Der Angriff auf Salman Rushdie zeigt, dass Gesellschaften zwischen Religion, Kunst und Wissenschaft differenzieren müssen

 

Es ist eine gesellschaftliche Errungenschaft, dass literarische und auch wissenschaftliche Texte nicht als religiöse Texte gelesen und beurteilt werden. Während Religion, Politik und Literatur im „globalen Norden“ weitgehend differenzierte Systeme darstellen, mobilisieren „Die satanischen Verse“ seit 1989 einen Protest, der die Systemdifferenzierung von Politik, Religion und Kunst nicht anerkennt.



(Münster, 16. August 2022) Der lebensbedrohliche Angriff auf den britischen Autor Salman Rushdie zeigt für die Literaturwissenschaftlerin Martina Wagner-Egelhaaf, wie gefährlich es ist, wenn Gesellschaften nicht zwischen Religion und Literatur differenzieren. „Es ist eine unerlässliche gesellschaftliche Errungenschaft, dass literarische und auch wissenschaftliche Texte nicht als religiöse Texte gelesen und beurteilt werden“, so die Wissenschaftlerin vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. Sie hat am Forschungsverbund das Verhältnis von Autor, Werk und Welt auch am Beispiel von Salman Rushdie erforscht und befasst sich aktuell mit Hass in der Literatur und Hass, der durch Literatur entsteht.

„Die ‚Satanischen Verse‘ sind ein hochkomplexes literarisches Werk, das in keiner Weise – wie bis heute noch von Rushdies Feinden behauptet wird – eine platte Beleidigung von Religion oder Hetze gegen Muslime darstellt“, sagt die Literaturwissenschaftlerin. Man müsse den postmodernen Roman von 1988 in seiner Vielstimmigkeit, Widersprüchlichkeit und Ironie würdigen. Klar sei aber auch: „Wenn religiöse Fanatiker unterstützt durch den iranischen Staat gegen ein literarisches Werk hetzen, als anstößig empfundene Passagen kontextlos zusammenstellen und bis heute eine Drohkulisse mobilisieren, sind Literatur, Literaturwissenschaft und -kritik machtlos.“

Differenzierung von Politik, Religion und Kunst

In der Literatur würden natürlich auch politische und religiöse Themen verhandelt, sie müsse Kritik, durchaus auch in provozierender Weise, üben dürfen, so Wagner-Egelhaaf. „Während aber Religion, Politik und Literatur im ‚globalen Norden‘ weitgehend differenzierte Systeme darstellen, mobilisieren ‚Die satanischen Verse‘ seit 1989 einen Protest, der die Systemdifferenzierung von Politik, Religion und Kunst nicht anerkennt.“ Der Skandal um die Veröffentlichung sei zu einem Politikum geworden in einer Zeit, als man an vielen Universitäten bei der Interpretation von Texten dem Autor und seinen Intentionen nur noch geringe Bedeutung zumaß. Auch durch die Reaktionen auf die „Satanischen Verse“ habe man in Europa in den 1990er Jahren wieder vermehrt über die wiederkehrende Macht von Religion diskutiert. „Die Diskurse über die ‚Rückkehr der Religion beziehungsweise der Götter‘ fallen zusammen mit der Rede von der Rückkehr der Bedeutung des Autors.“

Der Fall Salman Rushdie zeige, dass das sich das Wechselverhältnis von Autor und Text auch umkehren könne, und wie Literatur auf ihre Autoren zurückwirke: „Es ist erschreckend, dass nach vielen Jahren einer vermeintlichen Entspannung und Normalisierung von Salman Rushdies Alltag im Skandal der Fatwa ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde.“

Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf ist „Principal Investigator“ im Exzellenzcluster „Religion & Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster

Der Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“ der Universität Münster untersucht seit 2007 das komplexe Verhältnis von Religion und Politik quer durch die Epochen und Kulturen. Die 140 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern und 10 Ländern befassen sich in der Förderphase von 2019 bis 2025 besonders mit „Dynamiken von Tradition und Innovation“. In epochenübergreifenden Untersuchungen von der Antike bis heute analysieren sie Faktoren, die Religion zum Motor politischen und gesellschaftlichen Wandels machen. Das Augenmerk gilt vor allem dem Paradox, dass Religionen ihr Innovationspotential regelmäßig im Rückgriff auf ihre Traditionen entwickeln. Im Zentrum des Interesses stehen Europa und der Mittelmeerraum sowie deren Verflechtungen mit Vorderasien, Afrika, Nord- und Lateinamerika. Der Forschungsverbund ist der bundesweit größte dieser Art und unter den Exzellenzclustern in Deutschland einer der ältesten und der einzige zum Thema Religion. Das Fördervolumen von 2019 bis 2025 liegt bei 31 Millionen Euro.