Die zentrale Rolle der Multi Domain Task Forces (MDTF) im neuen Kriegsführungskonzept des Westens

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann (Juni 2025)

Die Rückkehr von Mittelstreckenraketen nach Europa“ – so hat das Friedensgutachten 2025 das einschlägige Kapitel 3.3 betitelt. Auslöser für den Titel-Satz ist die unauffällige Vereinbarung vom Juli 2024 zwischen Washington und Berlin, ab 2026 konventionelle bodengestützte ballistische Raketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite (bis etwa 3.000 Kilometer) in Deutschland zu stationieren. Dieses Arsenal steht unter dem Befehl der Multi-Domain Task Force (MDTF), des US-Verbands, der die sogenannten „Long Range Weapons“ (Marschflugkörper und (ballistische) Raketen mit Mittelstreckenreichweite) vom Boden aus zum Einsatz zu bringen vermag. Zur Rolle dieser MDTF ist kürzlich ein bemerkenswert offenherziger Artikel erschienen. Autor ist ein deutscher General (Ulf Häussler), der bei der NATO im Einsatz ist. Ich hebe vier Punkte hervor.

1.      Auferstehung der “nuklearen Artillerie“

Bei der MDTF handelt es sich bekanntlich um einen Verband der US-Landstreitkräfte. Die US Army erlangt damit ebenfalls die Fähigkeit zum Einsatz von „Long Range Weapons“, über welche die Luftwaffe und die Marine der USA seit langem verfügen. Das INF-Abkommen hatte in Europa eben allein die landgestützten Versionen von „Long Range Weapons“ in Europa untersagt. Nachdem das INF-Abkommen abgeräumt wurde, findet in diesem Waffenbereich nun das nachholende Wettrüsten in hoher Geschwindigkeit statt.

Die Truppenbezeichnungen, die für die Verbände der neuen Formation der Landstreitkräfte, MDTF, verwendet werden, knüpfen interessanterweise an an jene aus der Zeit des Kalten Krieges – seinerzeit gab es sie in den modernen reichweitenstarken Versionen noch nicht, also wurden sie umgangssprachlich als »(nukleare) Artillerie« bezeichnet. Bei den heutigen Versionen braucht man das „Nukleare“ nicht mehr, weil die Digitalisierung inzwischen einen Grad der Zielgenauigkeit ermöglicht hat, der früher fehlte. Damals wurde die mangelnde Treffgenauigkeit durch die weit höhere Sprengkraft der nuklearen Bestückung ausgeglichen.

Die Bezeichnung ist historisch bemerkenswert. Anlass für die „Göttinger Erklärung“ führender Atomwissenschaftler, achtzehn an der Zahl, war eine Bemerkung des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, es handele sich bei Nuklearwaffen um eine Art von Artillerie-Geschossen. Er suchte die taktischen Atomwaffen, die seinerzeit zur Stationierung vorgesehen waren und in deutscher Verfügung gewesen wären, zu verharmlosen. Deswegen bezeichnete er sie auf einer berühmt-berüchtigten Pressekonferenz am 5. April 1957 als „Fortentwicklung der Artillerie“. Damit erreichte er jedoch das Gegenteil: Er löste eine Welle der öffentlichen Empörung aus, welche die angestrebte Entwicklung hin zur autonomen Verfügbarkeit nuklearer Waffen Deutschlands stoppte.

2.      Das neue operative Paradigma »Multi Domain Operations«

Bei der Indienststellung der MDTF seitens der USA in Europa handelt es sich nicht um einen isolierten Vorgang, sie ist vielmehr einer von vielen Beiträgen zur Umsetzung des seit Mitte der 2010er Jahre in Etablierung begriffenen neuen operativen Paradigmas »Multi Domain Operations« (MDO). Das führe zu einer Veränderung, die die Streitkräfte in Europa systemisch erfasst. Es geht somit um das Kriegsbild, welches mit der Wahl spezifischer Waffen verfolgt wird. Die öffentliche Debatte weicht einer Befassung mit dem Waffen-spezifischen Kriegsbild bislang aus, die leitenden Begriffe, unter die ein Mehr an Waffen subsumiert werden, das ist „Abschreckung“ und „Stärke“, sind genau solche, die erlauben, die Frage nach „Warum gerade diese Waffen?“ zu übergehen. Man will nicht hinschauen, dass es Alternativen gibt.

Häussler spricht von einem „Paradigmenwechsel“ (im Kriegsbild). Der drückt sich aus in veränderten Aktivitäten der Verteidigungsplanung. Dazu gehört die Entwicklung neuer Fähigkeiten und Doktrinen der Kriegsführung. Dazu gehören weiter Rüstungsaktivitäten von der Erprobung bis zur Beschaffung neuer Fähigkeitsträger sowie der erforderliche Aufwuchs an Personal.

