Informatik-Ingenieur hatte ich eine wichtige Rolle in meiner Firma, ohne mich lief gar nichts“, so berichtete mir ein 66-jähriger Mann. Bedingt durch eine Krankheit nahm er eine Vorruhestandsregelung in Anspruch und stürzte aus einem 10-Stunden-Tag, geprägt von Berufsarbeit, in die Leere. „Das Feriengefühl war bald vorbei“, klagte er, „wenn man bisher kaum Zeit für sich und irgendwelche Hobbys hatte, ist das nicht so einfach.“ Wie es der Zufall wollte, wurde er eines Tages beim Kirchencafé nach dem Gottesdienst angesprochen, ob er nicht Interesse hätte, sich im Hospizverein zu engagieren. Er zögerte zunächst und half dann dabei, wie es seiner Ausbildung entsprach, die Kasse zu führen. Zudem weckte dieses Engagement sein Interesse an der inhaltlichen Arbeit des Vereins, und er machte eine Fortbildung zum Hospizbegleiter. „In dieser Arbeit gehe ich auf“, flüsterte er mir strahlend zu, „die Kasse kann jemand anders machen!“

Älter zu werden, in die Nach-Berufs-Lebensphase einzutreten, bedeutet, Chancen zur Selbstverwirklichung zu erhalten. Das machen zu können und das tun zu dürfen, was man wirklich, eigentlich von innen heraus tun will, ohne abhängig zu sein, weil man den Lebensunterhalt damit verdienen muss, ist die Chance dieser Lebenszeit. Um diese Alterschancen ergreifen zu können, ist ein anderes Altersbild nötig, als es in vielen Bereichen vorherrscht. Altern wird vielfach defizitär dargestellt, beispielsweise dadurch, dass Werbespots entsprechende Mittel zum Ausgleich der angeblichen Alterseinbußen anbieten.

Altersdeutungen

Alter bedeutet Verfall

Was bedeutet Altern? Es sind die Deutungen, die dieser Lebensphase gegeben werden, die das Leben beschwerlich oder angenehm machen können.

Der Schriftsteller Jean Améry, 1912 in Wien geboren, starb 1978 durch Suizid. Für ihn war das Altern ein Feind, der ihn angreift. Gnadenlos wird von Améry der Verfall des Körpers nachgezeichnet: „Wir mögen dem Spiegel ausweichen. Wir können aber nicht verhindern, dass wir unsere Hände sehen, an denen die Adern hervortreten, unseren Bauch, der schlaff und faltig wird, unsere Füße, deren Zehennägel trotz aller Pedikürkünste verdicken und rissig wurden (…) Er wird Hülle – das Wort von der ›sterblichen Hülle‹ drängt wohl jedem Alternden sich auf, der seinem leiblichen Geschehen nachdenkt“ (Améry 1968/1997, S. 45 f.). Améry hat den körperlichen Verfall drastisch beschrieben und seine Antwort darauf war der Suizid.

Altern: Es kommt etwas Neues

Eine andere Haltung gegenüber dem Alter spiegelt sich bei Midas Dekkers: „Menschen, die jung bleiben wollen, verlängern ihr Leben nicht, sie verkürzen es (…) Es ist, als wollte man nach der Pause nicht mehr in den Theatersaal zurück, weil man fürchtet, das Stück könne zu Ende gehen. Aber das Zu-Ende-Gehen ist nun einmal das Wesentliche an einem Theaterstück, Film oder Roman (…) Wie kann einen etwas interessieren, wenn man nicht auf den Ausgang neugierig ist?“ (Dekkers 1999, S. 280). Eine wichtige Lebensphase beginnt mit dem Altern, sie ist spannend und erfüllend.

Altern als Konzentration

Der verstorbene Bonner Neurophysiologe Detlef B. Linke, Mitglied der Nationalen Akademie für Ethik und Medizin, plädierte für eine positive Interpretation der Veränderungen, die sich im Alter abzeichnen und durch bildgebende Verfahren im Gehirn sichtbar zu machen sind. „Dennoch meinen wir, dass die biologischen Daten zum Alterungsprozess nicht negativ gewertet werden müssen, sondern durch Einbeziehung weiterer Perspektiven einen positiv ausgerichteten Vorgang erkennen lassen, den wir als Fokussierung bezeichnen möchten“ (Linke 1991, S. 27). Diese Veränderungen stellen einen positiven Vorgang im Sinne einer Fokussierung auf den wesentlichen Kern und die wichtigsten Aspekte einer Persönlichkeit dar. Alterungsvorgänge werden demnach als Zuspitzung auf den Wesenskern verstanden.

Alter als Vollendung

Viktor E. Frankl, der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, war Arzt und Psychotherapeut. Er entwickelte eine andere Sicht auf das Altern und die Vergänglichkeit. Er legte den Menschen nicht auf eine psychologische Theorie fest. Vielmehr bezog sein logotherapeutisches Menschenbild den Geist als anthropologische Grundkonstante in die Überlegung vom Menschsein mit ein. Er lenkte den Blick darauf, dass nichts vom Gewesenen verloren ist, sondern alles aufgehoben ist, das heißt, es bleibt ein Teil des Lebens. Der Tod vollendet ein Menschenleben. Der älter werdende Mensch kann seine Vergangenheit als kostbares Gut annehmen, denn die Vergangenheit ist etwas Unverlierbares. Diese Einstellung ruft die besondere Verantwortung für die Gegenwart hervor.

Alter kann die längste Lebensphase eines Menschen sein: In der heutigen Zeit kann diese vom 65. Lebensjahr bis weit über 90 Jahre gehen. Sie kann oft durch gute medizinische Betreuung im Alter in guter Gesundheit verbracht werden.

Dr. Heiderose Gärtner-Schultz ist Mitglied im Redaktionsteam von proprium | sinn schaffen – horizonte öffnen.
Der Beitrag erschien in Heft 1/2021 (Thema: Was alle werden wollen, aber niemand sein will – alt!) der Zeitschrift Leidfaden.