NGOs veröffentlichen Datenbank zu Rüstungsexporten

 

Facing Finance und urgewald haben mit der „ExitArms“-Datenbank die erste öffentliche, globale Datenbank zu Unternehmen veröffentlicht, die an Rüstungsexporten an Kriegsparteien beteiligt sind. Die Datenbank belegt, dass sich die Rüstungsindustrie nicht immer an internationale Abkommen wie UN-Waffenembargos oder den Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty) hält: Beispielsweise erfolgten auch nach der Verhängung des UN-Waffenembargos Lieferungen an Kriegsparteien im Libyen-Krieg. Speziell vor diesem Hintergrund versucht die ExitArms-Datenbank auch, den tatsächlichen Waffeneinsatz in Kriegen zu dokumentieren.


NU 220721 urgewald

(Berlin, 27. Juni 2022) Die Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen Facing Finance und urgewald haben heute die „ExitArms“-Datenbank veröffentlicht. Es handelt sich hierbei um die erste öffentliche, globale Datenbank zu Unternehmen, die an Rüstungsexporten an Kriegsparteien beteiligt sind. Als „Kriegsparteien“ werden im Kontext der Datenbank Länder bezeichnet, in denen Kriege herrschen, und externe Akteure/Staaten, die mindestens direkt durch Truppen an einem Krieg und gegebenenfalls zusätzlich indirekt durch Waffenlieferungen an eine kriegführende Partei beteiligt sind.

Zum Start der ExitArms-Datenbank deckt die Analyse die Jahre 2015 bis 2020 ab wobei Rüstungsexporte auch vereinzelt über diesen Zeitraum ins Jahr 2021 hinausgehen können – Grund: Zeitunterschied zwischen Bestellung und letzter Auslieferung, die bis zum Rechercheschluss November 2021 noch erfasst werden konnte. Die Datenbank führt rund 500 Unternehmen auf, die in diesem Zeitraum direkt, über Tochtergesellschaften oder über Joint Ventures an knapp 1.400 Rüstungsexporten beteiligt waren. Hierdurch wurden 33 Kriegsparteien beliefert, die in 52, größtenteils innerstaatlichen Kriegen involviert waren.

Für die ExitArms-Datenbank werden methodisch nur Kriege nach dem „Heidelberger Konfliktbarometer“ erfasst, die ohne Mandat der Vereinten Nationen geführt werden. So wurden im Untersuchungszeitraum in Afghanistan, Mali, Syrien und Kongo (bestimmte) Konflikte der Stufe 4 und 5 nach Heidelberger Konfliktbarometer mit UN-Mandat geführt, sie sind daher nicht in der ExitArms-Datenbank enthalten. In einem zweiten Schritt werden entsprechende Exporte von Hauptwaffen(systemen) auf Basis der SIPRI Arms Transfer Database auf Länderebene identifiziert. Hiervon ausgehend recherchieren Facing Finance und urgewald in einem dritten Schritt akribisch die „Waffenlieferkette“ auf Unternehmensebene: vom Design bis hin zum Transport der fertigen Waffe beziehungsweise des fertigen Waffensystems. Die „Waffenlieferkette“ nach der ExitArms-Datenbank enthält somit Unternehmen, die für Waffendesign und -produktion sowie -lizensierung, -reparatur, -modernisierung oder -modifizierung verantwortlich sind, und auch den Waffenexporteur im engeren Sinne, der Verkauf und Transport übernimmt.

Hauptzielgruppe als Nutzer der ExitArms-Datenbank sind Finanzinstitute, die mit ihr erstmalig ein geeignetes Instrument haben, um eine Divestment-Strategie zur Rüstungsindustrie sinnvoll zu formulieren oder zu schärfen. Zudem richtet sich die Datenbank als Informationsquelle an Politik, Regulatoren, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft.

ExitArms-Datenbank: Differenzierten Blick auf Waffenexporte ermöglichen

Die ExitArms-Datenbank soll – auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine – zu einer auf Fakten basierenden Debatte um Waffenexporte beitragen. Sie wirbt für einen differenzierten Blick auf deren Folgen und bewertet die Exporte vor dem Hintergrund internationaler Verträge und Konventionen. Angesichts eines versuchten Imagewandels der Rüstungsindustrie vom „Schmuddelkind“ hin zum „Garanten für weltweite Sicherheit und Nachhaltigkeit“ warnt Thomas Küchenmeister, Geschäftsführer von Facing Finance: „Seit der russischen Invasion in der Ukraine erleben wir eine öffentliche Debatte, in der übersehen wird, dass Rüstungsunternehmen ihre Güter nicht nur für die heimische Landesverteidigung oder die Unterstützung der Ukraine produzieren, sondern sie auch an zahlreiche kriegführende Despoten und Autokratien liefern. Diese werden damit in die Lage versetzt, im eigenen Land und in anderen Ländern teils systematische Menschenrechtsverletzungen oder gar Kriegsverbrechen zu begehen. Die Kriege in Libyen, Syrien und im Jemen, die zu enormen humanitären Katastrophen geführt haben, stehen dafür als traurige Beispiele. Sie lassen die Behauptung der Rüstungsindustrie, sie sei ‚sozial‘ und ‚nachhaltig‘, zynisch erscheinen.“

