Säkularisierte Erwählung: zum theologischen Hintergrund der rechten Politik heute in Israel

 

Ein Essay von Helmut Falkenstörfer

Auch die größten Freunde Israels machen sich öffentlich Sorgen um den Rechtsruck in der israelischen Politik: die USA, der Bundeskanzler, sogar Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Ein Stück Rechtsradikalismus ist der gegenwärtigen israelischen Regierungspolitik, im April 2023, inhärent und das hat historische und theologische Gründe. Um ein wenig auszuholen: Ausgehend unter anderem von Goethes Freund Johann Gottfried Herder gab es im 19. Jahrhundert eine wachsende, nationalistische Bewegung. Es gab den Gedanken des Volksgeistes, der geistigen Identität von Völkern, und daraus folgte der Gedanke, dass die Nationen in den Vielvölkerstaaten eigene Staaten bilden sollten. Das führte nach dem Ersten Weltkrieg zur Auflösung des Osmanischen und des Habsburger Reiches. Auch im Judentum erwachte der Wunsch nach einem eigenen Staat.

Der Zionismus stand vor einem Problem, welches die Ungarn, Tschechen Slowenen, Kroaten oder Araber nicht hatten. Er hatte kein Land. Es gab die Idee, einen jüdischen Staat in Uganda zu gründen. Dieser Gedanke war im kolonialistischen Zeitalter offenbar möglich. Durchgesetzt hat sich ein anderer nicht weniger kolonialistischer Plan. Man wollte Israel im damals osmanischen Palästina gründen und rechtfertigte dies mit dem gänzlich der Wahrheit entbehrenden Spruch: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land.“ Das Land, das angeblich ohne Volk war, war Palästina, und das Volk waren die Palästinenser. Es gab also nach diesem Konzept zwei Völker für ein Land. Das musste zu Konflikten führen.

Im Mai 1948 wurde der Staat Israel von der inzwischen eingewanderten israelischen Bevölkerung unter der Leitung von Ben Gurion gegründet. Die UNO hatte dem, wohl unter dem Eindruck des Holocaust, im Rahmen einer Zweistaatenlösung zugestimmt. Die arabischen Nachbarstaaten versuchten das militärisch zu verhindern. Israel gewann den Krieg und eignete sich zumindest einen Teil des geplanten arabischen Staates an. 750.000 Palästinenser wurden Opfer von Flucht und Vertreibung. Später gab es die Kriege von 1967 und 1973.

Diese Hintergründe sind ein Teil der israelischen Identität. Die Staatsgründung durch Gewaltanwendung wurde von Vielen ideologisch und theologisch mit der Erwählung Israels zum Volke Gottes begründet. Die Erwählung Israels zum Volk, welches den einen Gott verehrt und sein Gesetz bewahrt, wurde säkularisiert und zur Begründung politischer Gewalt. Das alles wurde vielfach auch außerhalb Israels und von den Kirchen akzeptiert und toleriert. Ganz besonders auch in Deutschland. Der Holocaust trug zu dieser Toleranz bei. Dieses Gewaltkonzept findet sich auch im Alten Testament. In 5. Moses,7 wird geschildert, wie das Gelobte Land mit Gewalt und unter Ausrottung der kananäischen Bevölkerung in Besitz genommen wird. Nach Meinung der heutigen Wissenschaft ist der Bericht nicht historisch. Er kann der extremen Rechten in Israel aber als Muster für eine extrem antipalästinensische Politik dienen. In Israel wurde die Erwählung nicht nur von der extremen Rechten zum politischen Argument pervertiert. Es gab und gibt die Meinung, dass die Palästinenser im Lande eigentlich gar nichts zu suchen hätten. Das schlägt sich auch in der Politik der rechten Regierung und insbesondere der Siedler auf der Westbank nieder. In einem politischen Gespräch auf dem Kairoer Flughafen sagte mir ein israelischer Reisender über die Palästinenser: „They are refugees.“ Das ist ein klassischer Fall von Missbrauch der Religion zu politischen Zwecken.

Zum Glück für Israel wird dessen Existenz trotz aller Problematik pragmatisch auch von vielen seiner Gegner akzeptiert. Heute, 75 Jahre nach der Gründung des Staates Israel, stellen lediglich extreme Kräfte sein Existenzrecht infrage. Israel aber ist ein Staat mit zwei Völkern im selben Land und es kommt darauf an, welches Verhältnis diese beiden Völker zueinander finden.

Die gegenwärtige Rechtskoalition beansprucht das Land allein für die jüdische Bevölkerung. Dies ist religiös gesehen Fundamentalismus. Säkularisiert bedeutet es, dass Israel einen Anspruch auf das Land Palästina habe, der es berechtigte, dessen Bewohner zu diskriminieren oder zu verdrängen. Die solcherart säkularisierte Erwählung führt überdies zu einem Überlegenheitsgefühl, das man auch als Rassismus bezeichnen könnte. Diese Sicht ist Anlass, zu großer Sorge, zumal die Regierung sich nun anschickt, die liberale Demokratie abzubauen. Denn auch die liberale Demokratie gehört nicht zu den Vorlieben des religiösen Fundamentalismus.

Eine große Minderheit in Israel ist durchaus bereit, die Palästinenser im Rahmen einer Zweistaatenlösung als gleichberechtigte politische Partner zu betrachten. Ansätze zu einer politischen Lösung auf dieser Basis gab es in den Verhandlungen zwischen Jassir Arafat und Jitzchak Rabin, die mit der Ermordung Rabins 1995 zu einem Ende kam. Kurz darauf wurde Ariel Scharon zum Ministerpräsidenten gewählt, was in gewisser Weise eine Bestätigung des Attentats war. Es gab noch einmal Verhandlungen unter der Regierung von Ehud Barak. Diese wurden durch die Abwahl Baraks 2001 beendet. Seither verfolgen rechte Regierungen gemeinsam mit der Gruppe der Siedler eine Politik der Diskriminierung und Verdrängung des palästinensischen Volkes. Israel sei zum Apartheidsstaat geworden, wie unter anderen der südafrikanische Bischof Desmond Tutu es benannte.

Israel, und das heißt auch dessen Wählerschaft, steht heute vielleicht tatsächlich am Scheideweg zu einem Apartheidsstaat mit den entsprechenden inneren Konflikten und einem feindlichen Verhältnis zu den meisten Nachbarländern. Die Alternative ist ein politisch und religiös liberaler Staat, der die Möglichkeit nutzt, die sich aus einer angemessenen Rolle der Menschen Palästinas ergeben. Es ist ein großer Vorteil Israels, dass auch viele arabische Staaten seine Existenz trotz der problematischen Entstehung hinnehmen und zu konstruktiven Lösungen bereit sind. Wir Deutsche haben allen Grund, uns mit dieser Möglichkeit solidarisch zu erklären, denn es gibt eine Schuld nicht nur gegenüber den Juden, sondern auch eine Schuld gegenüber den Palästinensern. Die Katastrophe der Palästinenser, die Naqba, ist eine Folge der Shoa, da ohne Shoa die Gründung des Staates Israel höchstwahrscheinlich nicht hätte stattfinden können. Dies fasste ein Palästinenser in der Altstadt von Jerusalem in die Worte: „We are paying for the crimes of the Germans.“