Brot für die Welt veröffentlicht sechsten „Atlas der Zivilgesellschaft“: Unterdrückung der Zivilgesellschaft nimmt weltweit zu

 

2022 war ein Jahr des Protests: Im Iran gingen Frauen auf die Straße, in Brasilien protestierten Indigene gegen die Abholzung ihrer Wälder, in vielen Ländern demonstrierten Menschen gegen Misswirtschaft. Um das Engagement der Zivilgesellschaft zu verhindern, bedienen sich Regierungen unterschiedlicher Instrumente – von Einschüchterungen, Gewalt und Festnahmen bis zu Zensur, Desinformationen und restriktiven Gesetzen. Wer sich für Menschen einsetzt, die Schutz und Unterstützung am dringendsten brauchen, wird kriminalisiert, an der Arbeit gehindert oder bedroht; in der EU blockieren die Regierungen die Seenotrettung im Mittelmeer massiv.

(Berlin, 3. Mai 2023) Mehr als ein Viertel der Menschen weltweit lebt in Ländern mit geschlossenen zivilgesellschaftlichen Handlungsräumen. Das bedeutet: Regierungskritik wird schwer bestraft, Pressefreiheit existiert nicht. Zu diesem Ergebnis kommt der sechste Atlas der Zivilgesellschaft, den Brot für die Welt heute in Berlin vorgestellt hat. Zu diesen Ländern gehört nun auch Russland, wo sich die Lage seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine weiter verschlechtert hat. Kritische Berichterstattung ist nicht mehr möglich, unabhängige Medien wurden zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt. Der Atlas der Zivilgesellschaft stützt sich auf Erhebungen des weltweiten Netzwerks CIVICUS und stuft die weltweiten Freiheitsrechte in fünf Kategorien von „offen“ bis „geschlossen“ ein. Nur drei Prozent der Weltbevölkerung leben demnach in Staaten, die zivilgesellschaftliche Grundfreiheiten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantieren.

„Das vergangene Jahr war ein Jahr des Protests. Im Iran gingen Frauen auf die Straße, in Brasilien protestierten Indigene gegen die Abholzung ihrer Wälder. In vielen Ländern demonstrierten Menschen gegen Misswirtschaft“, sagt Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt. „Die Reaktion des Staates war in vielen Fällen gleich: Polizei und Militär schlugen auf Demonstranten und Journalistinnen ein. Menschen wurden verhaftet und sogar getötet.“ Um das Engagement der Zivilgesellschaft zu verhindern, bedienen sich Regierungen unterschiedlicher Instrumente – von Einschüchterungen, Gewalt und Festnahmen bis zu Zensur, Desinformationen und restriktiven Gesetzen. Ziel ist es, Organisationen in ihrer Arbeit zu behindern oder sie finanziell auszutrocknen. Der Atlas der Zivilgesellschaft zeigt, welchen konkreten Repressionen die Menschen ausgesetzt sind.

Der Fokus liegt dieses Jahr auf migrant defenders – Menschen, die sich für die Rechte von Geflüchteten und Migrant:innen einsetzen. „Wer sich für Menschen einsetzt, die Schutz und Unterstützung am dringendsten brauchen, wird kriminalisiert, an der Arbeit gehindert oder bedroht“, sagt Dagmar Pruin. Mit Blick auf die EU ergänzt sie: „Die Regierungen blockieren die Seenotrettung im Mittelmeer massiv. Der Tod dient als Abschreckung. Das ist ein zynisches Spiel mit Menschenleben.“ Nach Recherchen von Brot für die Welt wurden seit 2016 Rettungsschiffe insgesamt über 1.000 Wochen blockiert – das entspricht fast einem Drittel der möglichen Einsatzwochen.

In Griechenland schränkt der Staat die Arbeit von migrant defenders immer weiter ein– etwa durch willkürliche und unverhältnismäßige Auflagen bei der Registrierung von NGO-Mitarbeitenden. Mit Blick auf Repressionen gegen Geflüchtete und ihre Rechtsbeistände sagt Alexandros Chrysomallos, Rechtsanwalt bei Equal Rights Beyond Borders und Partner von Brot für die Welt: „Der Staat verletzt die Grundrechte von Geflüchteten massiv – und das kann uns, ihren Anwält:innen, ebenso passieren.“

Hintergrund

Die Daten für den Atlas der Zivilgesellschaft basieren auf Erhebungen von CIVICUS, einem weltweiten Netzwerk für bürgerschaftliches Engagement, und der Auswertung verschiedener Quellen und Indizes, etwa zur Rede- oder Versammlungsfreiheit.

CIVICUS unterteilt die Freiheitsgrade einer Gesellschaft in fünf Kategorien: offen, beeinträchtigt, beschränkt, unterdrückt und geschlossen:

  • Die Daten belegen, dass der Handlungsraum der Zivilgesellschaft nur in 38 Staaten „offen“ ist (Atlas 2022: 39), darunter Deutschland.
  • In 42 Staaten (Atlas 2022: 41) ist der Handlungsraum „beeinträchtigt“ – das gilt etwa für Frankreich und die USA.
  • 40 Länder (2022: 43) „beschränken“ den zivilgesellschaftlichen Handlungsraum, darunter seit diesem Jahr auch Großbritannien und Griechenland.
  • 50 Staaten „unterdrücken“ die Zivilgesellschaft (2022: 48).
  • „Geschlossen“ ist der Raum für zivilgesellschaftliche Akteure in 26 Staaten (2022: 25), darunter nun auch Russland, Afghanistan und Myanmar.

Insgesamt gibt es 10 Aufsteiger und 15 Absteiger. Zu den Ländern, die sich nun in einer schlechteren Kategorie wiederfinden, zählen neben Großbritannien und Griechenland auch Russland und Myanmar. Verbessert haben sich etwa die USA und Chile. In den USA wurden die Gewerkschaften gestärkt, in Chile arbeitet Präsident Gabriel Boric unter Beteiligung der Zivilgesellschaft an einer neuen Verfassung.

Dagmar Pruin ist Präsidentin von Brot für die Welt.

Der sechste „Atlas der Zivilgesellschaft“ steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.