So beliefern einige der in der ExitArms-Datenbank aufgeführten Rüstungsunternehmen wie Rostec, Raytheon, Leonardo, Airbus, BAE Systems und Lockheed Martin umfangreich Kriegsparteien weltweit. Teilweise geschieht dies sogar gleichzeitig an rivalisierende Länder wie Indien und Pakistan im Kaschmir-Konflikt: So lieferte beispielsweise Rostec im Untersuchungszeitraum der ExitArms-Datenbank Kampfhubschrauber an Pakistan und die zur Abwehr geeigneten tragbaren Luftabwehrflugkörper an Indien.

Zudem zeigt die ExitArms-Datenbank, dass Rüstungsfirmen wie Boeing und TKMS (ThyssenKrupp Marine Systems) ihre Geschäfte mit Bomben und U-Booten für die Türkei auch nach deren Einmarsch in Nordsyrien fortsetzten. Ebenso gingen Raytheons Lieferungen von gelenkten Bomben an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) nach Beginn des Jemen-Kriegs unvermindert weiter. Die gängige Ausrede der Rüstungsindustrie, sie würde die Lieferungen von Waffen kontinuierlich an die politische Situation in Empfängerstaaten anpassen (Ex-ante- vs. Ex-post-Betrachtung), wird nicht nur in diesen Fällen durch die ExitArms-Datenbank der Lüge überführt.

Die ExitArms-Datenbank belegt ebenfalls, dass sich die Rüstungsindustrie nicht immer an internationale Abkommen wie UN-Waffenembargos oder den Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty, kurz ATT) hält. Beispielsweise erfolgten auch nach der Verhängung des UN-Waffenembargos Lieferungen an Kriegsparteien im Libyen-Krieg. Speziell vor diesem Hintergrund versucht die ExitArms-Datenbank auch, den tatsächlichen Waffeneinsatz in Kriegen zu dokumentieren – in einzelnen Fällen wie dem Libyen-Krieg oder dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan ist dies bereits erfolgt.

Zentrale Ergebnisse der ExitArms-Datenbank-Recherche im Überblick:

  • Die zehn Unternehmen, die die meisten Kriegsparteien im Untersuchungszeitraum belieferten, waren (konsolidiert auf Mutterkonzern-Ebene betrachtet): Rostec (21 Kriegsparteien), gefolgt von Raytheon und Airbus (je 14), Leonardo (13), Lockheed Martin (12), BAE Systems sowie Pratt & Whitney und Boeing (je 10), AVIC und Rolls-Royce (je 9).
  • Aus Deutschland wurden zwischen 2015 und 2020 Waffen an 16 verschiedene Kriegsparteien geliefert, insbesondere an Indonesien, Ägypten, Indien, Irak und VAE. Insgesamt 41 in Deutschland ansässige Firmen (26 Mutterunternehmen und 15 Tochterunternehmen) sind derzeit in der ExitArms-Datenbank erfasst. Darüber hinaus dokumentiert die ExitArms-Datenbank, wie deutsche Unternehmen ihre Waffenlieferungen über ausländische Töchterunternehmen abwickeln. Diejenigen Unternehmen, die die meisten Kriegsparteien im Untersuchungszeitraum belieferten, waren die in Deutschland ansässige Tochter von Airbus Group, Airbus Defence and Space (10 belieferte Kriegsparteien), MTU Friedrichshafen (8), Rheinmetall (7) und ThyssenKrupp (5).
  • Saudi-Arabien, VAE, Ägypten sowie Indien und Pakistan gehörten zwischen 2015 und 2020 zu den am meisten belieferten Kriegsparteien weltweit. So sind entsprechend die drei Kriege, die am häufigsten mit Waffen versorgt wurden, der Krieg in Libyen, im Jemen sowie der Kaschmir-Konflikt.
  • So erhielt beispielsweise Saudi-Arabien im Untersuchungszeitraum als Kriegspartei im Libyen- und Jemenkrieg insgesamt 141 Lieferungen. Die Top 5 Lieferanten an Saudi-Arabien waren dabei Lockheed Martin Corp. (21 Lieferungen), Raytheon (20), Boeing (15), Airbus Group (13) und BAE Systems (13).
  • Die Türkei erhielt im Untersuchungszeitraum als Kriegspartei im Libyen-Krieg und in Nordsyrien insgesamt 63 Lieferungen. Die Top 5 Lieferanten an die Türkei waren dabei Raytheon (13 Lieferungen), Leonardo (10), Thales (8), Almaz-Antey und Boeing (jeweils 7).

