Stellungnahme der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler zum 75. Jahrestag der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki

 

Nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und die Verhinderung der Atomwaffen-Verbreitung sind unabdingbar, soll der erneute Einsatz dieser Waffen 75 Jahre nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki nicht Realität werden. Es ist von zentraler Bedeutung, dass sich die europäischen Regierungen, die Europäische Union und gesellschaftsrelevante Stimmen stärker für diese Ziele einsetzen, um Verhandlungen und Vereinbarungen in Richtung einer atomwaffenfreien Welt zu revitalisieren. Die Europäische Union soll einen eigenständigen strategischen Dialog, insbesondere mit der Russischen Föderation und China, beginnen und mögliche Rüstungskontrollinitiativen in die Wege leiten.


 

(Berlin, 6. August 2020) Vor 75 Jahren wurden zum ersten Mal Atombomben im Krieg eingesetzt, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Menschen in Hiroshima und Nagasaki. Damit endete der Zweite Weltkrieg auch im Pazifik. Die neue Waffe ermöglichte den USA einen zeitweiligen militärischen und politischen Vorsprung, läutete aber zugleich das nukleare Wettrüsten mit der Sowjetunion im Kalten Krieg ein.

Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) blickt auf wirkungsvolle Initiativen zur Kritik der nuklearen Aufrüstung zurück. In der Göttinger Erklärung von 1957 hatten 18 Kernphysiker, darunter einige spätere VDW-Mitglieder, festgestellt: „Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.“ Tatsächlich hat die Bundesrepublik Deutschland nach langem Ringen auf eine atomare Rüstung verzichtet. Auch das vereinigte Deutschland verfügt nicht über Atomwaffen. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe der NATO besteht aber im Kriegsfalle die Möglichkeit, dass NATO-Streitkräfte aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien und der Türkei taktische Atomwaffen der USA in vorbestimmte Ziele transportieren. Nach dem Wegfall des INF-Vertrages und dem Auslaufen des New START-Vertrages zwischen den USA und der Russischen Föderation steht die internationale nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung vor dem Ende. Es besteht die Gefahr eines verstärkten, gefährlichen und teuren Rüstungswettbewerbs auch mit gravierenden Konsequenzen für Europa, wenn die Atommächte nicht zu einem echten und längerfristigen Dialog und vorzeigbaren Ergebnissen über Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung zurückkehren. Angesichts dieser kritischen Situation unterstreichen wir folgendes:

  1. Die Abwürfe zweier Atombomben auf die japanischen Städte standen am Ende des 2. Weltkrieges und am Beginn des Atomzeitalters, das im Kalten Krieg in ein jahrzehntelanges, gefährliches und teures Wettrüsten mündete und in dem der Einsatz von Atomwaffen in einigen Fällen kurz bevorstand, ganz zu schweigen von Nuklearunfällen und Beinahekatastrophen. Die Antwort auf diese krisenhaften Zwischenfälle waren Rüstungs- und Nichtverbreitungsverträge, so das Inkrafttreten des multilateralen Nichtverbreitungsvertrages 1970 oder der strategischen SALT/START-Verträge zwischen den USA und der Sowjetunion beziehungsweise der Russischen Föderation. Mit dem Ende des Wettrüstens in den 1990er Jahren war die Hoffnung auf eine Welt ohne Atomwaffen, tiefgreifende Abrüstung und verifizierbare Rüstungskontrolle verbunden. Die Bestände an nuklearen Sprengköpfen wurden von 70.000 auf 13.000 reduziert. Trotz eines solchen Erfolges wird dieses Erbe zurzeit verspielt.
  2. Der INF-Vertrag wurde gekündigt und der letzte strategische Rüstungskontrollvertrag New START zwischen den USA und der Russischen Föderation läuft Anfang 2021 aus. Die beiden führenden Atommächte, die über 90 Prozent aller Atomwaffen verfügen, müssen deshalb zurückkehren zu einem strukturierten und langfristigen Dialogprozess, in dessen Verlauf vorhandene Rüstungskontrollverträge gestärkt und die Abrüstung wieder ausgebaut wird. Risikoreduzierende und stabilisierende Maßnahmen können helfen, kurzfristig die Lücken nicht mehr gültiger Verträge zu füllen. Dazu ist der Wille zum Dialog unerlässlich. Die Einbeziehung „kleinerer“ Atommächte ist mittelfristig unerlässlich, wenn das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen ernstgemeint ist. Zudem besteht das Risiko, dass in Konflikten zwischen regionalen Atommächten Kernwaffen eingesetzt werden, was verheerende globale Folgen nach sich ziehen kann. Wissenschaftliche Simulationsmodelle zeigen, dass auch ein regionaler Atomwaffeneinsatz weltweite und oft auch langfristige klimatische, ökologische und ökonomische Folgen hat.
  3. Die Jahrestage der Atombombenabwürfe vom August 1945 verdeutlichen, welche katastrophalen Konsequenzen der Einsatz selbst „kleiner“ Atombomben haben kann. Die Abwürfe von „Little Boy“ (ca. 13 Kilotonnen Sprengstoffäquivalent) und „Fat Man“ (21 kT) auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki töteten sofort insgesamt zwischen 55.000 und 130.000 Menschen. Hinzuzurechnen sind bis heute Hunderttausende von Strahlenopfern („Hibakusha“).
  4. Das militärische Atomwaffenarsenal der neun Atomwaffenstaaten wird von SIPRI weltweit auf ca. 13.000 Atomsprengköpfe geschätzt. Die heutigen Wasserstoffbomben verfügen über das tausendfache Zerstörungspotential der Hiroshima-Bombe. Im Unterschied zu den sichtbar werdenden Folgen des Klimawandels, der die Lebensverhältnisse der meisten Menschen drastisch verschlechtern wird, kann sich die Menschheit mit dem massiven Einsatz heutiger Atomarsenale in kurzer Zeit selbst zerstören. Die derzeitige nukleare Modernisierung und ein erneutes Wettrüsten für Machtspiele zwischen den alten und neuen Supermächten riskieren das Überleben der Menschheit und stellen die strategische Krisenstabilität in Frage. Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow haben 1986 erklärt, dass ein Atomkrieg weder geführt noch gewonnen werden kann. Die Erneuerung dieser Erkenntnis ist für die ganze Menschheit überlebenswichtig.
  5. Die Anzeichen für eine neue Rüstungskonkurrenz, insbesondere zwischen den USA, der Russischen Föderation und China, sind nicht mehr zu übersehen: Die Atomwaffenstaaten verfügen über ehrgeizige und milliardenschwere Modernisierungsprogramme, sei es durch die Entwicklung neuer, kleinerer Atomsprengköpfe oder Trägersysteme wie zum Beispiel Hyperschallflugkörper oder den Ausbau der Raketenabwehr. Die Trump Administration zieht in Betracht, Atomwaffentests wiederaufzunehmen. Dies droht den noch nicht in Kraft getretenen umfassenden nuklearen Teststoppvertrag CTBT nachhaltig zu schädigen und neue Atomtests anderer Atomwaffenstaaten wie Indien oder Pakistan zu begünstigen. Die Russische Föderation propagiert neue Arten von Trägersystemen wie nuklearbetriebene Marschflugkörper oder atomare Unterwassertorpedos. Diese Entwicklungen müssen in Rüstungskontrollverträge einbezogen werden, die künftige technologische Entwicklungen dieser Art begrenzen. Dies gilt auch für die Beschränkung des Ausbaus einer globalen Raketenabwehr und für die Stationierung und den Einsatz von Waffen im Weltall.
  6. In den USA und der Russischen Föderation wird die Entwicklung treffgenauer, taktischer Atomwaffen mit geringerer Sprengkraft forciert. Dies ermöglicht flexiblere atomare Einsatzoptionen und verstärkt die These, dass die politische Funktion von Atomwaffen im Rahmen der Abschreckung durch nukleare Kriegsführungsvorstellungen aufgeweicht werden soll. Diese Entwicklung senkt die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen, wenn die Abschreckung versagt. Eine Eskalation zu einem umfassenden Atomkrieg ist nach einem Ersteinsatz nicht auszuschließen. Zunehmend sind konventionell und nuklearbestückte Trägersysteme nicht mehr zu unterscheiden, was in einer Krise fatal sein kann. Das entspricht der rhetorischen Frage des gegenwärtigen US-Präsidenten zu Beginn seiner Amtszeit, warum man Atomwaffen, die man hat, nicht auch einsetzen sollte.
  7. Neue Bedrohungen wie Hyperschallwaffen, die Einführung von treffergenauen, global einsetzbaren konventionellen Raketen, die Möglichkeit von Cyberangriffen oder der destabilisierende Charakter des Ausbaus von globaler Raketenabwehr müssen in die Rüstungskontrollregime der Zukunft einbezogen werden. Vorschläge aus der Wissenschaft dafür liegen vor, werden aber ignoriert. Insgesamt kann gefolgert werden, dass durch die aktuellen Entwicklungen die Gefahr von Atomwaffeneinsätzen aus Versehen, durch Fehlkalkulation oder in Krisen gestiegen ist und eine Eskalation militärischer Auseinandersetzungen bis hin zu einem globalen Atomkrieg heute noch weniger auszuschließen ist als in der Hochzeit des Kalten Krieges.

