Ein Essay von Rudolf Tillig
Es ist eine merkwürdige Dialektik: Weil Daten angeblich „nicht besessen“ werden können, dürfen sie von jedem besessen werden, der schnell genug ist. Weil sie „keinen Träger“ haben, darf jeder sie tragen. Weil sie „nicht rivalisierend“ sind, darf man sie rivalitätslos ausbeuten. Das Ergebnis ist eine juristische Enteignung der vielen durch die Entfesselung der wenigen.

Es ist eine der großen Ironien des Rechts, dass es stets den Anspruch erhebt, mit der Wirklichkeit Schritt zu halten – und doch immer dort stehen bleibt, wo es sich am sichersten fühlt: in der Vergangenheit. Juristen sind Hüter der Ordnung, und Ordnung liebt den Stillstand. Sie neigen dazu, die Welt in jene Formen zu pressen, die sie kennen, und das Unbekannte so lange zu verneinen, bis es ihnen in die Bücher geschrieben wird.
Man kann es ihnen nicht verdenken. Das Recht ist konservativ, weil es konservieren soll. Doch manchmal verwandelt sich diese Tugend in Trägheit – und dann geschieht, was jetzt im digitalen Zeitalter geschieht: Die Welt verändert sich, aber das Recht weigert sich, hinzusehen.
Es behauptet, Daten seien keine „Sachen“. Es sagt, sie hätten „keinen Träger“. Es erklärt, sie seien „nicht rivalisierend“, „nicht beherrschbar“, „nicht abgrenzbar“. Und daraus zieht es den Schluss, dass Eigentum an Daten ein Widerspruch in sich sei.
Damit liegt es falsch.
I. Das falsche Fetischobjekt: Körperlichkeit
Das klassische Eigentumsrecht entstand in einer Welt, in der Besitz greifbar war. Eigentum bedeutete Herrschaft über Dinge: Land, Vieh, Hausrat. Der Eigentümer konnte zeigen, was ihm gehörte; er konnte es anfassen, bewachen, vererben.
Doch der Fortschritt hat diese Welt längst hinter sich gelassen. Wir haben geistiges Eigentum geschaffen, Patente, Marken, Rechte am eigenen Bild. Wir haben gelernt, dass auch das Unsichtbare und das Geistige Schutz verdient – weil es Ausdruck des Handelns, des Schöpfens, der Identität ist.
Warum also hält das Recht an der Körperlichkeit fest, als wäre sie der letzte Rettungsanker gegen das Unbegreifliche? Daten sind keine Materie, gewiss. Aber sie sind Realität – Ausdruck von Verhalten, Entscheidung, Gesundheit, Bewegung. Sie sind keine bloßen Zeichen, sie sind Spuren von Sein.
Das Recht, das sie als „trägerlos“ bezeichnet, verwechselt Materialität mit Existenz.
So wie die Philosophie des 19. Jahrhunderts in der Seele nur ein chemisches Produkt sah, so sieht das heutige Recht in Daten nur Signale.
Es vergisst, dass sie Ursprung haben – und dass Ursprung Beziehung bedeutet.
II. Die Ursprungsblindheit des Rechts
Jedes Datum hat einen Autor, auch wenn dieser unbewusst handelt. Es entsteht aus einer Handlung, einer Wahrnehmung, einem physischen oder sozialen Zustand. Daten sind daher ursprungsgebundene Informationen. Sie sind nicht herrenlos, sondern zuordenbar.
Das aber will das Recht nicht sehen. Denn es müsste dann anerkennen, dass der Mensch nicht nur Objekt, sondern Urheber des digitalen Raumes ist.
Stattdessen zieht es sich auf die bequeme Lehre zurück, dass Daten keine Eigentumsobjekte sein könnten – und überlässt sie damit jenen, die sie sammeln.
Es ist eine merkwürdige Dialektik:
Weil Daten angeblich „nicht besessen“ werden können, dürfen sie von jedem besessen werden, der schnell genug ist.
Weil sie „keinen Träger“ haben, darf jeder sie tragen.
Weil sie „nicht rivalisierend“ sind, darf man sie rivalitätslos ausbeuten.
Das Ergebnis ist eine juristische Enteignung der vielen durch die Entfesselung der wenigen.
III. Die Wiederkehr des terra nullius
In alten Atlanten des 18. Jahrhunderts konnte man sie finden: jene weiten Flächen, auf denen in feiner Schrift stand „unclaimed“. Man meinte damit Gebiete, die angeblich niemandem gehörten. Dass dort Menschen lebten, spielte keine Rolle, denn sie kannten das europäische Eigentumsrecht nicht. Ihre Lebensform passte nicht in die Paragraphen der Entdecker – und wurde daher rechtlich ausgelöscht.
Heute wiederholt sich dieses Muster im Digitalen. Die großen Plattformen haben aus dem Internet ein terra nullius gemacht. Sie bezeichnen es nicht so, aber sie handeln danach. Jedes Klickverhalten, jede Kommunikation, jede Bewegung gilt als unbeanspruchtes Land. Wer sie zuerst erhebt, besitzt sie. Wer sie auswertet, veredelt sie.
