Anbetung des Digitalen

 

Ein Essay von Werner Thiede

Digitale Technologien zeitigen schädliche Veränderungen struktureller Art – und zwar nicht nur an den Oberflächen und Fassaden unseres Lebens, sondern auch im Alltag und im Wirtschaftsleben. Diese Entmachtungsvorgänge werden sich in der Zukunft stärker negativ auswirken als wir es im Moment sehen oder uns vorstellen können. Mittlerweile haben sich digitale Weltmonopole gebildet, die gerade erst am Anfang ihrer Entwicklung stehen; in ihrer Tätigkeit werden sie immer radikaler werden.


Die anhaltende Faszinationskraft der digitalen Transformation ist offenkundig. Immer mehr wird aber auch ihre religiöse oder pseudoreligiöse Dimension deutlich. Das kommt in Büchern wie beispielsweise „Die Anbetung“ von Marie-Luise Wolff oder „Google Unser“ von Christian Hoffmeister zum Ausdruck. Ich selbst habe bereits 2013 im Untertitel meines Buches „Die digitalisierte Freiheit“ von einer „technokratischen Ersatzreligion“ gesprochen; ansonsten scheint man diese Problematik in den Kirchen zunächst noch ziemlich wenig bemerkt zu haben..

Wolff erklärt als Vorstandsvorsitzende eines großen deutschen Energieversorgers in öffentlicher Hand, ihre Haltung zum Digitalen habe sich im vergangenen Jahrzehnt verändert – insbesondere nach Besuchen im Silicon Valley, in China und in Südkorea. Sie verdamme weder die Digitalisierung als solche, der sie zunächst geradezu reformatorische Energie für die Wirtschaft zugetraut habe. Doch mit der Zeit hätten sich im Digitalen gravierende Fehlentwicklungen Bahn gebrochen – in der digitalen Wirtschaft genauso wie bei den Nutzer-Anwendungen. Diese unguten Entwicklungen seien noch nicht im allgemeinen Bewusstsein angekommen – dazu würden die neuen Technologien immer noch zu sehr bewundert.

Diesen Eindruck hat man auch, wenn man die einstigen Programme der für den Deutschen Bundestag kandidierenden Parteien analysiert. Fast ausnahmslos bewundern sie das Digitale und setzen auf die großartigen Chancen von High-Tech, ohne die damit verbundenen Risiken angemes­sen mit in den Blick zu nehmen. Wählerinnen und Wähler hatten 2021 in dieser Hinsicht eigentlich keine Wahl.

Wolff betont in ihrem klugen Buch, die neuartigen Technologien hätten „schädliche Veränderungen struktureller Art zur Folge“ – und zwar nicht nur an den Oberflächen und Fassaden unseres Lebens, sondern auch im Alltag und im Wirtschaftsleben: „Diese Entmachtungsvorgänge werden sich in der Zukunft stärker negativ auswirken als wir es im Moment sehen oder uns vorstellen können.“ Deshalb spricht Wolff bilanzierend eine deutliche „Gewinnwarnung“ für das Digitale aus: „Wir dürfen vor der Digitalisierung nicht weiter in Anbetung erstarren.“ Mittlerweile hätten sich digitale Weltmonopole gebildet, die gerade erst am Anfang ihrer Entwicklung stünden: „In ihrer Tätigkeit werden sie immer radikaler werden, was für den europäischen Handels- und Dienstleistungssektor mit vernichtenden Folgen verbunden sein wird.“

Aber auch das Klima werde betroffen sein: „Digitale Geräte und ihre Dienstleistungen gehören heute zu den hauptsächlichen Strom- und Ressourcenverbrauchern der Welt. Rechenzentren benötigen doppelt so viel Energie wie die weltweite zivile Luftfahrt, mit stark steigender Tendenz.“ Zählen nicht in der Tat der für die digitalen Geräte erforderliche Kobalt- und Lithiumsabbau zu den CO2-intensivsten Förderarten der Welt? Als erfolgreiche Managerin weiß Wolff: „Auch die Datenhuberei der Digitalisierer sowie die gigantische Konsum- und Logistikmaschine, die in der Konzentration auf einen einzigen globalen Allesverkäufer mit algorithmischer Macht liegt, stellen stellen ein Klimarisiko dar.“

Immer noch viel zu wenig wird diese Seite der digitalen Transformation in der Öffentlichkeit wahrgenommen und debattiert – und zu schnell „smart“ entschärft, als könnte und würde die Digitalisierung selbst die von ihr mit erzeugten ökologischen Probleme bewältigen. Der Zeit­geist begünstigt solche Vernebelung. Wolff benennt eine einleuchtende Ursache dafür: „Die Erhebung der Digitalisierung zu einer Art Ideologie, die wir uns von den Digitalkonzernen haben einreden lassen, ist ein Grund für unsere Passivität.“ Diese „Superideologie“ hängt für sie zusammen mit einem äußerst aggressiven, von privat gemanagten Fonds ausgehenden Finanzkapitalismus, der längst Teile der Welt dominiert. Von einer „Ideologie“ spricht des Öfteren auch der Digitalisierungsexperte Hoffmeister; er resümiert: „Ein geschlossenes religiöse System ist etabliert, das sich wie ein virtuelles Gotteshaus um die Menschen schießt.“ Er nennt die Doppelzüngigkeit und Doppelmoral der Digitalkonzerne beim Namen. Auch laut Wolff gilt es, die systemimmanente Unehrlichkeit in der Digitalisierungswelt wahrzunehmen. Meint nicht etwa der gängige Begriff des Smarten beziehungsweise der Smartness bei näherer Betrachtung eine Kombination aus Intelligenz und Cleverness, ja „eine Schläue, mit der man jemand gerne auch mal über den Tisch zieht“?

Im Grunde geht es um digitale Ausbeutung auf verschiedenen Ebenen – erstaunlich, wie deut­lich das manche Bücher zur Digitalisierung mittlerweile sagen! Und noch erstaunlicher, dass trotz aller digitalisierungskritischen Literatur in Deutschland und international die digitale Transformation auf allen Ebenen energisch vorangetrieben wird! Smart home, smart traffic, Smart Metering und so fort – massenhaft fallen die Menschen der smarten Veränderung aller Dinge zum Opfer und merken dabei nicht einmal, dass mit alledem am Ende ihr Menschsein, ihre menschliche Existenz trans- und posthumanistisch zur Disposition gestellt wird. Das Denken wird oberflächlicher, das Hirn dementer, die Entscheidungen rascher, der Optimierungsdruck größer, die Privatheit poröser, das Individuum unfreier, das Leben bürokratischer… Mit Recht fordern Wolff und andere, es müssten strukturelle Wege gefunden werden, um die Massen­manipulation und „Fallenstellerei“ im Internet zu beenden. Aber an wen richten sich derlei Forderungen konkret? Wo haben Appelle dieser Art angesichts der so bestechenden Faszi­nationskraft der Technik und der Macht der Industrielobby überhaupt eine Chance auf Gehör? Und wann beleuchten Theologie und Kirche endlich gemäß ihrem Auftrag, die Geister zu unterscheiden, diese ideologische und pseudoreligiöse „Transformation“ unserer Gesellschaft wirklich kritisch?

Neuere Literatur:

2019: Christian Hoffmeister: Google Unser, Hamburg 2019

2020: Marie-Luise Wolff: Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung, Frankfurt a.M.

2020: Ulrich Hemel: Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss, Freiburg i.Br.

20212: Werner Thiede: Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, München

2021: Johannes Hoff: Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation, Freiburg i.Br. 2021

Prof. Dr. theol. habil. Werner Thiede ist apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.