Tief ist der Brunnen der Vergangenheit

 

Zum historischen Hintergrund des äthiopischen Bürgrkrierkiegs

von Helmut Falkenstörfer, Januar 2021

Ausgangspunkt des äthiopischen Bürgerkriegs war letztlich der Übergang der Macht an den Oromo Abyi Ahmed im Jahr 2018. Für die Tigre war das kein Regierungswechsel, sondern der Verlust einer für naturgegeben gehaltenen Macht. Es gab Spannungen. Abiy Ahmed entließ hohe Tigre-Funktionäre des Militärs und der Sicherheitskräfte. Schließlich erklärte Tigray im September 2020 die Zentralregierung für illegitim, da ihre Amtsperiode abgelaufen sei. Das stimmte. Abiy Ahmed hatte die ursprünglich für Mai 2020 angesetzten Wahlen verschoben. Aus Coronagründen, wie er sagte. Aber die Verschiebung kam ihm auch politisch gelegen.

Tigray wählte eine neue Regionalregierung. Abiy Ahmed seinerseits erklärte nun diese Regierung für illegitim. Das kam nicht gut an. Truppen der TPLF (Tigray People‘s Liberation Front) griffen einen Posten der Äthiopischen Armee in Tigray an. Die TPLF bestreitet das. Neutrale Beobachter gibt es in der Region nicht. Dafür jede Menge Gerüchte. Jedenfalls nahm Äthiopien das zum Anlass von Kriegshandlungen in Tigray, einschließlich Luftangriffen auf Stellungen der TPLF. Am Ende nahm die äthiopische Armee das kampflos geräumte Mekelle ein.

Der Krieg sei zu Ende, erklärte damals Äthiopiens Staatschef Abiy Ahmed. Er sei keineswegs zu Ende, antwortete Tigray-Chef Debretsion Gebremikael telefonisch aus dem Untergrund. „An jeder Front“ gingen die Gefechte weiter. Das ist leider die richtige Version. Der Krieg ist voll im Gange. Die Armee hat weitere Städte besetzt. Die TPLF ist im Untergrund und in der Lage, einen langen Guerillakrieg zu führen.

Die Tigray People‘s Liberation Front ist zugleich Regierungspartei des angeblich eroberten Bundeslandes Tigray und Guerillabewegung. Sie kann eine große Zahl von Kämpferinnen und Kämpfern aktivieren, nach Angaben der International Crisis Group 250.000. Im Sudan soll es bereits Trainingslager geben.

Die TPLF hat nach der Revolution von 1974 in einem 16-jährigen Guerillafeldzug 1991 die Macht in Äthiopien erobert und bis 2018 behalten. Heute ist sie über bewaffnete Dorfmilizen in ganz Tigray präsent. So ein Land erobert man nicht mit der Einnahme der Hauptstadt in einem Blitzkrieg. Man denkt an die afghanischenTaliban, die seinerzeit Kabul kampflos geräumt haben, womit der Krieg nicht zu Ende war, sondern erst begann.

Eritrea ist vom Norden her einmarschiert und hat die Städte Adua, Aksum und Schirre besetzt. Wie aus Berichten von Flüchtlingen und Telefonaten mit Asmara hervorgeht, plündern die eritreischen Soldaten, und auf den Straßen von Asmara werden bereits Beutestücke aus dem Feldzug verkauft – bis hin zu Haustüren.

Das Eingreifen der Eritreer wirft auch ein neues Licht auf den Friedensbringer Abiy Ahmed und seinen Nobelpreis. Man darf annehmen, dass er den Krieg voraussah und nördlich von Tigray keinen Feind haben wollte, sondern einen Verbündeten. Der Krieg lag in der Luft. In Addis Abeba sprach man seit längerem vom bevorstehenden Bürgerkrieg – mit der Furcht, daß er komme und der Hoffnung, daß er nicht kommt.

Der Boden des Brunnens

Hat man sich mit der Geschichte Äthiopiens befasst, fällt einem Thomas Manns Bild vom tiefen Brunnen der Vergangenheit aus den Josefsbrüdern ein. Der Boden des Brunnens liegt in der Zeit um Christi Geburt in Aksum im heutigen Tigray. Damals entstand das aksumitische Reich, von dem heute noch die Stelen von Aksum zeugen. Es war eines der bedeutenden Reiche der Antike, das im vierten Jahrhundert begann christlich zu werden. Unter dem Druck der Expansion des Islam minderte sich die Macht des Reiches bis Aksum Mitte des 10. Jahrhunderts durch die Invasion der aus dem Süden kommenden Königin Gudit zerstört wurde. Aksum war kein Ort der Macht mehr, wurde aber wieder Zentrum von Religion und alter Kultur – und blieb es bis heute.

