Aufgeklärte Remythologisierung: Versuch einer Minimaltheologie

 

Ein Essay von Helmut Falkenstörfer

Es gibt ein populäres Verständnis, in dem Glaube an Gott und Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod eine Einheit sind. Das ist eine sehr ungenaue Verbindung. Denn Leben „nach“ dem Tod ist schon verquer gedacht. Denn Leben ist in der Zeit. Der Tod fällt aus der Zeit heraus, in das was man ohne eine Anschauung haben zu können Ewigkeit nennt. Diese Distanzierung wird in Theologie und Predigt selten zur Sprache gebracht, ist aber in eher dünnen Linien durchaus vorhanden.

Angefangen im Alten Testament beim Prediger Salomo, der in Kapitel 3, Vers 19-21 schreibt: “Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh; denn wie dieses stirbt, so stirbt auch er, aber sie haben alle einen Odem, und der Mensch hat nichts voraus vor dem Vieh, denn es ist alles eitel. Es führt alles an einen Ort. Es ist alles aus Staub geworden und wird wieder zu Staub.“ Ebenfalls im Alten Testament gibt es die schöne Wendung, jemand starb alt und lebenssatt. Wörtlich im Hebräischen: „satt an Tagen“.

Langeweile in der Ewigkeit

Und ganz prominent in der Gegenwart. Altpapst Benedict schrieb 2007 in seiner Enzyklika „SPES SALVI – durch Hoffnung gerettet“ voll Verständnis für die Vorstellungen und Wünsche des modernen Menschen: aber da stehe nun die Frage auf: „Wollen wir das eigentlich ‑ ewig leben? Vielleicht wollen viele Menschen den Glauben einfach deshalb nicht, weil ihnen das ewige Leben nichts Erstrebenswertes zu sein scheint. Sie wollen gar nicht das ewige Leben, sondern dieses jetzige Leben, und der Glaube an das ewige Leben scheint da eher hinderlich zu sein. Ewig ‑ endlos ‑ weiterzuleben scheint eher Verdammnis als ein Geschenk zu sein.“ Benedikt schließt sich da an, und schreibt: „Aber immerfort und ohne Ende zu leben, das kann doch zuletzt nur langweilig und schließlich unerträglich sein.“ Das gilt auch für den Papst selbst. Aber er weiß die Lösung: Der Kirchenvater Ambrosius habe Ähnliches gedacht und dann hinzugefügt: Unsterblichkeit wäre mehr Last als Gabe ‑ wenn nicht die Gnade hineinleuchten würde.“

Helmut Falkenstörfer ist Mitglied im Redaktionsteam von proprium | sinn schaffen – horizonte öffnen.

Die Gnade ‑ das kann nun alles oder nichts heißen. Man fühlt sich erinnert an einen Vers von Gottfried Benn in seinem Gedicht „Epilog 1949“, wo er von einem Spruch schreibt „der alles sagt, da er dir nichts verheißt“. Man könnte sagen, die Gnade, des zeitlichen Seins enthoben zu sein. Man könnte auch einfach sagen, die Gnade des Nichts. Die Gnade des Lebensfeierabends. Der traditionsschöne Spruch „Requiescat in pace – Er oder sie ruhe in Frieden“ kann so verstanden werden. Oder flapsig gesagt: Gottes Kind darf einschlafen, ohne wieder aufstehen zu müssen. Ernsthafter und schöner sagt das der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider (zitiert nach mündlicher Überlieferung): Gott könne nicht so grausam sein, einen endlich eingeschlafenen Kranken wieder aufzuwecken. Das hat eine lange theologische Tradition, die aber eher verborgen und unter der Decke mitläuft neben den populären Vorstellungen vom unendlichen Leben, die man glaubt oder eben nicht glaubt.

Um 1300 schrieb der Mystiker Eckart von Hochheim, genannt Meister Eckart: „Was kommt danach? Oft stelle ich mir vor, mein EGO werde sich alsdann in Gottes Ewigkeit verlieren, vielleicht sogar auflösen. Was immer zu Gott kommet, entfällt sich selbst.“

Wieder alles offen. Und das an Gräbern gern gesprochene „Gott wird dich auferwecken am Jüngsten Tage“ erscheint dagegen krude und wenig geeignet zur Aufnahme bildhafter symbolischer Wahrheit. Man mag annehmen oder doch wenigstens hoffen, dass die meisten Trauerpredigten sensibler sind und offener für das Unaussprechliche.

