Bildungspolitik – endlich aufgewacht?

 

Bildungsforscher des Ifo-Instituts haben das unmissverständliche Fazit gezogen, wonach es kein Bundesland gibt, „das auch nur annähernd gleiche Bildungschancen für alle Kinder erzielt“ beziehungsweise „dass die Ungleichheit der Bildungschancen (in allen Bundesländern) sehr stark ausgeprägt ist“. Neben der sozialen Herkunft der Kinder nennen die Forscher als zweite entscheidende Ursache für diese Realität die frühe Selektion auf ungleiche weiterführende Schulen. Aktuelle Entwicklungen in einigen Bundesländern zeigen restaurative Tendenzen; es findet eine Zurück-in-die fünziger-Jahre-Debatte statt, die den ohnehin bestehenden Selektionsdruck auf die Kinder und ihre Lehrenden weiter verschärfen wird.

Ein Essay von Frieder Bechberger-Derscheidt.

Dass sich Schule und Bildung in Krisenmodus befinden, ist fast eine Platitüde, der von kaum jemandem, der die Lage beobachtet oder mitten im Getümmel sich befindet, widersprochen wird. Es ist eine Krise auf allen Ebenen, bei den Kommunen, die ihre Schulen unterhalten müssen, ebenso bei den Bundesländern, die fürs Personal und die inhaltliche, curriculare Ausrichtung und Steuerung verantwortlich sind und die Anforderung der Eleven festlegen. Sie müssen sich zudem mit den Erwartungen wie auch der Kritik der vielfältigen und disparaten Interessenvertretungen stellen.

Es scheint jedoch, als habe die Politik verstanden, dass die Krise nicht mehr nur verwaltet werden kann. Grundlegende Maßnahmen sind nötig, endlich müssen Lösungen gefunden werden, die die Ursachen der Misere bekämpfen und nicht nur ihre Symptome. Lösungen müssen her, die breite Zustimmung erfahren, indem sie endlich längjährige Forderungen aus den Bildungseinrichtungen selbst wie aus der Gesellschaft erfüllen sollen. Die Meldung, dass sich Bund und Länder auf ein sogenanntes „Startchancenprogramm“ für zehn Jahre geeinigt haben und dafür 20 Milliarden Euro bereitstellen, lässt wegen der vermeintlich hohen Summe aufhorchen wie wegen der Tatsache, dass sich Bund und Länder darauf einigen konnten und die Finanzierung gemeinsam stemmen wollen.

Zehn Prozent der Schulen, rund 4.000, sollen in dieses Programm aufgenommen werden. Bemerkenswert auch die Schwerpunktsetzung auf die Grundschulen, die 60 Prozent der Mittel erhalten sollen. Insbesondere sollen Schulen „in herausfordernder Lage“ unterstützt werden. Denn inzwischen streitet kein Bildungspolitiker mehr ab, dass „die Bildungserfolge der Kinder und Jugendlichen in Deutschland […] noch immer zu stark von der sozialen Herkunft der Eltern abhängig (sind)“ (Pressemitteilung der Bundesregierung vom 1. August 2024).

Wir wissen: Der Weg zu dieser Erkenntnis war lang, empörend lang. Endlich zuzugeben, dass es das Schulsystem nicht schafft, die soziale Selektion auszugleichen, mindest aber abzuschwächen, war sicher, insbesondere für die Gralshüter des gegeliederten Schulsystem, nicht leicht. Insofern ist diese aktuelle Entscheidung trotz des ersten erfreulichen Blicks erheblich zu relativieren und lässt die vollmundige Selbstbelobigung der Bundesbildungsministerin, das Startchancenprogramm sei „damit das größte und langfristige Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“ (a.a.O.), in einem merkwürdigen Licht erscheinen. Denn das Ziel, ein gerechtes Bildungswesen zu schaffen, bleibt trotz dieses gut gemeinten Programms ein ferner Traum.

