Pandemie als Katalysator für bessere Zeiten?

 

Ein Essay von Frieder Bechberger-Derscheidt, 14. April 2021

Die Pandemie als Katalysator für bessere Zeiten? Viele hatten diese Hoffnung zu Beginn von Corona. Corona warf in allen gesellschaftlichen Bereichen ein grelles Licht auf die schon lange vor dieser Gesundheitskrise festgestellten Schwächen und Miseren. Ob in der Wirtschaft, die sich seit langem auf einen gewollten Niedriglohnsektor stützt, einem Pandemieherd ohne Beispiel, wie sich in den schon lange skandalösen Arbeitsbedingungen der Fleischindustrie beispielhaft zeigte. Oder in der Gesundheitspolitik, in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen, deren markwirtschaftlicher Auftrag fundamental dem Kernauftrag der Medizin widerspricht. Der in einer deutschen Klinik arbeitende Intensivmediziner Achim Kress schrie in der FR (10./11.4.2021) seinen Zorn über die zugespitzten Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems in die deutsche Öffentlichkeit. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Pandemie zwar ein Katalysator, aber „vor allem für Schlechtes“ geworden sei und deshalb ein „zurück zur Normalität“ für ihn keine Option darstelle. Für alle gesellschaftlichen Bereiche konstatiert Kress, dass es „schon vor der Pandemie einigen Optimierungsbedarf“ gegeben habe, auch „für Schulreformen“. Mit drastischen Worten stellt er fest, „der Katalysator hat Beschissenes noch beschissener gemacht.“ Sein Zorn ist mit Blick auf das Gesundheitssystem mehr als nachvollziehbar, geht es dort doch seit dem neoliberalen Privatisierungswahn in allen Bereichen primär nicht um Menschen, sondern um Fallzahlen, die Rendite bringen sollen. Das ist nur möglich, wenn Löhne niedrig gehalten und Arbeitsbedingungen für Ärzte und Pflegepersonal ausbeuterischen Charakter haben oder direkt ausbeuterisch sind. Mit dieser Realität müssen sich alle Betroffenen seit mehreren Jahrzehnten herumschlagen. Viele hofften auf eine Wende dieser inhumanen Zustände, aber sie wird wohl ausbleiben, der Katalysator Corona wird daran wohl nichts ändern.

Ministerialdirigent i. R. Frieder Bechberger-Derscheidt war Vertreter von Rheinland-Pfalz im Schulausschuss der Kultusministerkonferenz (KMK) und Vorsitzender des Unterausschusses Lehrerbildung der Kultusministerkonferenz.

Im Bildungswesen geht es glücklicherweise nicht um Leben oder Tod, aber um die individuelle Zukunft von Kindern und Jugendlichen, also um unser aller Zukunft. In unserem reichen Land hat Corona ebenso wie im Gesundheitsbereich die Schwächen des Bildungssystems so grell aufzeigt, dass sogar die konservativen Parteien und Verbände plötzlich die genau von diesem System schon immer Benachteiligten und Abgehängten entdeckten. Kann uns das Hoffnung auf Veränderungen machen? Nachdem Jahrzehnte lang Bildungsungerechtigkeit sowohl empirisch klar nachgewiesen und tagtäglich im schulischen Alltag erlebt und erlitten und von reformbereiten, aber zu schwachen Kräften mit wenig Erfolg bekämpft wurde, wirkt diese plötzliche Entdeckung benachteiligter Kinder scheinheilig und darf wohl auch nicht allzu ernst genommen werden. Denn selbst während der ja noch laufenden Krise waren diese Kräfte, mitsamt der Kultusbürokratie, zu keinem Zeitpunkt bereit, selbst kleine Änderungen im System vorzunehmen. Kleine Pflaster wurden verteilt. Mittel für Nachhilfe wurde gefordert, und selbstverständlich sollten alle Kindern einen Zugang zu elektronischen Unterrichtsmedien haben, damit ebenso für alle Fernunterricht erteilt werden könne ‑ und andere der aktuellen Krise geschuldeten Placebos. Wenn dann an einem schönen Tag diese böse Pandemie überwunden sein wird, dürfen wir sicher sein, dass schnellstmöglich wieder zum status quo ante zurückgekehrt werden wird. Als jüngst die Bundesvorsitzende der GEW vorschlug, die Abiturklausuren ausfallen zu lassen, empörten sich alle Experten (auch innerhalb der GEW) – Abitur ohne Klausur? Völlig undenkbar! Ein Tabubruch!

