Jan Assmann: Nationalismen und Religion verschmelzen in autoritären Regimen

 

Der Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann stellt fest, es sei ein Irrglaube, dass die Moderne die Religion hinter sich gelassen habe. Mit der Säkularisierung verschwinde das Heilige nicht aus der Welt. Der Nationalismus sei keine Ersatzreligion, die sich an die Stelle der Religion setze, vielmehr suche er sich mit der Religion zu verbünden, ja zu verschmelzen, wie ein Blick auf Putins Russland, Erdogans Türkei, Modis Indien, Netanyahus Israel, Dudas Polen, Orbans Ungarn, sogar Trumps USA zeige.



 

(Münster, 3. Februar 2021) Nationalismus und Religion verbünden sich nach den Worten des Kulturwissenschaftlers Jan Assmann immer mehr in autoritär geführten Staaten weltweit. „Putins Russland, Erdogans Türkei, Modis Indien, Netanyahus Israel, Dudas Polen, Orbans Ungarn, sogar Trumps USA sind Beispiele dieser Tendenz in antidemokratischen, autoritären Regimen“, sagte der Ägyptologe am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. „Weil der Nationalismus im Grunde religiös ist, erliegt die traditionelle Religion solcher Indienstnahme.“ So sei es im Nationalsozialismus etwa der Strömung der „Deutschen Christen“ ergangen. In seinem Vortrag über Religion und Kultur vom Alten Ägypten bis heute führte Assmann aus: „Dem Nationalismus gilt die Nation als das Heiligste. Er ist keine Ersatzreligion, die sich, wie der Kommunismus, an die Stelle der Religion setzt. Im Gegenteil, er sucht sich mit ihr zu verbünden, ja zu verschmelzen.“

In modernen Gesellschaften stünden Religion und Staat in vielfachen Wechselbeziehungen, sagte Assmann. Dass die Moderne die Religion hinter sich gelassen habe, sei ein Irrglaube. „Mit der Säkularisierung verschwindet das Heilige nicht aus der Welt.“ Die Europäische Union (EU) trage ebenfalls religiöse Züge: „Auch die EU hat eine Mission, auch ihr ist etwas heilig, nämlich das zu verwirklichen, aus dessen Katastrophe sie hervorgegangen ist: Frieden, Freiheit und Menschenrechte“, sagte Assmann. „Auch sie beruht auf einem Bund: der europäischen Völker, die sich diesem Ziel verschworen haben; einer Verheißung: Frieden und Gerechtigkeit für alle, und einem Glauben: dem Glauben an den Menschen, seiner Fähigkeit zu globaler Solidarität und zur Einsicht, das verheißene Ziel erreichen zu müssen, um auf diesem Planeten überleben zu können.“ Assmann unterstrich, die Gegenwart kehre auf neuer Ebene zurück „zu den Ur-Themen der Religion: Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit.“

Mit Israel im sechsten Jahrhundert vor Christus erstmals Trennung von Religion und Kultur

Assmann erforscht seit Jahrzehnten das Verhältnis von Religion und Politik von antiken Kulturen bis zu neuzeitlichen Gesellschaften und hat die Arbeiten am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster maßgeblich geprägt. Im Vortrag „Religion und Kultur: Ägypten – Israel – Europa“ Anfang Februar 2021 beleuchtete Assmann den Wandel im Verhältnis von Religion und Kultur seit der Antike bis heute. Im Alten Ägypten war Religion demnach noch mit Kultur identisch. Religion sei allumfassend gewesen, so der Forscher, und mit dem ägyptischen Begriff „Ma’at“ wiederzugeben, der Kult, Recht und kosmische Ordnung umfasste. Ohne die Errungenschaften des Alten Ägypten seien auch Athen und Jerusalem – die griechisch-römische Antike und der abrahamitische Monotheismus – nicht denkbar, auf denen wiederum unsere heutige westliche Kultur beruhe. „Athen verdanken wir Philosophie, Wissenschaft und Demokratie, Jerusalem verdanken wir die monotheistisch-trinitarische Religion.“ Doch lange sei vergessen worden, wie sehr das Alte Ägypten, das Athen und Jerusalem zweitausend Jahre voranging, diese geprägt habe. Der Forscher legte Errungenschaften wie Staat und Schrifttheorie des pharaonischen Staates dar.

Eine neue Form von Religion, die zwischen Religion und Kultur unterschied und die die Kultur der Religion unterstellte, entstand nach den Worten von Jan Assmann mit Israel im 6. Jahrhundert vor Christus. „Diese neue Religionsform emanzipiert sich auch vom Staat. Sie unterscheidet zwischen Gott und Welt und führt den Begriff des Glaubens ein, der den Abstand zwischen Transzendenz und Immanenz überwindet.“ Das Christentum wiederum habe das „Zeitalter des Glaubens“ heraufgeführt, indem es die neue Religion allen Völkern zugänglich machte und durch rasche Ausbreitung die Alte Welt revolutionierte. Mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion sei ein Dualismus von weltlicher und geistlicher Macht entstanden, der auch im Mittelalter immer wieder zu Spannungen führte.

Bis in die Neuzeit sei die Emanzipation der Religion vom Staat bestimmend geblieben, so der Kulturwissenschaftler. „Der Rückschlag, die Emanzipation des Staates von der Religion, die Säkularisierung, setzte mit Renaissance und Reformation ein und ist bis heute nicht abgeschlossen.“ Das Heilige sei nicht aus der Welt verschwunden, es habe sich aber verlagert: in die Nation in Form von Nationalismus und Zivilreligion, in die Kunst in Form der Kunstreligion, für die etwa Beethoven stand, sowie in die Natur in Gestalt des Pantheismus, der zwischen Gott und Welt nicht unterscheidet.

Jan Assmann ist Ägyptologe, Religionswissenschaftler, Kulturwissenschaftler und Emeritus der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und im Wintersemester 2020/21 Hans-Blumenberg Gastprofessor am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster. Der Vortrag „Religion und Kultur: Ägypten – Israel – Europa“ von Jan Assmann kann auf der Homepage des Exzellenzclusters angesehen werden.
Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster
Der Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“ der Universität Münster untersucht seit 2007 das komplexe Verhältnis von Religion und Politik quer durch die Epochen und Kulturen. Die 140 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern und 10 Ländern befassen sich in der Förderphase von 2019 bis 2025 besonders mit „Dynamiken von Tradition und Innovation“. In epochenübergreifenden Untersuchungen von der Antike bis heute analysieren sie Faktoren, die Religion zum Motor politischen und gesellschaftlichen Wandels machen. Das Augenmerk gilt vor allem dem Paradox, dass Religionen ihr Innovationspotential regelmäßig im Rückgriff auf ihre Traditionen entwickeln. Die Forschenden konzentrieren sich auf die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam und ihre polytheistischen Vorläufer. Im Zentrum des Interesses stehen Europa und der Mittelmeerraum sowie deren Verflechtungen mit Vorderasien, Afrika, Nord- und Lateinamerika. Der Forschungsverbund ist der bundesweit größte dieser Art und unter den Exzellenzclustern in Deutschland einer der ältesten und der einzige zum Thema Religion. Das Fördervolumen von 2019 bis 2025 liegt bei 31 Millionen Euro.