Um die Option „Absicherung durch beschlagnahmtes Vermögen der russischen Zentralbank“ wurde medial viel Schaum geschlagen, was der Bundeskanzler mit seiner Stilisierung zur „einzigen Option“ gespiegelt hat. Doch der Titel der Option „Reparation Loan“ sagt es bereits: Dieses Vermögen soll zum Wiederaufbau nach Ende der Kampfhandlungen reserviert sein und dann für den Wiederaufbau eingesetzt werden. (Dezember 2025)

1. Die finanziell prekäre Situation der Ukraine
Die Ukraine ist ein gebeuteltes Land. Sich selbst vollständig finanzieren, konnte sie eigentlich noch nie. Immer saugten Oligarchen über Korruption an den Zahlungsflüssen, die dem Staat zustanden; es brauchte immer einen Geldzufluss von außen. Bis zur Revolution und dem damit verbundenen Wechsel ins Lager des Westens im Februar 2014 hat Russland diese nährende Rolle gespielt, technisch über Rabatte auf den Bezug von Erdgas. Daneben war die Ukraine auf Kredite auf dem privaten Kapitalmarkt und seitens des Internationalen Währungsfonds (IMF) angewiesen. Im Frühjahr 2014 ist der Westen in diese Rolle eingetreten, die Russland freigab.
Seit Kriegsbeginn 2022 ist die Ukraine natürlicherweise vollständig abhängig von Finanzzuflüssen aus dem Westen. In dieser Analyse des Haushalts 2025 der Ukraine wurde stilisierend gesagt, der Haushalt ginge zu 100 Prozent für das Militär, für den Krieg, drauf, der zivile Teil des Haushalts werde vollständig seitens des Westens finanziert – seit Amtsantritt der Trump-Administration also vom IMF und von den Europäern; die übrigen Verbündeten der Coalition of the Willing, die sich am Ramstein-Format zur Waffenlieferung noch beteiligt hatten, haben sich hinsichtlich der nun anstehenden finanziellen Unterstützung auf Dauer gleichsam „in die Büsche geschlagen“. Innerhalb Europas sind dies Großbritannien und Norwegen. Ob solche Zahlungsflüsse als Kredit oder als Geschenk bezeichnet werden, ist faktisch unerheblich, nur haushaltsrechtlich macht dies einen Unterschied – die aufgetürmte Schuldenlast der Ukraine ist so hoch, dass kein Geldgeber ernstlich mit einer Rückzahlung rechnen kann.
2. Der Haushalt der Ukraine für 2026 und die Optionen zur Defizitdeckung
Am 10. Dezember 2025 hat der Präsident der Ukraine den Haushalt für das Jahr 2026 unterzeichnet – von Kommentatoren wurde er als „unrealistisch“ eingeschätzt. Es hat schon Tradition, dass ein Haushalt vorgelegt wird, der den Netto-Finanzbedarf zunächst unterschätzt, um später, in einem Nachtragshaushalt, aufgestockt zu werden.
- Der Haushalt für 2026 sieht Einnahmen in Höhe von etwa 59 Milliarden Euro und Ausgaben von rund 97 Milliarden Euro vor – also ein Defizit in Höhe von 38 Milliarden Euro.
- Wie in den vergangenen drei Jahren auch ist der größte Ausgabenposten der für Verteidigung und nationale Sicherheit, für die 56 Milliarden Euro beziehungsweise 27,2 Prozent des BIP veranschlagt sind;
- gefolgt vom Schuldendienst, der 10 Milliarden Euro kosten wird.
- Anders als in den Vorjahren wurde beschlossen, bestimmte zivile Ausgabenposten zu erhöhen. Insbesondere die Ausgaben für Bildung werden um ein Drittel auf 5,6 Milliarden Euro steigen – davon wird das meiste für eine 30-prozentige Gehaltserhöhung für Lehrer eingesetzt.
- Auch für das Gesundheitswesen ist eine deutliche Erhöhung der Ausgaben eingeplant. Im Kontrast dazu wurde das – eh geringe – Budget der Staatlichen Agentur für Wiederaufbau und Entwicklung der Infrastruktur auf knapp die Hälfte gekürzt. „Wiederaufbau“ heisst auf Lateinisch und folglich im Englischen „reparation“.
Schätzungen des ukrainischen Finanzministeriums besagen, der ukrainische Staat benötige im Jahr 2026 an externer Finanzhilfe nicht nur das ausgewiesene Defizit in Höhe von 38 Milliarden Euro, sondern mehr, nämlich etwa 42 Milliarden Euro.
Der gesamte Haushaltsansatz für das Jahr 2026 liegt etwas höher als der in der überarbeiteten Fassung des Haushaltsplans für 2025. Dies gilt jedoch nicht für die Ausgaben des Verteidigungsministeriums, die auf 38 Milliarden Euro gekürzt wurden. Die Höhe der Finanzierung anderer kriegsbezogener Strukturen, wie etwa der Sicherheitsdienste, blieb unverändert.
Dies alles deutet darauf hin, dass in den kommenden Monaten eine weitreichende Anpassung zur Erhöhung der Ausgaben notwendig sein wird. Mit dem Haushalt 2025 hatte die Ukraine es ähnlich gehalten.