Dabei hat die GEW-Vorsitzende zwei vernünftige Vorschläge zugleich unterbreitet. Einerseits rundet die Abiturklausur im Grunde die Oberstufe seit der Reform der gymnasialen Oberstufe mit der Einführung des Leistungs- und Grundkurssystems in den 70er Jahren lediglich ab. Zweidrittel der Abiturnote liegen schon vor der Abschlussklausur fest. Den mündlichen Teil des Abiturs – Prüfung in kleinem Kreis – hätte man ja durchführen können. Nach 13 Schuljahren mit unendlich vielen schriftlichen Überprüfungen erscheint es aber durchaus vorstellbar, auch ohne die Abiturklausur zu nachvollziehbaren Abiturergebnissen zu kommen. Mit der Abiturklausur, einer einzelnen Prüfung, versus Beurteilungsgrundlagen über längere Zeiträume wird ein ohnehin problematischer pädagogischer Kontrapunkt Jahr für Jahr praktiziert, der im Grunde schon längst hätte problematisiert werden müssen. Wissen wir doch ebenfalls seit Jahrzehnten – und immer wieder aufs Neue bestätigt –, welche Gefahren und Probleme mit der Notengebung verbunden sind und hinter ihr lauern. Nicht erst seit Ingenkamps Buch „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung“, 1971 erschienen, wird gegen die Erkenntnisse dieser Schrift verstoßen und an vermeintlich gerechte, auf keinen Fall verzichtbare Noten geglaubt, ja, geglaubt. Dieser Osterhasenglaube konnte auch nicht durch die immer wieder neuen empirischen Bestätigungen von Ingenkamps Skrupel gegenüber der Notengebung im Rahmen der PISA-Studien erschüttert werden. Selbst Corona brachte das Bildungssystems nicht so heftig zum Beben, dass die vielfach erhobenen Vorschläge, Noten auszusetzen beziehungsweise andere Formen von Leistungsnachweisen anzuwenden oder wenigstens in der Pandemie auf Notengebung zu verzichten, realisiert worden wären. Die Lernbedingungen mögen noch so ungleich sein, der Sieg des Glaubens an die „gerechten“ Noten über die empirischen Erkenntnisse ihrer Relativität und Ungerechtigkeit ist auch angesichts von Ausnahmezuständen gesichert, immer wird dafür die Administration garantieren, aus politischen, nicht aus erkenntnistheoretischen Gründen. Damit zusammenhängend schafft es die Coronakrise ebenso nicht, die seit Jahrzehnten gesichertere Erkenntnis der pädagogischen Wirkungslosigkeit des zwangsweisen Wiederholens ins Wanken zu bringen. Das gnädige Angebot an Schüler*innen, das Schuljahr freiwillig wiederholen zu dürfen, ohne dass dies als Wiederholen im üblichen Sinne angesehen werde, deutet auf einen kleinen Zweifel an dieser Maßnahme hin. Aber nach Corona würde dieses Angebot mit Sicherheit schnell wieder zurückgenommen, ebenfalls wider besseres Wissen.

Über eine bessere Umsetzung von Inklusion wird in der Krise schon gar nicht mehr diskutiert. Der zentrale Auftrag, unsere Bildungssystem menschlicher zu machen, ist völlig aus dem Blick geraten. Es darf bezweifelt werden, dass er seiner Bedeutung angemessen je wieder in den Blick genommen werden wird, so es diese Blickrichtung je gab. Weitere Beispiele aus der Bildungspolitik, der pädagogischen Theorie und Praxis, für die auch hier bereits „schon vor der Pandemie einiger Optimierungsbedarf“ bestand, wie Achim Kress es für das Gesundheitssystem freundlich formuliert, ließen sich anführen und sind bekannt.

Es ist die traurige Gewissheit, befürchten zu müssen, dass selbst die Corona-Pandemie es nicht schaffen wird, das Schulsystem grundsätzlich in Frage zu stellen, obwohl, wie anfangs geschildert, selbst die konservativen Systembewahrer die vermeintlich allein durch Corona  Benachteiligten bemitleiden und Krokodilstränen um sie vergießen. Mit ein bisschen Nachhilfe, mit ein bisschen Digitalisierung für alle, vielleicht sogar mit ein wenig mehr Personal, wird nach der Pandemie das Bildungssystem wieder so weiterarbeiten wie zuvor. Das „Weiter so“ wird ganz schnell wieder die Bildungsrealität bestimmen.

