Internationaler Tag gegen Menschenhandel 2024: Neue Studie bestätigt gravierende Mängel bei der Unterstützung von Betroffenen der Arbeitsausbeutung

 

Im Bereich sexueller Ausbeutung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Unterstützungsstrukturen etabliert, die aus dem Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen erwachsen sind. Im Bereich der Arbeitsausbeutung sind keine vergleichbaren Unterstützungsstrukturen entstanden. Für ausgebeutete Menschen sind die Hürden, sich an die Polizei oder Beratungsstellen zu wenden, mitunter sehr hoch; Grund dafür ist auch die Abhängigkeit von den Täter*innen, insbesondere in Bezug auf die Wohnsituation.

(Berlin, 30. Juli 2024) Anlässlich des Internationalen Tags gegen Menschenhandel fordert der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. (KOK) eine bedarfsgerechte Unterbringung für Betroffene von Menschenhandel aller Ausbeutungsformen. Der KOK begrüßt, dass die Berichterstattungsstelle Menschenhandel des Deutschen Instituts für Menschenrechte den Tag zum Anlass nimmt, um die Ergebnisse der Studie „Ein bisschen sicherer als auf der Straße – Unterkünfte für Betroffene von Arbeitsausbeutung in Deutschland“ vorzustellen.

Die Studie informiert über Menschenhandel

Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, die in Deutschland unter Strafe gestellt ist. Täter*innen werben Betroffene gezielt an und nutzen ihre Zwangslage oder Hilflosigkeit aus, um ihre Arbeitskraft auszubeuten. Das geschieht unter anderem in der Landwirtschaft, der Fleisch verarbeitenden Industrie oder auf dem Bau. Die Betroffenen können nicht mehr selbst über ihre Arbeitskraft bestimmen und bekommen wenig oder gar keinen Lohn. Sie müssen oftmals unter sehr schlechten Bedingungen arbeiten oder erfahren sogar Gewalt. Befreien sie sich aus der Ausbeutungssituation, bedeutet dies in der Regel sofortigen Verlust von Arbeitseinkommen und Unterkunft. Nicht selten werden sie auch von den Täter*innen bedroht. Betroffene brauchen deshalb schnell Unterstützung und Sicherheit.

Die Europaratskonvention gegen Menschenhandel verpflichtet Deutschland dazu, für alle Betroffenen von Menschenhandel unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem Aufenthaltsstatus und der Form der Ausbeutung eine angemessene und sichere Unterkunft zu gewährleisten.

Im Bereich der sexuellen Ausbeutung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Unterstützungsstrukturen etabliert, die aus dem Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen erwachsen sind. Im Bereich der Arbeitsausbeutung sind keine vergleichbaren Unterstützungsstrukturen für Betroffene entstanden. Obwohl alle Ausbeutungsformen alle Geschlechter betreffen, zeigt sich bei der Gruppe der Betroffenen von Arbeitsausbeutung eine wesentlich höhere Heterogenität als im Bereich der sexuellen Ausbeutung. In der Arbeitsausbeutung werden häufiger Männer, Paare und ganze Gruppen von Arbeitnehmer*innen unterschiedlichen Geschlechts, teils auch im Familienverbund, festgestellt, die gemeinsam nach Deutschland kommen und hier ausgebeutet werden.

Aktivitäten der Behörden

Das BKA rechnet Menschenhandel der sogenannten Kontrollkriminalität zu, in der Ermittlungsverfahren typischerweise durch polizeiliche Kontrollen und nicht durch Eigeninitiative der Betroffenen eingeleitet werden. Zahlen des BKA spiegeln also auch die Ergebnisse der Ermittlungsarbeit und nicht notwendigerweise das tatsächliche Ausmaß von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung wider. Die Hürden, sich an die Polizei oder Beratungsstellen zu wenden, sind mitunter hoch. Gründe dafür sind beispielsweise die Abhängigkeit von den Täter*innen – insbesondere auch in Bezug auf die Wohnsituation – sowie die Angst, selbst belangt zu werden, beispielsweise wegen aufenthaltsrechtlicher Delikte, oder die Tatsache, dass sich Betroffene selbst nicht als „Opfer“ sehen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass eine Vielzahl von Fällen unentdeckt bleibt.