Auf einer dreisprachigen Inschrift in Aksum aus der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts findet sich zum ersten Mal der Name „Äthiopier“ in dem Gebiet, das sich heute Äthiopien nennt. In der griechischen Fassung wird der König Ezana „basileus toon aithiopoon“, König der Äthiopier, genannt. Das bezieht sich wahrscheinlich darauf, dass Ezana Meroe, die Hauptstadt des Nubischen Reiches im Nordsudan, erobert hatte. Das Land wurde damals in der Welt des Mittelmeers Äthiopien genannt. Das griechische aithiops bedeutet wörtlich „Mensch mit verbranntem Gesicht“ und bezeichnet den Dunkelhäutigen.

Herodot (Historie VII, 70) spricht bei der Beschreibung des persischen Heeres von „wollhaarigen“ und „glatthaarigen“ Äthiopiern und meint damit Kontingente aus Afrika und Indien.

Die heutigen Tigre leben im Gebiet des alten aksumitischen Reiches, und ihre Sprache Tigrinya ist eine Weiterentwicklung des damals gesprochenen Ge’ez. Beeindruckende Zeugnisse der großen Vergangenheit sind die Stelen von Aksum, in der Neuzeit ergänzt durch eine Vielzahl eindrucksvoller archäologisch erschlossener Stätten. In Aksum wird die angebliche Bundeslade des Alten Testaments aufbewahrt. Es gibt zwei große Marienkirchen, eine aus dem 17., eine aus dem 20. Jahrhundert. Aksum gilt als heilige Stadt und war zeitweise Krönungsstadt der äthiopischen Kaiser. Anders als das sehr junge Addis Abeba atmet Aksum den Geist alter lebendiger Geschichte.

In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstand mit der Zagwe Dynastie in Lalibela ein neues Machtzentrum. 1270 ging die äthiopische Herrscherwürde nicht ohne Konflikte von Lalibela an den Yekuno Amlak, aus dem semitischen und christlich-orthodoxen Volk der Amharen, den Begründer der sogenannten salomonischen Dynastie. Er erhob den Anspruch, von Salomo und der Königin von Saba abzustammen, von deren Besuch in Jerusalem um 1000 v. Chr. das Alte Testament im 10. Kapitel des 2. Buchs der Könige erzählt. Von da an mussten alle Kaiser bis hin zu Haile Selassie von der gemeinsamen Nacht in Jerusalem abstammen.

Ein Kaiser aus Tigray

600 Jahre später bestieg endlich wieder ein Tigre den Kaiserthron: Kasa Marca aus Tigray wurde 1881 unter dem Namen Yohannes IV. Negus Negest, König der Könige, Kaiser. Er gewann Ruhm durch zwei siegreiche Schlachten gegen eine ägyptische Invasionsarmee, fand aber im Jahre 1889 bei Metemma an der Grenze zum Sudan den Tod gegen die Truppen des 1885 im Sudan gegründeten islamisch-fundamentalistischen Mahdi-Staates. Nachfolger wurde nicht sein Sohn und Erbe Mengesha. Die Macht usurpierte der König von Shoa und Gründer von Addis Abeba, Sahle Mariam, als Kaiser Menelik II, genannt nach dem sagenhaften Sohn von Salomo und der Königin von Saba. Er konnte zur Kaiserwürde greifen, weil er die größere Hausmacht besaß, unter anderem durch ein Bündnis mit Italien und die von dort gelieferten Waffen. Menelik vergrößerte durch koloniale Eroberungen Äthiopien auf annähernd das Doppelte. Die Macht blieb bei den Amharen und in Addis Abeba bis zum Sturz Haile Selassies 1974.

In dieser Zeit war das Verhältnis von Tigray zum Kaiserreich nicht immer gut. Wahrend der italienischen Invasion von 1935 stellten sich Teile von Tigray auf die Seite Italiens in der Hoffnung so eine bessere Position im Kolonialreich zu erreichen. Als Haile Selassie nach seiner Rückkehr aus dem Exil die zentralistischen Zügel anzog, kam es 1943 in Tigray zu dem woyene-Aufstand, der durch britische Bomben auf Mekelle, die Hauptstadt von Tigray, beendet wurde. Auch das trug zur Marginalisierung von Tigray bei.