Sollte tatsächlich in und durch die Pandemie das Schulsystem durch Nachfragen nach Gerechtigkeit und Humanität in Frage gestellt gewesen sein, dann dürfte es bestenfalls ein fernes, vielleicht auch mal störendes Rauschen gewesen sein. Der Wunsch von Achim Kress, die Pandemie könnte auch ein „Korrektur- und Kehrwendekatalysator“ sein, wird wohl leider Wunsch bleiben. Eine Kehrwende wäre aber dringender denn je. Denn „so deutlich wie noch nie“ habe Corona „die Schwachstellen unseres Bildungssystems offenbart, die müssen wir jetzt natürlich ernst nehmen“, stellt neben vielen anderen auch Professor Kai Maaz, Direktor des DIPF im Interview mit der E&W („Erziehung und Wissenschaft“, Nr. 4/21, S. 21) fest. Ja, endlich ernst nehmen, wäre angesagt. Denn das, was Maaz wenig originell unterstreicht, weil schon oft gefordert, impliziert ja, dass diese Schwachstellen allen Beteiligten längst bewusst waren, gerade auch der Bildungswissenschaft, die aber über kluge Feststellungen hinaus in all der zurückliegenden Zeit merkwürdig passiv und unpolitisch sich verhalten hat. Unpolitisch in dem Sinne, ihre Erkenntnisse lediglich vorzustellen, aber viel zu leise, wenn überhaupt, daraus mit klaren Forderungen so laut wie möglich und mit möglichst vielen Unterstützern der Politik damit die Türen einzurennen. Immerhin, Maaz traut sich, wenn auch immer noch recht vorsichtig und leise, in der E&W einen solch klaren Satz zu formulieren. Fassen wir diese Systemkritik eines wichtigen Bildungsforschers als kleine Ermutigung auf, den Kampf und die Hoffnung nicht aufgeben zu wollen, dieses System für alle Kinder und Jugendlichen gerecht, chancenreich und letztlich human zu gestalten.

Wie gesagt: Meine Zweifel, dass Corona diese Folgen haben könnte, sind weitaus größer als meine Hoffnungen auf eine derartige Kehrtwende. Wir machen zwar alle zum ersten Mal die Erfahrung einer solchen Pandemie, die unser gewohntes Leben derart existentiell in Frage stellt, aber wir haben durchaus in unserer jüngsten Geschichte Zäsuren erlebt, die uns ebenfalls hätten veranlassen müssen, die alten ausgetreten Pfade und schlechten Wege zu verlassen, zum Beispiel nach der Wende 1989. Auch sie war, wie wir wissen, nicht der Katalysator für eine Bildungswende, sondern ein Vehikel, das westdeutsche selektive Schulsystem mehr oder weniger eins zu eins auf die neuen Bundesländer zu übertragen. Ja, auch die UN-BRK (UN-Behindertenrechtskonvention) von 2009 hätte ein Anlass für einen Neustart unseres Bildungswesens sein müssen. Aber auch hier haben sich die alten Kräfte durchgesetzt, von kleinen Zugeständnissen abgesehen, um nicht total unglaubwürdig zu erscheinen. Die Mutlosen, die die Konvention politisch zwar nicht ablehnen konnten, haben sich jedoch schnell mit dem Wenigen an Realisierung zufrieden gegeben, wofür sie sich manchmal sogar noch glauben loben zu können, in Wahlkämpfen zum Beispiel.

Deshalb werden leider auch nach Corona ebenso wenig Perspektiven noch gar bildungspolitische Aufbrüche zu erhoffen sein, auch wenn eine neue Legislaturperiode bevorsteht und die Koalitionäre kaum eine bessere Gelegenheit hätten, auf- und auszubrechen aus der müden und mutlosen Vergangenheit. Es gibt in  diesem Land genügend Kräfte mit besten Vorschlägen, humane, jedes einzelne Kind fördernde Pädagogik zu realisieren. Es braucht dazu allerdings unsere Ausdauer und Unerschütterlichkeit und die Unterstützung für alle, die tagtäglich versuchen, trotz des selektiven Rahmens ihren Schüler*innen gerecht zu werden, indem sie menschliche Schule praktizieren und weiterentwickeln.

Achim Kress hat Recht: Auf keinen Fall darf es für die Zeit nach Corona ein „Zurück zur Normalität“ geben, es war eine schlechte „Normalität“, die wir viel zu lange, wenn auch mit Groll, hingenommen haben.