SINUS-Jugendstudie 2020: Die hedonistische Mentalität ist auf dem Rückzug

 

Aus Jugendsicht dominieren in erster Linie “alte weiße Männer” die Politik, die wichtige Themen wie die Klimakrise nicht ernst nehmen, mögliche Problemlösungen verschleppen oder sogar hintertreiben. Der jugendliche Zeitgeist im Jahr 2020 ist grün und bewahrend, also konservativ im ursprünglichen Sinne. Viele Jugendliche beklagen eine “Jeder-für-sich”-Mentalität und den fehlenden Zusammenhalt in der Gesellschaft; gute, abgesicherte Lebensverhältnisse sind heute in der Mehrzahl der jugendlichen Lebenswelten wichtiger als Status, Erfolg und Aufstieg.



 

(Berlin, 23. Juli 2929) Die junge Generation ist ernster geworden – ernsthafter einerseits, besorgter andererseits. Das betrifft den Umgang mit den Herausforderungen der Corona-Pandemie und mehr noch die für sie offensichtliche Bedrohung durch die globale Klimakrise. Bei beiden Themen und im Allgemeinen fühlt sich die junge Generation nicht ernst genommen und repräsentiert. Der Zukunftsoptimismus der Jugendlichen ist gedämpft, insbesondere in den bildungsfernen Lebenswelten. Das geht aus der SINUS-Jugendstudie 2020 „Wie ticken Jugendliche?“ hervor.

Seit 2008 untersucht das Heidelberger SINUS-Institut die Lebenswelten 14- bis 17-jähriger Teenager in Deutschland und legt alle vier Jahre mit der Studienreihe „Wie ticken Jugendliche?“ eine empirische Bestandsaufnahme der soziokulturellen Verfassung der jungen Generation vor. Die Fragestellungen der Studie im Jahr 2020 waren:

  • Welche Themen sind der Jugendgeneration wichtig?
  • Wie blicken die jungen Menschen in die Zukunft? Und nicht zuletzt:
  • Wie kommen die Jugendlichen in der Ausnahmesituation der Corona-Krise zurecht?

Zu wenig politische Repräsentation

Viele Teenager fühlen sich von der Politik weder gehört noch ernst genommen. Sie beklagen die fehlende Teilhabe der jungen Generation an politischen Entscheidungsprozessen und die mangelnde Repräsentation im politischen Raum. Aus Jugendsicht wird Politik in erster Linie von „alten weißen Männern“ dominiert und geprägt. Pauschales Politikerbashing ist dennoch selten. Politische Akteure und Institutionen werden differenziert beurteilt. Viele Jugendliche zeigen Verständnis und Empathie für Politiker*innen, die einen „harten, stressigen Job“ machen.

Die Lösung der Klimakrise als zentrale Frage der Generationengerechtigkeit

Ein Gefühl von Macht- und Einflusslosigkeit, wenig Wissen und geringe Zeitbudgets sind Barrieren für globales Engagement Jugendlicher. Die große Beteiligung der Teenager an den Fridays-for-Future-Demonstrationen macht jedoch Hoffnung, dass junge Menschen sich stärker für globales Engagement öffnen.

Längst haben Jugendliche die Lösung der Klimakrise als zentrale Frage der Generationengerechtigkeit für sich identifiziert und bringen in den Demonstrationen ihre Ohnmacht und Empörung („Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“) zum Ausdruck. Der jugendliche Zeitgeist ist grün und bewahrend (das heißt konservativ im ursprünglichen Sinne). Die Klimakrise wird aus jugendlicher Perspektive von den Verantwortlichen (Politik, Wirtschaft, ältere Generation) nicht ernst genommen; mögliche Problemlösungen werden verschleppt oder sogar hintertrieben:

„Klimawandel und Krieg versus Frieden sind die politischen Megathemen der Befragten – beides globale Probleme. Dann aber auch Themen (meist ungelöste Probleme), die eher der Innenpolitik zuzuordnen sind: Migration, Armut, Meinungsfreiheit, Transparenz und Gleichstellung. Nicht zuletzt beschäftigt die Mädchen und Jungen die defizitäre politische Teilhabe der jungen Generation. Ein Sonderthema, mit dem sich viele Jugendliche im Erhebungszeitraum (März bis Ende Mai 2019) befasst haben, war der Artikel 13 Urheberrechtsreform, der – so die einhellige Meinung – die Freiheit im Internet beschränkt.