Der Schweizer Theologe und Dichter Kurt Marti hat vor etwa zehn Jahren eine Sammlung von Aphorismen und Gedichten veröffentlicht mit dem Titel „Heilige Vergänglichkeit“.

Das bezieht sich auf folgenden Text: „Erwünscht wäre im Alter wahrscheinlich: Heitere Resignation. Noch besser ist allerdings – womöglich dankbare Bejahung unserer Vergänglichkeit. Sie ist vom Schöpfer gewollt und deshalb Heilige Vergänglichkeit.“

All das, was Benedict, Eckart, Marti und viele andere sagen und noch viele mehr denken entwirft nicht eine Zukunft jenseits unserer Zeitlichkeit ‑ was ja auch ein Widerspruch in sich selbst wäre ‑, sondern wirft, wenn man so will platonischen Glanz über unser Leben in der Zeit. Oder, mit Genesis 1, 27 „Gott schuf den Menschen als sein Bild“.

Und mehr: Es entlastet unsere Vorstellung von Gott von einer Zukünftigkeit, die es außerhalb der Zeit nicht gibt und nicht geben kann. Es zieht Gott in die Gegenwart.



 

Das heißt in die Welt des Ethischen und des Ästhetischen. Im Ethischen hat er die Gestalt von Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz, Fairness, Rücksicht und eben allem, was unter das große Dach der Nächstenliebe gelegt werden kann. Dazu gehört auch ganz vorn die Vernunft, die Hegel in der Vorrede zur „Philosophie des Rechts“ „die Rose im Kreuze der Gegenwart“ nennt, deren der Mensch sich erfreuen solle. Er kann sich ihrer erfreuen, indem er sie zum Guten nutzt: widerstreitende Interessen auf gerechtem Boden zusammenzubringen zum einen, und die Religion vor den inhärenten Gefahren der Borniertheit einerseits und des Fanatismus andererseits zu schützen. Die Religion kann vor der Vernunft fremd und anders erscheinen. Niemals aber sollte sie lächerlich wirken. Aber: Die Vernunft schützt die Religion vor Obskurantismus und die Religion die Vernunft davor, zum Instrument beliebiger Zwecke zu werden.

Religion als Kunst

Das Ästhetische leuchtet in Bildern und Geschichten. Es lebt in dem, was wir Mythos nennen und über das wir seit 80 Jahren in Rudolf Bultmanns Programm der Entmythologisierung hinauswollen. Man kann aber auch zum Mythos zurückkehren, ihn mit aufgeklärtem Blick neu gewinnen. Ihn so nehmen wie wir es bei den griechischen Mythen seit langem tun, sozusagen eine aufgeklärte Remythologisierung betreiben. Der Mythos hat eigene ontologische Qualität und ist der Kunst nah. Wie die Religionen überhaupt in Bild, Musik, Architektur sowie im Islam in der Kalligraphie. In großen Worten der Bibel wie „In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ im 16. Kapitel des Johannesevangeliums. Oder bei Paulus im 12. Kapitel des 2. Briefes nach Korinth: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Oder, ganz anders in Johannes 8: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Hier fallen Kunst und Religion einfach zusammen.

Der russische Ingenieur und Theologe Pawel Florowsky, verschwunden in Stalins GULAG, verglich die orthodoxe Liturgie mit der abstrakten Kunst. Beide stellen nichts dar, sondern sagen sich selbst. In ganz anderem Zusammenhang schreibt Gottfried Benn in seinem Essay “Pallas“ Ähnliches: „Es gelten nur die Statuen, die Friese, der Schild des Achill, Diese sind ohne Ideen, sagen nur sich selbst und sind vollendet,“ Ein älterer Theologe der historisch-kritischen Schule sagte mir, jenseits aller Theologie seien ihm heute die großen Worte der Bibel wichtig. Eben die Bilder, die sich selbst sagen. Denn auch Worte können Bilder sein.