Die „Frankfurter Rundschau“ hat in ihrem Kommentar dazu vom 2. August 2024 mit der schlichten Frage und Feststellung, „und was ist mit den übrigen 90 Prozent der Schulen, die leer ausgehen? Das ganze Schulsystem braucht einen Gamechanger“, Schwäche und Defizit des Programms offen gelegt. In Rheinland-Pfalz sollen 200 Schulen (von rund 1.500) in das Programm aufgenommen werden, mal sehen, wie viel es letztlich werden.

Dem lärmenden Selbstlob für diese Maßnahme können wir leider wieder mal nicht ausweichen. Der Sprecher der Landesgruppe Rheinland-Pfalz im Bundestag, der parlamentarsiche Staatssekretär Thomas Hitschler aus der Südpfalz, lässt uns wissen, dass er das Starchancenprogramm als „Meilenstein für das sozialdemokratische Versprechen für mehr Bildungsgerechtigkeit“ ansieht. Dieser Hang, sich selbst auf die Schulter zu klopfen und dies mit unrealistischen Versprechungen zu verbinden, scheint zum unverzichtbaren und nervigen Repertoir gerade sozialdemokratischer Bildungspolitiker zu gehören. Denn auch sein Parteigenosse und bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Sven Teuber, deutet das Ergebnis der im Frühjahr veröffentlichten Studie des Ifo-Instituts „Ungleiche Bildungschancen: Ein Blick in die Bundesländer“ als besonders gutes Ergebnis für den Stand der Bildungsgerechtigkeit in Rheinland-Pfalz. Wir seien die „Besten im Westen“, tönt er, weil es laut dieser Studie hier etwas weniger ungerecht zugehe als in den Nachbarbundesländern.

Dabei haben die Bildungsforscher des Ifo-Instituts ein unmissverständliches Fazit gezogen, das auch ein Bildungspolitiker verstehen müsste, wonach es kein Bundesland gebe, „das auch nur annähernd gleiche Bildungschancen für alle Kinder erzielt“ beziehungsweise „dass die Ungleichheit der Bildungschancen (in allen Bundesländern) sehr stark ausgeprägt ist“. Die Forscher nennen auch, neben der sozialen Herkunft der Kinder, die zweite entscheidende Ursache für diese verfassungswidrige Realität, nämlich die frühe Selektion auf ungleiche weiterführende Schulen. Ebenso wie bei ihrem Befund reden sie auch hier nicht um den heißen Brei, sondern formulieren klar und verständlich, dass „Schulsysteme, in denen die Kinder erst später auf weiterführende Schulen aufgeteilt werden, systematisch eine höhere Chancengleichheit aufweisen“ ‑ offensichtlich leicht zu übersehende Mahnungen und Lösungsvorschläge, wenn man vom Selbstlob halb blind ist.

Es ist nicht nur im Sinne politischer Zielsetzungen schwer zu verkraften; denn seit Jahrzehnten weigert sich die Bildungspolitik auf allen Ebenen, die verfassungsgemäß richtigen Schlüsse aus all diesen Erkenntnissen zu ziehen und die immer wieder gleichlautenden Empfehlungen der Bildungswissenschaft umzusetzen. Stattdessen werden Pflaster verteilt wie das „Startchancenprogramm“, mit dem sicher einzelnen Schulen geholfen werden kann, das aber strukturell alles beim bestehenden Alten belässt, sodass dann die kleinsten Verbesserungen als überwältigende Fortschritte gefeiert werden müssen.

Doch nicht nur ein solcher Befund macht besorgt, sondern aktuelle Entwicklungen in einigen Bundesländern zeigen restaurative Tendenzen, von denen wir gehofft hatten, sie wären längst überwunden. Dort findet eine Zurück-in-die fünziger-Jahre-Debatte statt, die den ohnehin bestehenden Selektionsdruck auf die Kinder und ihre Lehrenden weiter verschärfen wird. An der empfindlichsten Stelle des Bildungssystems, dem viel zu frühen Übergang von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen, werden wieder mal die Schrauben angezogen. Im Grunde soll dort die elterliche Entscheidung über die Schullaufbahn ihrer Kinder, die ja überall in eine breite und grundlegende Beratung eingebettet war, nun wieder abgeschafft werden. Alle wissen, dass es sich bei diesem Übergang „um einen selektiven Eingriff in die Schullaufbahn von zehnjährigen Kindern handelt, der in dieser Form und mit diesen Konsequenzen, nämlich einer nur schwer korrigierbaren Vorfestlegung in deren gesamten Bildungsverlauf, vergleichbar in einem anderen Land kaum zu finden ist“ (Eiko Jürgens , Susanne Miller (Hg.): Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule, 2013, S. 12).