Das Thema „Klimawandel/Umweltschutz“ beunruhigt in hohem Maße nahezu alle Befragten. Die zunehmende Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde wird von den Jugendlichen als entscheidend für ihre eigene und die Zukunft ihrer Kinder empfunden. Dieses Problem ist aus Sicht der Jugendlichen zu einer zentralen Frage der Generationengerechtigkeit geworden.

Verbreitet ist die Einschätzung, dass die Klimakrise von den Verantwortlichen (Politik/Regierung sowie Wirtschaft) nicht ernst genommen wird und mögliche Problemlösungen verschleppt oder sogar hintertrieben werden. Die Teenager fordern, verbindliche Klimaziele zu setzen und diese auch durchzusetzen, den Kohleabbau zu stoppen und regenerative Energien zu fördern. Insgesamt, so die übereinstimmende Meinung, muss das existenzielle Thema „Klima und Umwelt“ noch sehr viel höhere politische Priorität bekommen.“

Lisi Maier ist Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ). Der BDKJ ist Dachverband von 17 katholischen Jugendverbänden mit rund 660.000 Mitgliedern. Er vertritt die Interessen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Kirche, Staat und Gesellschaft.

Die Grundanmutung von Politik ist düster

Ästhetik und Politik sind für Jugendliche getrennte Welten. Wenn es etwas Schönes an Politik gibt, so die Ansicht der meisten Befragten, ist es nicht das Äußere beziehungsweise die Form, sondern der Inhalt: Es gilt als schön, den Menschen zu helfen und sich für andere einzusetzen. Schön ist, wenn sich Menschen zu-sammenschließen und etwas für die Gemeinschaft tun. Schön sind Solidarität, Fairness und Gerechtigkeit, Demokratie und Meinungsfreiheit.

Jugend in der Corona-Krise: genervt von den Einschränkungen, zugleich mitfühlend und verantwortungsbewusst

Solidarität mit anderen spielt auch in der Corona-Krise eine zentrale Rolle. Denn die befragten Jugendlichen haben zwar wenig Angst davor, sich selbst mit dem Virus zu infizieren, befürchten aber, andere Menschen anzustecken (Ältere, Großeltern und so weiter). Die meisten sehen es als ihre soziale und gesundheitliche Verantwortung, die Krise ernst zu nehmen und sich um ihre Mitmenschen zu sorgen. Die Einschränkungen der persönlichen Freiheit und das reduzierte Freizeitangebot nerven zwar viele Jugendliche, sie erkennen jedoch die Notwendigkeit, sich damit zu arrangieren. Die subjektive Betroffenheit der Jugendlichen von der Corona-Krise hält sich in Grenzen. Die meisten schätzen die Auswirkungen der Pandemie auf ihr persönliches Leben bisher als nicht sonderlich schwerwiegend ein. Dies gilt insbesondere für die sozial benachteiligten Lebenswelten.

Der Politik stellen die Jugendlichen in der Krise ein gutes Zeugnis aus. Sie vertrauen den Akteuren und sehen die veranlassten Maßnahmen als nachvollziehbar und verhältnismäßig an. Kritisiert wird allerdings die nach Meinung der Jugendlichen verfrühte Wiedereröffnung der Schulen und dass die Chance verpasst wurde, in dieser Debatte das Vertrauen der Jugend zu gewinnen, in dem man sie hätte zu Wort kommen lassen.

Die „bürgerliche Normalbiografie“ ist das Leitmotiv vieler Teenager

Viele Befragte beklagen eine „Jeder-für-sich“-Mentalität und den fehlenden Zusammenhalt in der Gesellschaft. Sie haben Angst vor zunehmender Polarisierung, Hass und Aggression – die insbesondere bildungsferne Jugendliche in ihren Lebenswelten oft erleben. In der Mehrzahl der jugendlichen Lebenswelten sind heute gute, abgesicherte Lebensverhältnisse wichtiger als Status, Erfolg und Aufstieg. Ein dominanter Zukunftswunsch vieler Jugendlicher ist es, in der Mitte der Gesellschaft anzukommen, materielle Wünsche und Ziele werden relativiert.

