Die EU hat am 16. Oktober 2025 einen „Fahrplan für die Verteidigungsbereitschaft 2030“ vorgelegt. Daran könnte Europa auch scheitern und in konkurrierende Nationalstaaten auseinanderbrechen. Das Programm der Unabhängigkeit von den US-Fähigkeiten ist strittig zwischen den EU-Staaten, entlang der Linie östliche Beitrittsländer versus westliche Altmitglieder. (November 2025)
Die Bereitschaft zur Transparenz in Fragen der Rüstung ist auf EU-Ebene deutlich höher als in Deutschland. Während die deutsche Bundesregierung die Öffentlichkeit im Nebel darüber belässt, mit welchen Fähigkeiten und welchen Schritten, und mit welchem Zeitplan, sie das Ziel erreichen will, die „konventionell stärkste Armee Europas“ zu schaffen, ist die EU dazu ganz anders drauf.
Sie hat am 16. Oktober 2025 einen „Fahrplan für die Verteidigungsbereitschaft 2030“ vorgelegt – mit dem vorangestellten Versprechen „Frieden sichern“. Am 23. Oktober 2025 hat der Europäische Rat das Vorhaben bestätigt – mit einer zentralen Ausnahme allerdings. Dem Fahrplan wird nun im Groben gefolgt, die ersten vier „Züge“ sollten bereits auf die Schiene gesetzt sein, doch dazu gab es keinen Konsens unter den Staatschefs – die Konfliktlinie lief zwischen Ost-Europa einerseits und West- und Südeuropa andererseits. Der Kern des Vorhabens wird hier umrissen.
1. Die Bedrohung, die Herausforderung
Da die EU ihre Texte nach einheitlicher Systematik verfasst, beginnt es schulgerecht mit der Skizzierung der anstehenden Aufgabe. Die wird so beschrieben:
„Russland hat seine Wirtschaft und Gesellschaft militarisiert. 2025 wird sein offiziell ausgewiesener Verteidigungshaushalt 7 % des BIP überschreiten. Rund 40 % seiner Haushaltsausgaben im Jahr 2025 fließen in Sicherheit und Verteidigung. Von diesem militarisierten Russland geht auf absehbare Zeit eine anhaltende Bedrohung für die europäische Sicherheit aus.“
Das war von NATO-Generalsekretär Mark Rutte vorab gespiegelt worden in einer spontanen Diskussions-Bemerkung beim 71. NATO-Parlamentarier-Treffen in Ljubljana am 13. Oktober 2025:
„as NATO, we are 25 times bigger than the Russian economy. Our military is infinitely superior … to the Russian military, when it comes to our air force, I mean, the Russians cannot even stand in the shadow with these MiG-31s, or whatever they call them, because they’re not well-trained fighter pilots. So, and then the question could be, ‘okay, but why then is Russia still a threat? And why do we have to spend more?’ Well, for two reasons: because they are willing to spend 40% of their state income on defence, so they are rapidly ramping up. And if you are willing, as a dictator, to accept 1 million of your people getting killed or seriously wounded with almost no territory gains in Ukraine “
Die Zahlen in den beiden Äußerungen zusammengenommen besagen:
- Die EU unterschlägt in ihrer Darstellung, dass Russland aus den sieben Prozent ihres BIP auch noch einen laufenden Krieg finanziert, also nicht nur investiert und Vorsorge treibt, sondern auch in erheblichem Umfang konsumiert, das heißt Kapazitäten vernichtet – und darüber hinaus menschliche Ressourcen in erheblichem Maße abbaut beziehungsweise zur Langzeitbelastung macht. Das ist wesentlich anders als bei den europäischen NATO-Partnern, die aktuell aufrüsten. Bei denen ist Brutto im Wesentlichen gleich Netto.
- Bei einem BIP-Verhältnis von 1:25 entsprechen sieben Prozent von Russlands BIP ein Dreizehntel (25/2) der Verteidigungsausgaben (in Höhe von 3,5 Prozent) der europäischen NATO-Staaten; also knapp 0,3 Prozent.