Sieg in Addis Abeba

Starker Mann nach der Revolution von 1974 wurde Mengistu Haile Mariam, etwas unklarer Herkunft, jedenfalls kein Tigre. Es gab Tigre, die an der Macht teilhatten. Es gab andere, die gründeten 1975 die Aufstandsbewegung TPLF. Die war marxistisch eingestellt, ebenso wie das Regime, gegen das sie antrat. Sie kämpfte, wuchs und kämpfte bis sie im Mai 1991 gemeinsam mit der eritreischen EPLF mit einer riesigen Eselkarawane kampflos in Addis Abeba einzog, nachdem Mengistu Haile Mariam von einer Dienstreise abgewichen und ins Exil nach Zimbabwe geflohen war. Eritrea wurde unabhängig; die Tigre mit Meles Zenawi als Ministerpräsident übernahmen die Macht. Sie gründeten eine Bundesrepublik mit Anlehnung an die deutsche Verfassung. Die Tigre, die weit weniger als ein Zehntel der äthiopischen Bevölkerung stellen, übernahmen die zentralen Schlüssel der Macht. Die wichtigsten anderen Völker wurden in Form eines Systems von Blockparteien eingebunden. Zu den Siegern gehörte auch die Oromo Liberation Front (O.L.F.). Sie war kurz an der Regierung beteiligt, stieg dann aber 1992 aus und ging in den Untergrund. Dort kämpft sie bis heute für einen eigenen Staat der Oromo.

Meles heißt „er hat zurückgegeben“. Der Name wurde von manchen in dem Sinne gedeutet, dass nun Gott den Tigre die Macht zurückgegeben habe. Das ging gut bis 2012, als Meles Zenawi starb. Die Macht der Tigre fing an zu erodieren, und 2018 wurde Abiy Ahmed aus dem lange benachteiligten größten Volk Äthiopiens, den Oromo, Ministerpräsident. Wieder waren die Tigre out.

Der Faktor Rassismus

In dem Brunnen der Vergangenheit liegt ein zweiter Stein: der alte Rassismus der semitischen Völker den Afrikanern gegenüber. Ein Gefälle von semitischen zu afrikanischen Sprachen, von hellerer zu dunklerer Haut. Eine Tigre-Freundin redete über die Oromo ungefähr wie weiße Südafrikaner über schwarze Südafrikaner reden. So wie am Nil die Ägypter auf die Nordsudanesen herabschauen und die Nordsudanesen auf die Südsudanesen, so blicken die Tigre auf die Amharen herab und die Amharen auf die Oromo und erst recht auf die kleinen Völker weiter im Süden. Wie meist beim Rassismus ist das schwer zu fassen und auch nicht immer und überall so. Es gibt auch Mischehen unter den Volksgruppen. Aber auch die Distanz liegt in der Luft. Die Tigre schätzen die Einheit Äthiopiens solange sie oben sind. Sie geben ihrem Unbehagen deutlich Ausdruck, wenn sie – 6 Prozent der 110 Millionen Äthiopier ‑ von den Völkern des Südens regiert werden sollen.

Die Tigre haben 16 Jahre lang um die Macht gekämpft, und sie riskieren weitere Jahre des Krieges, wenn sie ihre mühsam errungene Oberherrschaft wieder herstellen wollen.

Eine Alternative für Äthiopien wäre es, Tigray einfach freizugeben und aus dem äthiopischen Bundesstaat auszuschließen. Dagegen spricht, dass es im übrigen Äthiopien, vor allem unter den Ende des 19. Jahrhunderts erst als Kolonien eroberten Völkern Konflikte und potentielle Abspaltungstendenzen gibt. Hier denkt man dann nicht an Afghanistan, sondern an den Zerfall Jugoslawiens.

Kolonisator und Kolonie zugleich

Das alles ist Teil eines größeren äthiopischen Problems, welches wenig im Blickfeld steht. Äthiopien ist zugleich Kolonialmacht und Kolonie. Am Ende des 19. Jahrhunderts, als die europäischen Kolonialmächte Afrika besetzten, eroberte der Norden des heutigen Äthiopien den Süden des Landes. Die semitisch-christlichen Völker des Nordens kolonisierten die vornehmlich kuschitischen Völker des Südens, die überwiegend Muslime oder Anhänger der alten Religionen waren. Als selbstbewusste afrikanische Macht nahm Äthiopien im Anfang des 20. Jahrhunderts diplomatische Beziehungen zu London, Paris, Rom und Berlin auf und eröffnete 1905 für Diplomaten und andere auswärtige Gäste das noch heute reizvolle Itegue (Kaiserin) Taitu-Hotel in Addis Abeba.

Das größte derr kolonisierten Völker sind und waren die Oromo, die rund 35 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Führung lag immer beim Norden – bis 2018 als der Oromo Abiy Ahmed an die Spitze trat. Das war zunächst Anlass für den derzeitigen Krieg. Es birgt aber hohes Potential für weitere Konflikte. Die Erfahrung zeigt, dass angrenzende Kolonien sich später ablösen als überseeische. Ein plastisches Beispiel ist die Auflösung der Sowjetunion und der Abfall von Kolonien wie Kasachstan, Azerbetschan, Armenien, Georgien oder Tadschikistan.

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