„Was religiöse Menschen bewegt und was ihre religiöse Erfahrung bedeutet, wird kaum noch verstanden“

 

Nach Einschätzung des amerikanischen Rechtswissenschaftlers Joseph H.H. Weiler ist in Europa der Glaube an ein säkulares Leben selbst zu einer Art Religion geworden. Religion werde zunehmend als Sache von Ethik und Moral verstanden, die sich auch ohne Religion begründen ließen: „In dieser Sichtweise geht das spezifisch Religiöse verloren. Es verbindet sich nicht mit Zwang, sondern mit Freiheit.“

(Münster, 6. Juni 2023) Der Glaube an ein säkulares Leben ist in Europa nach Einschätzung des amerikanischen Rechtswissenschaftlers Joseph H.H. Weiler selbst zu einer Art Religion geworden. „Das Verständnis für das Spezifische religiösen Lebens, ob jüdisch, christlich oder islamisch, ist in der säkularen Gesellschaft weithin verloren“, sagte der an der New York University lehrende Wissenschaftler am Montag, den 5. Juni 2023, an der Uni Münster in einem Vortrag über das christliche Erbe in Europa. „Was religiöse Menschen bewegt und was ihre religiöse Erfahrung bedeutet, wird kaum noch verstanden“, so der in Südafrika geborene Professor für Europarecht. Die Besonderheit des Religiösen liege nicht nur im Bekenntnis, sondern beziehe sich auch auf „das Heilige“, das Sakrale, und schließe die im Alltag gelebte religiöse Praxis ein.

Der Rechtswissenschaftler jüdischen Glaubens verwies darauf, dass das Christentum in Europa als tatsächlich gelebte Religion heute bereits in der Minderheit sei. Auf diesen gesellschaftlichen Umstand habe es selbst noch keine angemessene Antwort gefunden. Zu beobachten sei ein zunehmendes gesellschaftliches Unverständnis für religiöses Leben, das sich teilweise als Intoleranz auch gegenüber dem Christentum zeige. Das habe Folgen: „Viele gläubige Menschen verheimlichen ihre Religiosität im öffentlichen Diskurs, statt sich zu bekennen.“

Auch werde Religion zunehmend als Sache von Ethik und Moral verstanden, so Weiler, die sich auch ohne Religion begründen ließen. „In dieser Sichtweise geht das spezifisch Religiöse verloren. Es verbindet sich nicht mit Zwang, sondern mit Freiheit. Wer religiös ist, wird Intoleranz gegenüber anderen gerade aus religiösen Gründen ablehnen.“ Den politischen Diskurs könnten Religionen nach Einschätzung des Forschers bereichern, weil sie Menschen Pflichten und Verantwortung zuschrieben. „Das kann den auf individuelle Rechte fixierten Blick des säkularen Liberalismus korrigieren. Der religiöse Diskurs befasst sich weniger mit Rechten als mit Pflichten und Verantwortlichkeiten.“

Der Vortrag über das christliche Erbe in Europa in den „Münsterischen Gesprächen zum Öffentlichen Recht“ trug den Titel „Christian Heritage in Europe Today – Religion, Politics, Law“. Eingeladen hatten die Juristische Fakultät, das Centrum für Religion und Moderne (CRM) und der Exzellencluster „Religion und Politik“ der Universität Münster.