Die historisch-kritische Theologie kommt aus der Aufklärung und geht davon aus, dass alle Texte der Bibel ohne Vorbehalt auf ihre historische Wahrheit befragt werden können. Von der Schöpfungsgeschichte über die Sintflut, über den Durchzug der Israeliten durchs Schilfmeer, über das Weinwunder von Kana bis zur Auffahrt Jesu vom Ölberg in Jerusalem in eines der oberen Stockwerke des Himmels. Und sie geht weiter davon aus, dass die Wahrheit der Bibel und ihrer Teile nicht an deren Historizität hängt, sondern an der inneren Überzeugungskraft der Texte. An ihrer Kraft, Phantasie und Assoziation auszulösen. Davon lebt jede Predigt, die diesen Namen verdient. Für den westlich aufgeklärten Menschen ist die historisch-kritische Theologie eine Selbstverständlichkeit und eine Notwendigkeit. Der Theologe wie die Theologin will vor sich selbst und vor der Community der Aufgeklärten nicht als Dunkelmann oder Dunkelfrau dastehen, die oder der die Augen vor dem rational Offensichtlichen verschließt. Vor der Evolution und Kosmologie unter anderem.

Man kann aber die Erfahrung machen, dass der Menschen höchster Bildungsstufe, Professoren zum Beispiel, sehr erstaunt sind, wenn man ihnen sagt, dass die Kirche nicht auf einem wörtlichen Verständnis der Schöpfungsgeschichte besteht, um nur ein Beispiel zu nennen.

Andererseits sind nicht alle Christen westlich aufgeklärtem Denken verpflichtet. Kreationisten, konservative Kreise aller Konfessionen, Orthodoxe Kirchen und schon gar nicht die Kirchen in Afrika. Yonas Deressa, Leiter des Theologischen College der lutherischen Mekane Yesus Kirche in Addis Abeba sagte mir in einem Interview: “Western Historical Critical Theology is not relevant to our situation to a great extent. We have not reached the stage where we discuss critical positions in theology. For Europeans and Americans. I believe this discussion is a luxury, while here our priority is to get the plain gospel to the believers and we have not finished with that.“

Ein Luxus für den Westen?

Für den der Aufklärung verpflichteten Westler ist sie kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit (siehe Dunkelfrauen und Dunkelmänner). Sie ist Überwindung des „falschen Ärgernisses“ (ein Ausdruck von Rudolf Bultmann), das vom Christen verlangt, an die Faktizität von Ereignissen zu glauben, die nach heutigen Maßstäben so offenbar nicht passiert sein können. Im Gegensatz zum echten Ärgernis des Christentums, welches darin liegt, dem Menschen statt seiner alltäglichen Existenz eine eigentlichere Existenz mit entsprechender Würde und entsprechenden Aufgaben zuzusprechen.

Natürlich ist die historisch kritische Theologie nicht das Ziel. Sie ist ein  Zwischenschritt auf dem Weg zur Wahrheit des Mythos, und die ist eine andere als die des faktischen Geschehenseins, auch Historizität genannt.

Es gibt ein erhellendes Gedankenexperiment von Ernst Jünger: Hätte Pilatus Jesus als interessanten Außenseiter an seine Tafel geladen, anstatt ihn vor Gericht zu stellen – kein Mensch spräche mehr von ihm.

So aber gibt es den Leidensweg. Das Kreuz beglaubigt Lehre und Leben. Die Geschichte von der Auferstehung, was immer sich real dahinter verbirgt, beglaubigt das Kreuz und der Mythos von der Himmelfahrt gibt dem Ganzen mythische Dignität in der Einheit von Leiden, Würde und Überwindung.

Das Ganze ist durchdrungen und überwölbt vom Gedanken des Opfers. Neunmalgescheite sagen, Gott brauche doch kein Opfer, um zufrieden gestellt zu werden. Nein, das Höhere braucht natürlich kein Opfer. Der Mensch braucht das Opfer, um seine Schuld zu neutralisieren. Psychologisch gesagt: um Ich und Überich zu versöhnen. Das Opfer braucht aber ein Gegenüber. Das Opfer braucht einen Empfänger, und der heißt landläufig Gott. Sigmund Freud beleuchtet das von der Rückseite in einem Brief an den Schweizer Pfarrer Oskar Pfister. Am 15.11.1928 schreibt er: “Und nun stellen Sie sich vor, ich sage zu einem Kranken: Ich, der ordentliche Titularprofessor Sigmund Freud, vergebe ihnen ihre Sünden. Welche Blamage in meinem Falle!“

Der Rang der Vernunft

Aufhebung von Schuld bedarf des Mythos, und auch der Ritus ist hilfreich. Das Ethische und das Ästhetische wirken nebeneinander. Das Ethische liegt auf der Hand: Gebote, die Gleichnisse, die Bergpredigt, die Mahnungen der Briefe. Das Ästhetische kommt aus dem Mythos.