Wenn die militärische Herausforderung so, wie die EU sie darlegt, korrekt beschrieben ist, wovor sollen die Europäer sich dann fürchten? Die EU wie der NATO-Generalsekretär stellen, methodisch korrekt, diese Frage. Beide geben auch je eine Antwort. Doch die Antworten sind in beiden Fällen nicht satisfaktionsfähig, sie zeigen keine Bedrohung, die eine Aufrüstung wie konzipiert auch nur zum Teil rechtfertigt. Das Missverhältnis liegt in der Größenordnung einer Zehnerpotenz!
Eine politische Klasse, die meint, mit dem Informationsbedürfnis ihrer Wählerschaft und ihrer Rechenschaftspflicht zu einer existentiellen Frage in solcher Weise umgehen zu können, hat in einem demokratischen System keine Zukunftsperspektive.
2. Die Antwort der europäischen Gemeinschaft auf die Bedrohung
Die EU will Zweierlei erreichen – und das ist nach meinem Urteil jeweils auch rational. Sie beschreibt es so:
- „Für die Friedenssicherung durch Abschreckung müssen das Verteidigungsdispositiv und die Verteidigungsfähigkeiten Europas auch für die Schlachtfelder von morgen gerüstet sein und dem Wandel der Kriegsführung Rechnung tragen. Technologische Innovation … sind Voraussetzungen für Stärke auf dem Schlachtfeld. Wer seine eigenen Technologien entwickelt, wird am stärksten und am wenigsten abhängig sein; dies gilt insbesondere für die kritischen Systeme der modernen Kriegsführung wie Drohnen, Satelliten oder autonome Fahrzeuge. … Die Mitgliedstaaten müssen sich schnellstens mit einer unabhängigen interoperablen strategischen Kapazität ausrüsten, die gemeinsam entwickelt und aufrechterhalten wird“
Technologische sowie Rüstungs-Unabhängigkeit sind Bedingungen für eine erfolgreiche Abwehr. Bislang aber, so moniert die EU, werden immer noch weniger als 50 Prozent der Verteidigungsgüter innerhalb der EU beschafft. Außereuropäische Anbieter haben in jüngster Zeit sogar Marktanteile hinzugewinnen können. Programm ist also Autonomie der Rüstungswirtschaft, in der richtigen Erkenntnis, dass Abnützungskriege über die relativen wirtschaftlichen Fähigkeiten entschieden werden. Der Wahlspruch hat also nicht zu sein „si vis pacem, para bellum“, sondern „si vis pacem, para oeconomicam“.
- „Die Ukraine bleibt nach wie vor die erste Verteidigungslinie Europas und ist ein fester Bestandteil der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur, …“.
Eventuelles Schlachtfeld soll die vorgelegene Ukraine sein – sie übernimmt die Schlachtfeld-Rolle, die für Deutschland in der Zeit der Ost-West-Konfrontation bis 1989 vorgesehen war.
Die grundlegenden Aussagen der EU lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig:
„Die Erreichung der vollen Verteidigungsbereitschaft bedeutet, dass die Streitkräfte der Mitgliedstaaten dazu in der Lage sind, jede verteidigungsbezogene Krise, auch Kriegshandlungen mit hoher Intensität, zu antizipieren, sich darauf vorbereiten und darauf zu reagieren. … Das Bereitschaftsziel besteht im Kern darin, zu gewährleisten, dass Europa über das vollständige Fähigkeitendispositiv verfügt, das für die Abschreckung von jeglicher Aggression und den
a) Schutz seiner Grenzen
# zu Lande,
# in der Luft und
# auf See
sowie <Schutz> seiner Netze und Ressourcen
# im Cyberraum und
# im Weltraum
erforderlich ist.
Dieser umfassende Katalog von Fähigkeitszielen soll (gemeinsam) realisiert werden durch das Instrument der „Fähigkeitskoalitionen“. Bis Ende 2027 soll erreicht werden, dass in Europa mindestens 40 Prozent der Verteidigungsgüter gemeinsam beschafft werden. Auch ist vorgesehen, dass die „Pünktlichkeit“ der Verfolgung des Beschaffungsfahrplans durch einen „Jahresbericht über die Verteidigungsbereitschaft“ dokumentiert wird.