Finanzindustrie sollte sich von der Rüstungsindustrie distanzieren

Niels Dubrow, Rüstungs-Experte bei urgewald: „Die Rüstungsindustrie hält sich nicht immer an gesetzliche Vorgaben und internationale Abkommen, geschweige denn an grundlegende Standards beziehungsweise Normen für verantwortungsvolles Handeln. Die ExitArms-Datenbank zeigt zwar ‚nur‘ die Spitze des Eisbergs, sie belegt aber empirisch, dass die Rüstungsindustrie offensichtlich keine Skrupel kennt und Kriegsparteien systematisch aufrüstet. Solange dies der Fall ist, sollten Unternehmen, die in der ExitArms-Datenbank zu finden sind, von Finanzinstituten bei Krediten, Versicherungen, Investments und Underwriting-Mandaten ausgeschlossen werden.“

Facing Finance und urgewald kritisieren derzeitige Tendenzen bei einzelnen Finanzinstituten, Selbstverpflichtungen zu Waffenexporten zu lockern oder nicht zu verschärfen. Als Gründe werden der Krieg in der Ukraine und die Diskussion um die Soziale Taxonomie der EU genannt, die stark von Lobbyaktivitäten der Rüstungsindustrie beeinflusst wird. Nicht selten wirkt es, als stecke dahinter allerdings in Wirklichkeit rein opportunistisches Verhalten und das in der Finanzbranche immer noch vorherrschende „Profit vor Moral-Denken“. Thomas Küchenmeister: „In den letzten Jahrzehnten haben Banken, Versicherungen und Pensionsfonds aus gutem Grund begonnen, internationale Standards der UN und der OECD zu übernehmen, welche die Achtung der Menschenrechte in den Geschäftspraktiken vorsehen. Die Rüstungsindustrie hat dies noch nicht getan und glaubt offensichtlich, dass diese Standards für sie nicht gelten. Will eine, sich zunehmend als nachhaltig darstellende Finanzindustrie nicht zur reinen ‚Greenwashing-Maschine‘ verkommen und jegliche Glaubwürdigkeit verlieren, darf sie die Rüstungsindustrie niemals als nachhaltig oder sozial klassifizieren.“

Politik ebenfalls in der Verantwortung

Facing Finance und urgewald verurteilen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auf das Schärfste. Gleichzeitig fordern sie mit Blick auf die Politik: Der Ukraine-Krieg darf nicht dazu führen, dass das legitime Recht auf Selbstverteidigung und die Unterstützung der Ukraine dafür missbraucht werden, um künftig Waffenlieferungen aller Art und an jeden Empfänger zu rechtfertigen. Denn so könnte Raum für eine willkürliche Anwendung geschaffen werden. Dann nämlich, wenn nicht allen Opfern von völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen gleichermaßen das Recht auf Selbstverteidigung zugestanden wird. Das zeigen Beispiele aus der Vergangenheit wie der völkerrechtswidrige Angriff der Türkei auf Kurdengebiete in Nordsyrien. Thomas Küchenmeister: „Hier gilt es, Doppelstandards und Selektivität zu vermeiden, damit keine Interessenpolitik mit humanistischer Tarnung betrieben wird.“

Facing Finance und urgewald setzen sich für strengere Rüstungskontrollgesetze auf nationaler und europäischer Ebene ein. Die angekündigten Gesetzesvorhaben (unter anderem im Koalitionsvertrag der Bundesregierung) dürfen nicht verschoben und müssen ambitioniert umgesetzt werden. Hierbei muss verankert werden, dass Waffengeschäfte mit kriegführenden Staaten grundsätzlich verboten sind. Dies schließt auch die Durchsetzung, Einhaltung und Anwendung existierenden Rechts wie des Vertrags über den Waffenhandel ein. Allerdings kann es Ausnahmen geben, in denen Waffenlieferungen, wie zum Beispiel derzeit an die Ukraine, kurzfristig ein Mittel sein können, um das Recht auf Selbstverteidigung gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg wahrzunehmen. Dafür bedarf es dann aber einer sorgfältigen parlamentarischen Begründungspflicht.

Niels Dubrow

Niels Dubrow ist Rüstungs-Experte bei urgewald.

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