Chancen für den Sport

Die Unübersichtlichkeit der Verhältnisse in der Welt verstärkt den gesellschaftlichen Megatrend „Regrounding“ – die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Halt und Orientierung. Hier liegt eine Chance für den Sport, denn für die Jugendlichen zählen neben Spaß und sich auspowern Anschluss und Gemeinschaft zu den wichtigen Sportmotiven. Die Teenager betonen insbesondere die integrative Kraft des Fußballs.

Jugendliche finden die Schule „ganz okay“, sehen aber kaum Chancen zur Mitgestaltung

Die Schule ist für die Befragten kein Ort, den sie am liebsten meiden möchten; ein Wohlfühlort ist die Schule aber auch nicht. Im Allgemeinen wird deutlich, dass sich Jugendliche in der Schule vor allem dann wohlfühlen, wenn sie sozial gut eingebunden sind, gute Beziehungen zu den Lehrkräften haben und sich am Unterricht aktiv beteiligen können. Unwohl fühlen sich Schülerinnen und Schüler in erster Linie dann, wenn sie Fehler machen oder der Leistungsdruck steigt. In Sachen Mitbestimmung stellen die Jugendlichen ihren Schulen ein schlechtes Zeugnis aus. Möglichkeiten für Mitbestimmung in der Schule werden kaum gesehen. Schule wird als statisches und kaum gestaltbares System erlebt.

Junge Menschen suchen nach einem positiven Arbeitsumfeld

Die Berufswünsche der befragten Jugendlichen sind eher bodenständig und realistisch. Freude an der Arbeit, Selbstverwirklichung, ein abwechslungsreicher Arbeitsalltag sowie ein positives Arbeitsumfeld haben bei jungen Menschen hohe Priorität. Sie streben nach einer guten Work-Life-Balance mit ausreichend Zeit für ihren Freundeskreis und ihre Familie.

Die hedonistische Mentalität ist auf dem Rückzug

Die ehemals so jugendtypische hedonistische Mentalität nimmt weiter ab: Feiern gehen, Fun und Action verlieren an Bedeutung. Die Ära generationsprägender Jugend(sub)kulturen scheint endgültig vorbei – wenngleich es immer noch Nischenszenen gibt. Die Werte Leistung und Selbstverantwortung stehen bei den Jugendlichen hoch im Kurs, auch wenn gleichzeitig die Skepsis gegenüber dem neoliberalen Wettbewerbsparadigma zugenommen hat. Die Folge ist, dass Zeit für sich selbst haben oder „chillen“, wie es Jugendliche bezeichnen, immer wichtiger werden.

„Wie ticken Jugendliche?“ ist eine im Auftrag von der Bundeszentrale für politische Bildung, der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, der BARMER, dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), dem Deutschen Fußball-Bund, der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, der Deutschen Sportjugend und der DFL Stiftung durchgeführte Studie des SINUS-Instituts, Heidelberg/Berlin. Die SINUS-Jugendstudie 2020 „Wie ticken Jugendliche?“ ist als gedrucktes Buch in der Schriftenreihe (Band-Nr. 10531, Bereitstellungspauschale 4,50 Euro) der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb erschienen. Sie steht über diesen Link auch als ePub und im Format PDF kostenfrei zum Download bereit.

Studiendesign

Die vorliegende Studie ist eine qualitativ-empirische Bestandsaufnahme der soziokulturellen Verfassung der jungen Generation. Unterschiedlichste Aspekte der jugendlichen Alltags- und Lebenswirklichkeit (Schule, Berufswahl, Gesundheit, Sport, Politik und so weiter) werden in der Publikation nicht nur beschrieben, sondern mittels einer Vielzahl persönlicher Zeugnisse der Jugendlichen illustriert. Wie in den Vorgängerstudien greift das SINUS-Institut hierbei auf ein breites methodisches Spektrum zurück: Neben Auswertung und Interpretation der explorativen Interviews sind im Forschungsbericht zahlreiche Bilddokumente wie Skizzen, Fotos und Collagen und ebenfalls eine Vielzahl von O-Tönen der befragten Jugendlichen zu finden – authentische Einblicke quer durch alle jungen Lebenswelten.

Auftraggeber und Partner:

„Wie ticken Jugendliche?“ ist eine im Auftrag von der Bundeszentrale für politische Bildung, der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, der BARMER, dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), dem Deutschen Fußball-Bund, der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, der Deutschen Sportjugend und der DFL Stiftung durchgeführte Studie des SINUS-Instituts, Heidelberg/Berlin.