3. Priorisierung
Doch man kann nicht alles gleichzeitig angehen, es muss priorisiert werden. Dazu ist die Entscheidung der EU glasklar. Die Kommission schlug ein erstes Paket sog. „europäischer Leitinitiativen“ vor, die ihrem Wesen nach gesamteuropäisch sind.
- die europäische Drohnenabwehrinitiative
- der Schutzschild für die Ostflanke
- der europäische Luftschild
- der europäische Weltraumschild.
Auf das leitende Narrativ geschaut, fällt auf, dass alle vier Initiativen defensiv formuliert sind; und dass dazu in drei der Fälle auf die antike bis mittelalterliche Waffe „Schild“ Bezug genommen wird. Es ist somit zu prüfen, ob das, was da waffentechnisch für heute unterlegt ist, dem gewählten Narrativ des allein zur Abwehr geeigneten Geräts auch entspricht. Die Prüfung ergibt, ohne das hier zu belegen, das Erwartbare: Auch damit wird der Bürger an der Nase herumgeführt.
Auffällig ist zudem, dass die EU das Konzept verfolgt, alle Fähigkeiten des präsumptiven Gegners zu spiegeln, unter der Maxime „Was der Gegner hat, reicht als Begründung hin, deshalb müssen wir es auch haben.“ Gleichzeitig wird, mit großem Recht, Wert gelegt auf technologische Innovationen; die will man fördern, da will man an der Spitze der Bewegung stehen.
Nun ist es bekanntlich jedoch so, dass Innovationen überkommene Technologien obsolet machen. Der EU-Plan stellt Fertigkeitslücken relativ zum Bestand des Gegners fest. Mit diesem Spiegel-Konzept blendet man jedoch exakt die Obsoleszenz-Eigenschaft neuer Technologien aus, man überrüstet dann zwangsläufig in obsolet gewordenes Militärgerät. Schlachtschiffe versus U-Boote sind ein bekanntes Beispiel aus der Militärgeschichte, aktuell zeigt die Front in der Ukraine, dass der Panzer durch Drohnen, die ein gläsernes Schlachtfeld geschaffen haben, obsolet gemacht worden ist. Der NATO-Generalsekretär aber tut so, als ob der Panzerbau des Gegners die Bereitstellung einer funktionalen Waffe sei, die zu fürchten sei. In Wahrheit ist ihr Bau in Massen eher massive Geldverschwendung. Das nachzumachen, ist irrtümlich, da gedankenlos.
4. Résümée
Die EU unternimmt den berechtigten Ansatz, Europa militärpolitisch unabhängig von den USA aufzustellen. Dazu will sie Zweierlei erreichen: eine deutlich geringere Abhängigkeit von der US-Rüstungsindustrie sowie den eigenen Aufbau der sogenannten enabler-Kapazitäten, die die USA im NATO-Zusammenhang bislang monopolisiert hatten. Da ist die Weltraum-Technologie zentral.
Das Programm der Unabhängigkeit von den US-Fähigkeiten aber ist strittig zwischen den EU-Staaten, entlang der Linie östliche Beitrittsländer versus westliche Altmitglieder. Diese ambivalente Zielsetzung verfolgt die EU deshalb im Rahmen oder unter Deckung eines massiven beziehungsweise völlig unproportionierten Aufrüstungsprogramms. Auch das muss einem wirklichen Zweck dienen. Der aber wird nicht offenbart.
Die Zustimmung der Bevölkerungen zu diesem unproportionierten Aufrüstungsprogramm ist brüchig, weil es um die Verteilung knapper Ressourcen geht. Das Versteckspiel zu den faktisch verfolgten strategischen Zielen schürt zudem Misstrauen.
Europa begibt sich auf einen gefährlichen Pfad, mit viel Dynamit – daran könnte Europa auch scheitern und in konkurrierende Nationalstaaten auseinanderbrechen.
Hans-Jochen Luhmann, Mitglied der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).
