Repräsentative Umfrage: Deutsche fordern aktive Europapolitik der Bundesregierung

 

In diesem Jahr wurde zum vierten Mal in Folge die Langzeitstudie „Selbstverständlich europäisch?!“ durchgeführt: Die Bundesregierung hat bei den Bürgerinnen und Bürgern in der aktuellen Krise den Rückhalt für eine entschiedene und zügige Energiewende, die die Abhängigkeit von fossiler Energie und autoritären Regimen wie Russland beendet. Angesichts der aktuellen Bedrohungen und Herausforderungen wollen die Bürgerinnen und Bürger mehr europäische Handlungsfähigkeit; dazu wünschen sie sich eine aktivere deutsche Europapolitik und befürworten klar neue gemeinsame Investitionen in Energiesicherheit, Verteidigung und Klimaschutz.



(Berlin, 30. Mai 2022) Die Deutschen wünschen sich ein aktives Auftreten der Bundesregierung in der EU. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung und des Progressiven Zentrums. Nicht einmal die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger nehmen in letzter Zeit Deutschlands Verhalten in der EU als aktiv wahr. Fast 40 Prozent nehmen die Bundesregierung eher weniger aktiv wahr. Eine deutliche Mehrheit von 72 Prozent der Deutschen wünscht zukünftig sich eine aktive Rolle Deutschlands in der EU.

Neben einer aktiveren Rolle Deutschlands und der Stärkung europäischer Handlungsfähigkeit ist die deutliche Befürwortung gemeinsamer europäischer Zukunftsinvestitionen der dritte zentrale Befund in den Umfrageergebnissen. Eine große Mehrheit befürwortet, dass Deutschland gemeinsam mit seinen EU-Partnern mehr Geld in die europäische Zukunftsfähigkeit investiert. Diese Haltung hängt mutmaßlich auch mit der gestiegenen Wahrnehmbarkeit an mangelnder gesellschaftlicher Resilienz in den Krisen der letzten Jahre zusammen: Gegen die Auswirkungen als auch die Verschärfung der Klimakrise hat das Land jahrelang zu wenig gemacht, am deutlichsten zuletzt spürbar in der Flutkatastrophe im Sommer 2021. Für Bewältigung und Umgang mit der Pandemie waren das öffentliche Gesundheitssystem, die Digitalisierung systemrelevanter Bereiche (zum Beispiel Schulen, Gesundheitsämter, Verwaltung) und das staatliche Krisenmanagement nicht ausreichend gewappnet.

72,1 Prozent der Befragten halten die gemeinsame Reaktion der EU unmittelbar nach Russlands Angriffskrieg für angemessen. Allerdings gibt es hohe Erwartungen an das gemeinsame europäische Handeln in der kommenden Zeit:

  • Die Unabhängigkeit der Energieversorgung sehen die meisten Deutschen (66,9 Prozent) als das dringlichste Ziel der EU an.
  • Als weitere Bereiche mit hoher Priorität folgen die Verteidigungsfähigkeit der EU-Staaten (52,8 Prozent) und die Inflationsbekämpfung in der EU (34,6 Prozent).

Um diese Ziele zu erreichen, befürwortet die Mehrheit der Deutschen die Schaffung eines neuen EU-Investitionsfonds:

  • 37,6 Prozent sprechen sich für einen Fonds für Energieunabhängigkeit aus,
  • 37,5 Prozent für Investitionen sowohl in die Energieunabhängigkeit als auch die Verteidigung, und
  • 10,1 Prozent für einen Fonds allein für Verteidigung.
  • Nur 11,4 Prozent lehnen ein neues europäisches Investitionsinstrument ab.

Für die Finanzierung eines neuen Investitionsinstruments sollte sich die Bundesregierung stärker als bislang um die Schaffung eigener Einnahmenquellen für die EU bemühen, wozu die EU-Kommission im letzten Dezember einen Vorschlag vorgelegt hat. Einnahmentechnisch relevant wären in erster Linie europäische Steuern, beispielsweise die seit langer Zeit diskutierten Digital- und Finanztransaktionssteuer. Denkbar wäre laut Umfrage zudem eine Plastiksteuer und eine CO2-Grenzabgabe, die direkt zur Erreichung von Zielen der europäischen Klima- und Umweltpolitik beitragen würden.

Die Langzeitstudie „Selbstverständlich europäisch?!“ wurde in diesem Jahr zum vierten Mal in Folge durchgeführt. Im Vergleich zum letzten Jahr ist das grundsätzliche Vertrauen in die EU stabil geblieben:

  • 66,2 Prozent der Deutschen sehen in der EU-Mitgliedschaft insgesamt mehr Vor- als Nachteile,
  • für 30,6 Prozent überwiegen die Nachteile.

Gestiegen ist im Vergleich zu 2021 die Zustimmung zum politischen Nutzen der EU: 63,7 Prozent (+ 4,2) der Befragten meinen, dass Deutschland seine politischen Ziele eher mit als ohne die EU erreichen kann. Leicht gesunken ist hingegen die Zustimmung zum wirtschaftlichen Nutzen der EU-Mitgliedschaft.

„Als Antwort auf die Zeitenwende fordern die Bürgerinnen eine aktivere Rolle Deutschlands in Europa. Bislang kommt die Europapolitk in der deutschen Debatte über die Zeitenwende zu kurz. Nun sind Initiativen in die fossilfreie Energieunabhängigkeit Europas und die Neuaufstellung der europäischen Sicherheitsarchitektur gefragt“, sagt Dr. Johannes Hillje, Ko-Autor der Studie und Policy Fellow beim Progressiven Zentrum. Ko-Autorin Dr. Christine Pütz, Heinrich-Böll-Stiftung, erklärt dazu: „Angesichts der aktuellen Bedrohungen und Herausforderungen wollen die Bürgerinnen und Bürger mehr europäische Handlungsfähigkeit. Dazu wünschen sie sich eine aktivere deutsche Europapolitik und befürworten klar neue gemeinsame Investitionen in Energiesicherheit, Verteidigung und Klimaschutz.“

Jan Philipp Albrecht, designierter Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, sagt zu den Umfrageergebnissen: „Die Bundesregierung hat bei den Bürgerinnen und Bürgern in der aktuellen Krise den Rückhalt für eine entschiedene und zügige Energiewende, die die fatale Abhängigkeit von fossiler Energie und autoritären Regimen wie Russland beendet. Diese Politik muss aber im European Green Deal eingebettet sein und somit gleichzeitig als Katalysator der sozial-ökologischen Transformation in Europa wirken. Zugleich bleibt angesichts der weitreichenden Implikationen des russischen Angriffskrieges die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU und weltweit die entscheidende Herausforderung der nächsten Jahre.“

Für die Studie „Selbstverständlich europäisch!? 2022 – Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die deutsche Europapolitik in der Zeitenwende“ hat das Meinungsforschungsinstitut Civey im April 2022 online 5.000 Personen befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die Einwohnerinnen und Einwohner der Bundesrepublik Deutschland ab 18 Jahren.

Jan Philipp Albrecht ist designierter Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Die Studie „Selbstverständlich europäisch!? 2022 – Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die deutsche Europapolitik in der Zeitenwende“ steht über diesen Link zum Download als PDF bereit.