Wir wissen ebenso, wie fragil und unzuverlässig die Grundschulempfehlung ist, gleichgültig wie sie letztlich ausgestaltet wird. Die Empfehlung wäre dann nicht zu kritisieren, wenn sie prognosesicher wäre und wenn sie keine Auswirkung auf die soziale Gruppierung von Schüler*innen hätte. Beiden Anforderung genügt die Empfehlung aber nicht, wie empirisch seit Jahrzehnten belegt ist. Beiden Anforderungen kann sie per se nicht genügen, da niemand die zukünftige Entwicklung von Kindern vorhersagen kann. Oder wie der weltbekannte Bildunsgforscher John Hattie ironisch unter enderem diese Maßnahme im deutschen Schulsystem eiordnete: „Ich bin übrigens auch erstaunt darüber, dass das deutsche System zu wissen glaubt, was ein elf- oder zwölfjähriger Schüler im Alter von 30 Jahren können wird, und ihn entsprechend einer Schulart zuteilt“ und dann sehr ernsthaft ergänzt, er sei bestürzt darüber, „wie unglaublich viel Erfolg verloren geht, in dem man Kindern einen Stempel verpasst“ (Augsburger Allgemeine vom 6. Mai 2024).

Als kleine Linderung dieser Misere wurde in Rheinland-Pfalz die elterliche Expertise in diese Entscheidung endlich  miteinbezogen und die verbindliche Grundschulempfehlung 1992 aufgehoben. Auf die Empfehlung wurde zwar nicht verzichtet, aber sie wurde dadurch entschärft und demokratisiert. Die Eltern sollten das letzte Wort haben. Das damalige Bildungsministerium stützte sich bei dieser Entscheidung unter anderem auch auf die von Prof. Lothar Krecker 1991 vorgelegte Untersuchung „Prognose und Abschluss. Schullaufbahnen an der Integrierten Gesamtschule Kaiserslautern“, Mainz 1991). Diese Studie untersuchte die Schullaufbahnen der ersten acht Gesamtschuljahrgänge (1.821 Schüler*innen) und verglich sie mit der Grundschulempfehlung, damals noch Grundschulgutachten genannt. Krecker schreibt in seinem Resumee: „Die Analyse der durchschnittlichen Schullaufbahnen der ersten acht Eingangsjahrgänge der Integrierten Gesamtschule Kaiserslautern hat eindrucksvoll bestätigt, dass eine frühe Festlegung der Schülerkarriere wie zum Beispiel durch das (verbindliche) Grundschulgutachten die Bildungschancen und damit die potentiell erreichbaren Abschlussniveaus in nicht zu rechtfertigender Weise einschränkt. Die Offenheit der Gesamtschule zeigt, und das mehr oder weniger konstant über die verschiedenen Schülerjahrgänge, dass jede zweite Grundschulprognose „nur für die Hauptschule geeignet“ und die entsprechende Grundschuldurchschnittsnote mindestens in einen Realschulabschluss münden kann“ (S. 64), viele schafften sogar das Abitur. Das möglichst lange Offenhalten des Schulabschlusses – auch das zeigte diese Studie – reduzierte zudem die Bedeutung der sozialen Herkunft der Schüler*innen. Wir könnten uns all dies, all die Studien, Verrenkungen und Fehlurteile am Ende der Grundschule ersparen, wenn Kinder, wie in den meisten anderen Ländern, länger gemeinsam miteinander lernen dürften!