Worum es geht, wird von Militärs den Nicht-Fachleuten durch ein einfaches Bild zu erklären versucht. Es lautet, man habe drei Optionen im Umgang mit einem feindlichen Bogenschützen („archer“):

  • You can deter the archer from doing something,
  • you can hit the arrow, but
  • you can also hit the archer.

Option (1) ist defensiv, allerdings lediglich intentional. Option (2) ist die Flugabwehr, scheint also materiell defensiv zu sein – wenn da nicht die Dualität wäre, dass man mindestens die Launcher, aber auch etliche sogenannte „Land-Luft-Abwehrraketen“ auch gegen Landziele, also offensiv, einsetzen kann. Option (3) ist explizit offensiv, denn ob der gegnerische Schütze schießen wird, weiss man ja nicht, er kann ja auch lediglich eine Abschreckungsintention haben. Hier kommt das sogenannte „Präemptive“ ins Spiel, das heißt der Zwang oder die Verführung, jemanden/etwas ‚vorsichtshalber‘ auszuschalten, also als erster zu schießen, weil der Gegner dem Anschein nach offensive Absichten habe und man ja selbst „Schütze“ ist, also beim Gegner dieselben Kalküle zu unterstellen hat, die man selbst hat.

3.      .Hintergrund zu »Multi Domain Operations«

Das MDO-Paradigma wurde seit Mitte der 2010er Jahre innerhalb der NATO entwickelt. Die USA hatten, wie üblich, eine Vorreiterrolle übernommen. Ein erstes Doktrinenhandbuch hat das U.S. Army Training and Doctrine Command am 6. Dezember 2018 eingeführt.
Im selben Jahr, ebenfalls 2018, wurde das MDO-Paradigma innerhalb der NATO aufgegriffen. Das erste Strategiepapier dazu war die »Joint Air Power Strategy« vom 26. Juni 2018.

Der NATO-Militärausschuss habe im Juli 2022 das – nicht öffentlich zugängliche – »NATO Initial Concept for Multi-Domain Operations«beschlossen. Politischerseits hat die NATO das MDO-Paradigma in den Gipfelerklärungen von 2022, 2023 und 2024 zur Grundlage ihrer Vorgaben für Verteidigungsplanung, Fähigkeitsentwicklung, Beschaffung sowie Abschreckung und Verteidigung gemacht.

Die Bundeswehr hat … mit ihrer Umsetzung des MDO-Paradigmas begonnen. Hierzu dient … das gemeinsam von BMVg und BwConsulting (der Inhouse-Beratungsgesellschaft der Bundeswehr) aufgesetzte Projekt »Operationelle Architektur«. Eine belastbare MDO-Befähigung für die Bundeswehr erfordert … eine Architekturlösung, die über die von den bisherigen Führungs- und Waffeneinsatzsystemen vermittelte Führungsfähigkeit hinaus die Landes- und Bündnisverteidigung in einem »hybriden, hochdynamischen, diffusen Bedrohungsszenario« abdeckt,was die gesamte Bundeswehr ebenso wie die Gesamtheit der Bündnispartner und – bündnisweit – die Führungsfähigkeit des zivilen Bereichs betrifft.

4.      Ein Beispiel für eine Einsatz-Option

Der Sinn der neuen Option wird vom Autor an einem Beispiel eingeführt:

Ein Beispiel wäre <das Ziel einer>… Neutralisierung einer Nuklearwaffenbasis im gegnerischen Hinterland.“

Um dieses Ziel zu erreichen stehen drei Optionen von Seiten unterschiedlicher Waffengattungen zur Verfügung:

  • „durch eine Cyberoperation, die die Steuerungssysteme der Trägersysteme funktionsunfähig macht,
  • durch eine kinetische Operation mit bunkerbrechenden hypersonischen Systemen, oder
  • durch eine Spezialkräfteoperation.“

Angenommen, die Verantwortlichen entscheiden sich für die Wahl einer kinetischen Operation, so „könnte die angestrebte Wirkung sowohl mittels landgestützter Systeme als auch aus der Luft oder von See – oder von Systemen mehrerer Dimensionsverantwortlicher konzertiert – erzeugt werden.

Das ist ein Beispiel, welches Zweierlei bestätigt:

  • Es geht um Interferenz der Long Range Systems, auch wenn (einstweilen) nur konventionell bestückt, mit der sog. strategischen Ebene, die nach bisherigem Denken Nuklearwaffen vorbehalten ist.
  •  Es geht um zielgenaue Wirkung bei hochverbunkerten Anlagen mittels „konzertierter“ Einwirkung, im Konzert des Einsatzes von Mitteln unterschiedlicher Waffengattungen. Man kann eben auch mit geringer Sprengkraft hochverbunkerte Anlagen ‚knacken‘. Man muss dazu nur zielgenau 20 Mal auf dieselbe Stelle treffen – Israels Streitkräfte haben es mit der Tötung des Hisbollah-Generalsekretärs Hassan Nasrallah samt der Riege seiner Parteispitzen im 20 Meter tiefen Führungsbunker gezeigt.

Hans-Jochen Luhmann, Mitglied der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>