Religiöse Vielfalt folgt wiederkehrenden Mustern

 

Der Religionswissenschaftler und Theologe Perry Schmidt-Leukel legt einen neuen Vergleich der Weltreligionen Christentum und Buddhismus vor und kommt zu dem Schluss: „Die Betrachtung der internen Vielfalt beider Religionen widerlegt Klischees von absoluter Verschiedenheit.“ Die Beschäftigung mit einer anderen Tradition biete die Chance, Vergessenes der eigenen Religion wiederzuentdecken. In der anderen Religion begegne einem immer auch das Andere aus der eigenen Tradition; damit werde religiöses Blockdenken überwunden und wechselseitiges Lernen ermöglicht.

(Münster, 13. Oktober 2022) Buddhismus und Christentum sind sich laut Forschungen des Religionswissenschaftlers und Theologen Prof. Dr. Perry Schmidt-Leukel deutlich ähnlicher als häufig angenommen, aber anders als gedacht. „Natürlich gibt es viele Unterschiede, doch die Religionen gleichen sich in ihrer inneren Vielfalt. Die jahrhundertealten Klischees von ihrer absoluten Fremdheit erweisen sich als unhaltbar“, betont der Forscher. „Beim Blick auf ihre interne Vielfalt zeigt sich, dass in beiden Religionen ähnliche Unterschiede im Verhältnis zur Welt, im Verständnis letzter Wirklichkeit, in der Einschätzung von Unheil und Heil und der Rolle der Heilsmittler aufzufinden sind.“ Zu diesem Ergebnis kommt der Forscher vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster in seinem kürzlich im Gütersloher Verlagshaus erschienenen Buch „Das himmlische Geflecht. Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. „Ich wende mich gegen klischeehafte Gegenüberstellungen, die den Vergleich bis heute prägen, etwa: Christen glauben an einen personalen Gott, Buddhisten kennen nur ein unpersönliches Nichts. Der Buddhismus ist eine Lehre zur Selbsterlösung, das Christentum vertraut auf Gottes Gnade.“

Für Schmidt-Leukel sind Religionen keine homogenen Einheiten: „Das Christentum ist nicht immer weltzugewandt und Buddhisten versuchen nicht immer, die Welt zu überwinden. Die Geschichte dieser Traditionen ist so vielstimmig, dass wir beide Positionen in beiden Religionen finden.“ So gebe es etwa im Christentum nicht nur personale, sondern auch nicht-personale Vorstellungen von letzter Wirklichkeit und umgekehrt im Buddhismus nicht nur nicht-personale Vorstellungen von letzter Wirklichkeit, sondern auch personale. Auch die zentralen Heilsmittler Buddha und Christus würden in beiden Religionen sowohl als erleuchtete Lehrer als auch als inkarnierte Erlöser verstanden. „Die Beschäftigung mit einer anderen Tradition bietet die Chance, Vergessenes der eigenen Religion wiederzuentdecken. In der anderen Religion begegnet einem immer auch das Andere aus der eigenen Tradition. Damit wird religiöses Blockdenken überwunden und wechselseitiges Lernen ermöglicht.“ Das christliche Gebet sei etwa durch buddhistische Meditationspraktiken belebt und bereichert worden. Weltzugewandte Strömungen im Christentum hätten wiederum zur Wiederbelebung eines sozial engagierten Buddhismus geführt.

Das Eigene im Fremden wiederentdecken

In seinem Buch zeigt Schmidt-Leukel die interne Vielfalt beider Religionen auf und analysiert dafür Glaubensvorstellungen aus Buddhismus und Christentum der vergangenen mehr als zweitausend Jahre. Er weist nach, wie sich – bei allen Unterschieden – beide Traditionen in ihrer Vielfalt ähneln. In diesen sich wiederholenden Mustern zeige sich eine fraktale Struktur religiöser Vielfalt. „Die Spannungen, die wir in der einen Tradition sehen, spiegeln sich auch wider in der anderen Tradition. Etwa der erbitterte Streit zwischen Protestantismus und Katholizismus darüber, welche Rolle die göttliche Gnade und welche Rolle die eigenen Taten bei der Erlösung spielen: Wir finden diese Debatten sehr ähnlich auch in buddhistischen Strömungen.“

Dass in verschiedenen Religionen immer wieder ähnliche Unterschiede auftreten, lässt sich nach Schmidt-Leukel zum Teil dadurch erklären, dass diese Unterschiede einander komplementär ergänzen. „Wenn wir die fraktale Struktur religiöser Vielfalt erkennen, dann wird sichtbar, dass Religionen einander nie völlig fremd sind. Ich sehe sie als konkrete Ausformungen in einem Netzwerk der Wahrheit – als eine Art ‚himmlisches Geflecht‘, um eine geläufige buddhistische Metapher zu verwenden.“ Fraktale Muster seien aber auch für Nicht-Gläubige erkennbar: „Wer die Existenz einer Raum und Zeit überschreitenden letzten Wirklichkeit verneint, kann diese religiösen Strukturmuster trotzdem erkennen und wird sie dann als wiederkehrende Formen menschlicher Illusion und Selbsttäuschung deuten.“

Erste Reaktionen auf das Buch betrachten Schmidt-Leukels Ansatz als einen Durchbruch. So schreibt John May, australischer Experte für interreligiösen Dialog: „Während in der Vergangenheit Religionswissenschaftler und Theologen angesichts einer Lösung der scheinbar unlösbaren Gegensätze religiöser Lehren im Dunkeln tappten, bringt Schmidt-Leukels Aneignung der fraktalen Theorie alles auf eine Weise in den Fokus, wie man es bisher nicht gesehen hat.“