Doch was wäre das für ein Eigentum, das sich auf die Abwesenheit seiner eigentlichen Eigentümer gründet? Es ist Kolonialismus im Gewand der Datentechnik – die Fortsetzung der Eroberung mit anderen Mitteln.
IV. Die Furcht vor dem Kontrollverlust
Juristen fürchten Chaos. Sie fürchten, dass ein Dateneigentum unzählige Miteigentümer schafft, dass Lizenzen, Ansprüche, Klagen das System überfluten. Doch diese Angst ist ein Phantom, geboren aus der eigenen Ordnungssehnsucht.
Denn die Komplexität existiert längst – sie wird nur nicht anerkannt. Schon heute teilen sich Dutzende Akteure (Plattformen, Dienstleister, Datenhändler) ein und dasselbe Informationsgut, ohne dass der ursprüngliche Träger auch nur weiß, dass er beteiligt ist. Das Recht hat diese Realität nicht beseitigt, sondern unsichtbar gemacht.
Ein modernes Dateneigentum würde sie lediglich sichtbar, überprüfbar und verhandelbar machen.
Es würde die Rechte, die heute informell und einseitig existieren, in ein geregeltes Verhältnis setzen.
Es würde Ordnung schaffen, wo jetzt Anarchie herrscht.
Die Angst vor der Ordnung ist also eine Angst vor der eigenen Pflicht.
V. Vom Besitz zur Verantwortung
Es ist höchste Zeit, das Eigentum wieder als Beziehung zu begreifen. Eigentum war nie nur Ausschluss, sondern immer auch Verantwortung. Wer etwas besitzt, steht in einer Beziehung zu anderen – und wird an ihr gemessen.
Im Digitalen heißt das: Wer Daten nutzt, übernimmt Verantwortung gegenüber deren Ursprung. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für Staaten, Wissenschaft oder KI-Systeme. Denn jede Nutzung erzeugt Folgen – soziale, wirtschaftliche, psychologische.
Das neue Eigentum an Daten wäre daher kein Rückfall in Privatbesitz, sondern ein Schritt zu verantwortlicher Teilhabe. Nicht „Ich besitze“, sondern „Ich erkenne an, dass dies nicht mir allein gehört“.
Das ist kein Rückschritt, sondern die Rückkehr zur Idee des Eigentums als sittlicher Institution – so, wie es das europäische Denken immer verstanden hat.
VI. Der Preis des Beharrens
Wer weiter behauptet, Daten seien eigentumsunfähig, zementiert ein System, in dem die Macht über Menschen aus ihrer rechtlichen Unsichtbarkeit gewonnen wird. Das ist nicht Neutralität, das ist Parteinahme – zugunsten derjenigen, die aus dieser Unsichtbarkeit Kapital schlagen.
Das Recht darf sich nicht länger darauf berufen, dass seine Begriffe unpassend seien. Es ist seine Aufgabe, neue zu schaffen. Denn das Eigentum hat sich immer weiterentwickelt: vom Besitz über Land, zu geistigem Schaffen, zu Erfindungen und Marken. Warum also sollte es beim Menschen aufhören, sobald er digital handelt?
VII. Die europäische Antwort
Europa könnte diese Wende vollziehen. Nicht, indem es den anglo-amerikanischen Marktbegriff von „property“ kopiert, sondern indem es sich auf seine eigene Tradition besinnt: Eigentum als Ausdruck von Würde, Freiheit und Verantwortung.
Ein Dateneigentum europäischen Zuschnitts wäre kein Patent auf Bits, sondern ein Recht auf Beziehung – auf Kontrolle, Teilhabe, Transparenz. Es würde den Ursprung der Daten anerkennen, ohne Innovation zu ersticken. Es würde das digitale Niemandsland in eine Rechtsgemeinschaft verwandeln.
Vielleicht ist das die tiefste Aufgabe des Rechts in unserer Zeit: nicht die Vergangenheit zu schützen, sondern das Unsichtbare sichtbar zu machen. Die Juristen werden sagen, das sei zu viel verlangt. Aber man könnte ihnen antworten:
Zu ihrer Zeit galten auch Bücher als gefährlich, Maschinen als unbeherrschbar und Gedanken als nicht justiziabel. Und doch hat sich das Recht jedes Mal gewandelt – nicht, weil es wollte, sondern weil es musste.
Diesmal steht mehr auf dem Spiel.
Nicht nur Besitz, sondern Selbstbestimmung.
Nicht nur Markt, sondern Menschsein.
Nachbemerkung
Dieser Text ist den Juristen gewidmet – und all jenen, die glauben, dass das Recht nur bewahren, nicht gestalten dürfe. Möge er sie daran erinnern, dass jedes Eigentum mit einem Akt der Anerkennung begann. Und dass auch im digitalen Zeitalter niemand „unclaimed“ ist.