Weihnachtsgeschichte und Ostergeschichte berühren sich. Nicht so sehr die poetische Geschichte von der Geburt im Stall. Wohl aber das Bild vom Licht, das in der Finsternis scheint im Johannesevangelium. Es ist mythisch und zugleich Überschrift über die ganze Ethik. Es ist als Bild schön und eindrucksvoll. Zugleich fordert es auf, wirksam zu werden in der Erhellung der Welt.

Das Licht in der Finsternis ist die mythische Seite des Weihnachtsfestes, und mir fällt dann immer ein, wie falsch das auch in kirchlichen Kreisen zitierte Adorno-Dictum ist, dass es kein Richtiges im Falschen gebe. Richtiges gibt es nur im Falschen. Oder: Das Richtige ist immer vom Falschen umgeben und mit ihm konfrontiert. Im Mythos wie in der Geschichhte sind Licht und Finsternis ineinander verschlungen, sei es kämpfend oder in Ampassung. Adorno hat das auch gar nicht so umfassend gemeint wie es von Weltumstürzlern gern zitiert wird. Bei ihm findet es sich in einem kurzen Text in den „Minima Moralia“, der sich mit dem Wohnen befasst.

Große mythologische Bilder in Form von Sprache sind „Offenbarung“ und „Wort Gottes“. Im Gegenüber zum Hörer, sozusagen an ihrer Benutzeroberfläche, bezeichnen sie Wichtigkeit, Verbindlichkeit, Stiftung von Gemeinschaft. Ihr Gewicht entsteht im gegenüber von Hörer und Bild. Hier entsteht existentieller Bezug. Er besteht nicht im Nachdenken über die blanke Existenz Gottes. Da gibt es das Spiel der Argumente. Es gibt das ontologische Argument; es gibt das teleologische Argument aus dem Staunen über die Passgenauigkeit der Naturkonstanten; es gibt den Pantheismus, der Gott mit der Welt identifiziert und dem Panentheismus, der Gott von der Welt trennt, aber überall in ihr vermutet. So wie das Bewusstsein im Gehirn ist, aber dort nicht lokalisiert werden kann.

Man kann dies ein ganzes Stück weiterdenken. Er (oder sie oder es natürlich) ist nirgends lokalisierbar, aber doch unverkennbar wirksam. Und dass es eine wie auch immer zu benennende Wirksamkeit in der Natur und im Weltall gibt, ist offensichtlich. Es gibt die Naturgesetze, es gibt die Naturkonstanten, es gibt die Mathematik, nach deren Regeln sich selbst ferne Galaxien richten.

Aber was sagt uns das? Es ist ein Spiel, es macht Spaß, es ist faszinierend. Aber es betrifft uns nicht eigentlich. Das, was uns betrifft ist, die Vorderseite des Spiegels, ist das was uns unbedingt angeht, um eine Wendung des Theologen Paul Tillich zu gebrauchen.

Es sind die großen Bilder des Mythos und die einleuchtenden Worte einer vernünftigen Ethik. Diese sagen sich selbst und brauchen keine hinter ihnen stehende Autorität außer der der mythischen Bilder von Offenbarung oder Gottes Wort. Das ist natürlich auch in andren Zusammenhängen möglich, zum Beispiel im Judentum, im Islam oder bei den Zartoshti, wie die Gemeinde der altpersischen Religion des Zarathustra im Iran genannt wird und lebt. Religion hat viele Gestalten und kann in allen der Wahrheit näher oder ferner sein.

Die offene Seite

Für den Glanz der Bilder gibt es den sehr elementaren Begriff des Heiligen. Er korrespondiert mit der offenen Seite des Menschen jenseits von Rationalität und Emotionalität. Auf der letzten Seite seiner Philosophiegeschichte von 2018 bringt Jürgen Habermas diese offene Seite in Verbindung mit der Wahrnehmung des Seienden im Ganzen und seine Überschreitung: „Die säkulare Moderne hat sich mit guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein, solange sich dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert und damit als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes behauptet.“ Das Heilige sagt sich selbst und ist vollendet ohne Erläuterung.

Die Extreme berühren sich. Am Ende sehen die naive und die reflektierte Anschauung mit dem gleichen Blick auf die Mythen und Bilder. Sich auf diese Bilder einzulassen ist das, was man Glaube nennen kann.