Die Studie „Lehren aus der Pandemie. Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen sichern“ der Friedrich-Ebert-Stiftung

 

von Frieder Bechberger-Derscheidt

Eine Studie, die keine Anforderungen an die Politik stellt, ist im Grunde überflüssig. Eine Kommission, die sich im Auftrag einer sozialdemokratischen Stiftung in die Bildungsdebatte in Zeiten der Pandemie einmischt, muss entschiedene, im Wortsinne radikale Forderungen aufstellen, statt die politisch Verantwortlichen zurückhaltend (feige) erst gar nicht in die Pflicht nehmen zu wollen. „Chancengleichheit für alle sichern“ kann erst gelingen, wenn das Bildungssystem so reformiert wird, dass Chancengleichheit von allen tatsächlich auch zu erreichen ist – mit freundlichen Empfehlungen (auf die einzugehen sich nicht lohnt), die Pandemiefolgen für die Schwächsten in unserem System abzumildern, wird das nicht gelingen.



 

Die Autoren der „Einführung“ sagen im Grunde nur Richtiges, dennoch ist auch dieser Text, der versucht, die Bildungsnöte in der Pandemie in die gesamte Bildungsproblematik der Republik einzuordnen, letztlich ein typisch sozialdemokratisches Papier. Zutreffend sind folgende Aussagen:

  • „Diejenigen, die schon vor der Pandemie unter ungünstigen Bedingungen lernten, sind besonders benachteiligt.“ (S. 7)
  • „Aber Bildung darf kein Privileg sein. Es gilt, gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen zu sichern.“ (S. 7)
  • Es „ist Aufgabe des Bildungssystems und der einzelnen Schule“, allen „einen bestmöglichen Lern- und Bildungserfolg zu ermöglichen.“ (S. 7)
  • „Chancengleichheit ist ein zentrales Versprechen unserer freiheitlichdemokratischen Grundordnung, insbesondere des Bildungssystems.“ (S. 8)

Zutreffend auch diese Feststellungen, nachdem aufgelistet wurde, was sich seit der ersten PISA-Studie verbessert hat:

  • „Bildungsungleichheit (ist) auf Grund von sozialer Herkunft, Migrationshintergrund, Behinderung und Geschlecht empirisch belegt.“ (S. 8)
  • „Soziale Disparitäten werden von der Kita über die Grundschule bis zum Studium beziehungsweise zur Berufsausbildung nicht nur weitertransportiert, sondern können sich von Bildungsstufe zu Bildungsstufe verstärken.“ (S. 8)
  • „Insgesamt hat sich die Kopplung zwischen Merkmalen der sozialen Herkunft eines Heranwachsenden und verschiedener Bildungserfolgsindikatoren in der Grundschule und in den weiterführenden Schulen als äußerst stabil erwiesen.“ (S. 9)

Nach der Analyse hofft man auf wirkungsvolle Vorschläge zur Verbesserung der Lage. Die Kommission hat dazu „ konkrete, schulpraktisch relevante und umsetzbare Empfehlungen formuliert“, als zunächst „kurzfristige Strategie“, die „ein besonderes Augenmerk […] auf jene Kinder und Jugendlichen (legt), „die besonders benachteiligt sind.“ (S. 10)

Mittelfristig „erscheint“ jedoch „eine Gesamtstrategie erforderlich mit dem Ziel der „individuellen Förderung […]. Dabei sollten sowohl Prozess- als auch Strukturaspekte in den Blick genommen werden […] bis hin zum Aufbau unseres Schulsystems.“ (S. 10) Diese generelle Auseinandersetzung mit dem Schulsystem sieht die Kommission allerdings nicht als ihre Aufgabe an. Sie wolle „kein Gesamttableau für eine nach ihrer Ansicht erforderliche Reform des Schulsystems vor(legen)“, hält ihre Vorschläge aber für wichtig „im Rahmen einer solchen Gesamtstrategie.“ (S. 10)

Aus einer weitgehend zutreffenden Analyse leitet die Kommission fünf Empfehlungen ab, die allesamt andere lange vor ihr inhaltlich vergleichbar öffentlich zur Diskussion gestellt haben, also keinen Neuigkeitswert darstellen. Das gilt auch für das entsprechende Papier der „Initiative EINE Schule für ALLE“ vom Herbst vergangenen Jahres. Die Kommission spricht zwar die grundlegenden Probleme des Bildungssystems an, kann sich jedoch nur zu höchst vorsichtigen Äußerungen durchringen, so müssten beispielsweise „auch Strukturaspekte in den Blick genommen werden“ (S. 10) und neben anderen Bereichen auch der „Aufbau unseres Schulsystems“ (S. 10).

Im selben Atemzug wird aber die Politik, die ja vor allem ein solches „Gesamttableau“ anpacken müsste, gleich wieder entlastet; denn „Bildungspolitik allein wird dieses Problem nicht lösen können.“ (S. 10)

Eine Studie, die im Grunde keine Anforderungen an die Politik stellt, ist im Grunde überflüssig. Das ja zutreffend dargestellte Grundrechtsdefizit unseres Bildungssystems endlich anzugehen, muss im Rahmen eines „Gesamttableaus“ geschehen. Wo sonst? Dessen Ziel kann nur Chancengleichheit für alle sein. Dies grundgesetzkonform zu erreichen, ist selbstverständlich in erster Linie Aufgabe der Politik. Selbstredend soll sie dabei von gesellschaftlichen Kräften unterstützt werden, die dieses Ziel mittragen.

Da die Kommission das nicht verlangt, konnte sie ihrem selbstgesteckten Anspruch nicht gerecht werden. Eigentlich hat sie diesen Anspruch bereits mit der Überschrift der Studie aufgegeben. Die Kommission weiß, dass die Bildungsbenachteiligung für große Teile der Gesellschaft verfassungswidrig groß ist, wie sie ja selbst schreibt.

„Chancengleichheit für alle sichern“ kann aber erst gelingen, wenn das Bildungssystem so reformiert wird, dass Chancengleichheit von allen zu erreichen ist. Das wird mit freundlichen Empfehlungen (auf die einzugehen sich nicht lohnt), die Pandemiefolgen für die Schwächsten in unserem System abzumildern, nicht gelingen.

Eine Kommission, die im Auftrag einer sozialdemokratischen Stiftung sich in die Bildungsdebatte in Zeiten der Pandemie einmischt, müsste entschiedenere, im Wortsinne radikalere Forderungen aufstellen, statt zurückhaltend (feige?) die politisch Verantwortlichen erst gar nicht in die Pflicht nehmen zu wollen.

Die Studie wird der SPD gefallen, weil sie nicht ernsthaft gefordert wird, sie politisch vielmehr eher entlastet. Schade bei dieser Kommission, die so zusammengesetzt ist, dass man mehr hätte erwarten dürfen.

Ministerialdirigent i. R. Frieder Bechberger-Derscheidt war Vertreter von Rheinland-Pfalz im Schulausschuss der Kultusministerkonferenz (KMK) und Vorsitzender des Unterausschusses Lehrerbildung der Kultusministerkonferenz.
„Lehren aus der Pandemie: Gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendlichen sichern“ der Friedrich-Ebert-Stiftung steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.
Das Thesenpapier „Schule nach der Corona-Schließung“ der Unabhängigen rheinland-pfälzische Initiative EINE Schule für ALLE – länger gemeinsam lernen e. V. steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.