Daraus ergeben sich folgende Empfehlungen und Forderungen:

  • Der New-START-Vertrag soll um fünf Jahre verlängert und dieser Zeitraum für ernste, strukturierte Rüstungskontrollverhandlungen zwischen den USA und der Russischen Föderation genutzt werden. In diesem Zeitraum ist es erforderlich, dass beide Staaten keine neuen (strategischen) Atomwaffen stationieren.
  • In den nächsten fünf Jahren sollen die Nato-Staaten eine offene Debatte über die künftige Nuklearstrategie in Europa führen und die Einführung geeigneter Maßnahmen zur Risikoreduzierung, Krisenstabilität und Rüstungskontrolle mit der Russischen Föderation verhandeln.
  • Die fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, allesamt Atommächte, werden aufgefordert, einen strukturierten und offenen Dialog über die neuen Bedrohungen der Atomwaffenarsenale, eines Krieges aus Versehen und des damit verbundenen Eskalationsrisikos zu führen sowie  die Details ihrer  Doktrinen zu veröffentlichen. Auch muss bis zur nächsten NVV-Überprüfungskonferenz eine Erklärung über einen Verzicht der Atomwaffenstaaten auf den Ersteinsatz ihrer Atomwaffen abgegeben werden.
  • Die Europäische Union soll einen eigenständigen strategischen Dialog, insbesondere mit der Russischen Föderation und China, beginnen und mögliche Rüstungskontrollinitiativen in die Wege leiten.
  • Vor über zehn Jahren, am 26. März 2010, hat sich der deutsche Bundestag fraktionsübergreifend mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ausgesprochen. Die VDW fordert die Bundesregierung auf, dass dieser Beschluss umgesetzt wird!

Die Unterzeichner der Göttinger Erklärung unterstrichen: „Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute (das heißt 1957!) ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.“

Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle und die Verhinderung der Verbreitung dieser gefährlichen Waffen sind unabdingbar, soll der erneute Einsatz von Atomwaffen 75 Jahre nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki nicht Realität werden. Es ist von zentraler Bedeutung, dass sich die europäischen Regierungen, die Europäische Union und gesellschaftsrelevante Stimmen stärker für diese Ziele einsetzen, um Verhandlungen und Vereinbarungen in Richtung einer atomwaffenfreien Welt zu revitalisieren.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Mitglied im Vorstand der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler e.V. (VDW) Seit ihrer Gründung 1959 durch Carl Friedrich von Weizsäcker und weitere prominente Atomwissenschaftler („Göttinger 18“) fühlt sich die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) der Tradition verantwortlicher Wissenschaft verpflichtet. Sie nimmt Stellung zu Fragen von Wissenschaftsorientierung und Technologieentwicklung einerseits und aktuellen gesellschaftlichen Fragen zu Themen wie Frieden & Abrüstung, Klima & Biodiversität, sozioökologische Transformation & soziale Gerechtigkeit, Digitalisierung & Gesellschaft sowie Whistleblowing andererseits. Mit den Ergebnissen ihrer Arbeit wendet sich die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler an die interessierte Öffentlichkeit und an Entscheidungsträger auf allen Ebenen von Politik und Gesellschaft.