Trotz dieser Erkenntnisse – und das war ja bereits damals nicht die erste Studie zu dieser Thematik – malten die Konservativen und ihre Verbände den Untergang des Bildungssystems an die Wand. Wir wissen, dass diese Befürchtungen nicht eingetreten sind. Dennoch werden sie nicht müde, dieses Steuerungsinstrument wieder zu verschärfen und wollen, so in Baden-Württemberg, wie oben geschildert, die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung wieder einführen, in Nordrhein-Westfalen haben sie es bereits durchgesetzt. Hauptsächlich wird dieser Schritt zurück damit begründet, dass zu viele Jugendliche Abitur machten, wo doch „Deutschland Fachkräfte (braucht), nicht nur Akademiker“. Es sei „Zeit, die Schüler besser zu verteilen“, schreibt Antje Hanisch dazu in einem Kommentar in der „Rheinpfalz am Sonntag, vom 22. Juni 2024 höchst zustimmend zu den Plänen im Nachbarland. Es spiegelt sich auch hier der restaurative Kurs wieder, den auch die vermeintlich seriöse Presse anheizt, der nicht erst jetzt bundesweit die bildungspolitische Diskussion bestimmt und das verfassungsgemäße Ziel, Bildungsgerechtigkeit anzustreben, bewusst in Frage stellt.

Dazu gehört auch das Trommelfeuer der Kräfte, die Inklusion, soweit sie denn überhaupt in unserem Bildungssystem realsiert wird, rückgängig zu machen und das Förderschulsystem mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Dass in diesen Tenor nun auch der rheinland-pfälzische Landeselternbeirat mit seiner gedankenlosen Petition gegen die neue „Schulordnung für den inklusiven Unterricht“ einstimmt, belegt nur, wie weit dieser Bildungs-Rollback ins Innerste des Bildungssystems eingedrungen ist. Die vornehmste Aufgabe der Elternvertretung sollte doch sein, sich für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit aller Kinder einzusetzen und sich nicht, wie in diesem Falle, der Umsetzung der UN-Behindertenkonvention entgegegen zu stellen. Geschah es aus Gedankenschwäche, die Interessen aller Schüler*innenaus aufs Spiel zu setzen oder aus dem Gefühl heraus, sich der aggressiven und populistischen Ablehung des inklusiven Unterrichts, wie zum Beispiel von der AfD, aber auch von Teilen der CDU gefordert, anzuschließen? Wer gut bei mentalen Kräften ist, kann im Porgramm der AfD nachlesen, was das gesamte Bildungssystem zu erwarten hat, sollte diese Partei in irgendeiner Landesregierung entsprechenden Einfluss erlangen.

Wir alle, die wir eine menschenwürdige Schule wollen, eine Schule, die wirklich alle Kinder auf ihrem Bildungsweg fördert und auf Ausgrenzung verzichtet, haben in den letzten Jahren offensichtlich nicht entschieden genug gegen diesen Rollback gekämpft, diese rückwärtsgewandten Tendenzen nicht ernst genug genommen, zu wenig widersprochen, zu selten die Schläfrigkeit und Mutlosigkeit der demokratischen Parteien angeprangert und Fehlentwicklungen hingenommen, vielleicht gegrummelt, gemault, letztlich aber stillgehalten. Konservative und Reaktionäre sind laut und wenig zurückhaltend, die Gesellschaft mit ihren Forderungen zu konfrontieren. Ich bin sicher, die GEW und der größere Teil der Zivilgesellschaft hat bessere Zielsetzungen als die ausgrenzenden und egoistischen Kräfte der Konservativen und Rechten. Wir dürfen und müssen sie selbstbewusster vortragen, hartnäckiger und auch konfrontativer, um den Lernprozess der demokratischen Kräfte vielleicht doch noch anstoßen zu können.

Frieder Bechberger-Derscheidt ist Ehrenvorsitzender der Unabhängigen rheinland-pfälzischen Initiative „EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e.V.“