Das Bundeskriminalamt veröffentlicht jährlich das Bundeslagebild Menschenhandel und Ausbeutung. Das Bundeslagebild stellt Zahlen zu Ermittlungsverfahren dar, die im jeweiligen Jahr durch die Landeskriminalämter, das Bundeskriminalamt (BKA), die Bundespolizei und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls abgeschlossen und an die Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Demzufolge identifizierten die Ermittlungsbehörden in den im Jahr 2022 abgeschlossenen Verfahren 1.019 Betroffene von Arbeitsausbeutung. Im Jahr 2021 waren es 147 und 2020 lediglich 73. Die hohe Anzahl von bekannt gewordenen Betroffenen im Jahr 2022 ist dabei auf zwei abgeschlossene Großverfahren zurückzuführen.

Unterkünfte für Betroffene von Arbeitsausbeutung in Deutschland

Der Bedarf an Unterkünften für von Arbeitsausbeutung Betroffene kann nicht gedeckt werden, und ihre Menschenrechte werden vielfach missachtet. Vor diesem Hintergrund hat sich die Berichterstattungsstelle Menschenhandel des Deutschen Instituts für Menschenrechte in der Studie „Ein bisschen sicherer als auf der Straße – Unterkünfte für Betroffene von Arbeitsausbeutung in Deutschland“vertieft mit der Unterkunftssituation von Betroffenen von Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung auseinandergesetzt.

Sophia Wirsching, Geschäftsführerin des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel e.V. (KOK), betont: „Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen den dringenden Handlungsbedarf. Die Politik muss endlich die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen, damit alle Betroffenen von Menschenhandel angemessen unterstützt und geschützt werden können. Besonders im Bereich der Arbeitsausbeutung gibt es gravierende Lücken, die dringend geschlossen werden müssen.“

In der Praxis der Fachberatungsstellen zeigt sich bereits seit Jahren, dass die adäquate Unterbringung von Menschenhandel Betroffener nicht gesichert ist. Obwohl internationale und europäische Regelungen das Recht auf angemessene Unterkunft festschreiben, wird dieser Bedarf bei weitem nicht gedeckt. Betroffene von Arbeitsausbeutung stellen die Hilfestrukturen oftmals vor besondere Herausforderungen. Teilweise werden große Gruppen potenziell Betroffener entdeckt, die sehr heterogen sind. Insbesondere für männliche Betroffene und Gruppen gibt es keine geeigneten Unterkünfte. Stattdessen werden kurzfristig Hotels, Hostels oder Unterkünfte für Asylsuchende genutzt, die jedoch nicht immer den notwendigen Schutz und die erforderliche Betreuung bieten.

Bereitstellung bedarfsorientierter und sicherer Unterkünfte

Um den Bedarfen gerecht zu werden, sind flexible Strukturen notwendig. Es braucht in Unterkünften Schutzräume für Frauen, queere Menschen und für Personen, die von Täter*innen bedroht werden, aber auch Wohneinheiten für Gruppen und für Paare beziehungsweise Familien.

Dr. Adina Schwartz, Vorstandsfrau des KOK ergänzt: „Die Berichterstattungsstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte zeigt mit der neuen Studie die gebotenen Handlungsnotwendigkeiten für Bund, Länder und Kommunen auf. Die formulierten Handlungsbedarfe müssen ernst genommen werden und sollten im Nationalen Aktionsplan Menschenhandel abgebildet werden. Es braucht sichere Unterkünfte für alle, eine Stärkung der Kooperation von Behörden und Beratungsstellen, eine langfristige und ausreichende Finanzierung der Beratungsstellen und den sicheren und reibungslosen Zugang zu Recht für die Betroffenen von Menschenhandel.“

Sophia Wirsching ist Geschäftsführerin des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Menschenhandel e.V. (KOK).

Der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel – KOK e.V. ist ein Zusammenschluss von 43 spezialisierten Fachberatungsstellen und Organisationen, die sich für Betroffene von Menschenhandel und für von Gewalt betroffene Migrant*innen einsetzen.

Die Studie „Ein bisschen sicherer als auf der Straße – Unterkünfte für Betroffene von Arbeitsausbeutung in Deutschland“ steht über diesen Link zum Download als PDF-Datei bereit.