Dies haben die beiden finanzierenden Institutionen antizipiert. IMF und Europäische Kommission haben den externen Unterstützungsbedarf der Ukraine für die Jahre 2026 und 2027 zusammen auf etwa 137 Milliarden Euro geschätzt, also auf knapp 70 Milliarden Euro pro Jahr. Mit dem IMF habe man verabredet, so die Kommissionspräsidentin, dass dieser von dieser Summe ein Drittel trage, die EU restlichen zwei Drittel – offenkundig hat die EU die Briten und Norweger nicht zu einer Teilnahme an dieser Solidaritätsleistung für die Ukraine aufgefordert. So kommt man in der Beschlussvorlage für den Europäischen Gipfel am 18./19. Dezember 2025 auf 90 Milliarden Euro beziehungsweise 45 Milliarden Euro pro Jahr. Über eine angebliche Zusage vom IMF, die Frau von der Leyen auf rund 25 Milliarden Euro pro Jahr beziffert, hat sich der IMF aber bislang öffentlich ausgeschwiegen. Aus Washington wird nur über eine Vereinbarung mit der Ukraine vom November 2025 über 8 Milliarden US-Dollar für 4 Jahre, also bis 2029, berichtet. Die Finanzierung der Ukraine im Haushaltsjahr 2026, auf dass sie im Krieg weiterhin bestehen kann, ist somit mit dem Beschluss des Europäischen Rats noch nicht in trockenen Tüchern.
3. Der Beschluss des Europäischen Rates vom 19. Dezember 2025
Der Europäische Rat stand vor der Entscheidung, seinen Anteil an der Finanzierung für zwei Jahre sicherzustellen. Dazu hatte die EU-Kommission in Vorlagen zwei Optionen ausgearbeitet. In beiden Optionen sollten Kredite aufgenommen werden. Eine direkte Finanzierung aus dem aktuellen Haushalt der nächsten beiden Jahre war von vorneherein ausgeschlossen worden. Dass es in dieser Größenordnung auf die Europäer zukommt, war klar, seitdem Präsident Trump in den USA die Macht übernommen und entschieden hatte, die Teilnahme der USA an der solidarischen Unterstützung der Ukraine zu beenden. Die Entscheidungsvorbereitung lief also seit etwa einem dreiviertel Jahr.
Bundeskanzler Friedrich Merz hatte sich im Vorfeld, in einer Regierungserklärung, eindeutig positioniert, zu welcher Option er rate:
„Ich möchte, dass wir die eingefrorenen russischen Vermögenswerte < für die weitere Unterstützung der Ukraine> nutzen …. Aus meiner Sicht ist das … die einzige Option. Wir stehen … vor der Wahl, europäische Schulden oder russisches Vermögen für die Ukraine einzusetzen, und da ist meine Meinung klar: Wir müssen das russische Vermögen nutzen.“
Hintergrund dieser eindeutigen Priorisierung schien die unterschiedliche Zustimmungsbedürftigkeit gewesen zu sein. Für europäische Schulden benötigt man ausnahmslose Zustimmung, für die Variante eines Kredits, für den das beschlagnahmte russische Vermögen als Sicherheit eingesetzt wird, reicht eine qualifizierte Mehrheit.
Das Ergebnis der Nachtsitzung in Brüssel war vor diesem Hintergrund überraschend. Die Position des deutschen Kanzlers, die er für die einzige Option ausgab, hat sich nicht durchgesetzt. Gewählt wurde für die 90 Milliarden Euro die Option „europäische Schulden“, abgesichert durch freie Mittel des EU-Haushalts. Die Ukraine erhält das „Darlehen“ zinsfrei, die EU muss dafür Kredite aufnehmen, ihr Haushalt wird durch die Zinszahlungen belastet. Drei Mitgliedstaaten, die Slowakei, Tschechien und Ungarn, haben sich einerseits konstruktiv gezeigt, sie haben auf ihr Veto-Recht, welches sie bei dieser Konstruktion haben, verzichtet, sie haben auf der anderen Seite eine Art Haftungsausschluss für sich herausverhandelt. Seltsam berührt, dass diese Bereitschaft zur konstruktiven Mitwirkung seitens der drei opponierenden EU-Staaten nicht vorab abgeklärt wurde. War das eine schlechte Vorbereitung, um eine präferierte Option durchzusetzen?
4. Bedeutung
Die Bedeutung dieses Beschlusses liegt auf drei Ebenen.
- Es ist sonnenklar: Wenn die EU die Teil-Finanzierung der Haushaltsdefizite der Ukraine einstellt, dann ist der Krieg beendet. Mehr noch: Dann bricht die brüchige Konstruktion des zivilen ukrainischen Staates zusammen. Etliche Menschen werden sich entscheiden, wo sie ihre Zukunft verbringen wollen, viele werden der Ukraine den Rücken kehren. Das wird sich ausdrücken in einer Flüchtlingswelle, auch die muss von den Europäern finanziert werden. Ein Vermeiden jeglicher Lasten ist für die Europäer keine reale Option.
- Von Russland aus gesehen geht es um die Verlässlichkeit und Einheit der Europäer, die weiteren Lasten des Bündnisses mit der Ukraine zu schultern. Da machen die Europäer einen schwächlichen Eindruck, der keinen nüchternen Beobachter zu überzeugen vermag, also auch Russland nicht. Die Europäer verweigern die wirkliche Solidarität, die eingegangenen Verpflichtungen, die sich aus der Solidarität mit der Ukraine ergeben, von der aktuellen Generation von Staatsbürgern (und Wählern) tragen zu lassen. Die führenden politischen Kräfte trauen sich nicht, das ihren Bürgern zuzumuten. Der Grund ist systemisch: Sie befürchten ihre Abwahl. Deswegen werden allein Optionen erwogen, die die Last auf die Zukunft verschieben, und das nicht kostenneutral sondern mit Zins und Zinseszins. Wie immer: Demokratische Staaten haben, aus innenpolitischen Gründen, Hemmungen, eine konsistente Außenpolitik zu verfolgen.
- Die Solidarität „der Europäer“ wurde auf die der EU abgemeiert. Wo bleibt der öffentliche Aufruf seitens der EU, UK, Norwegen und andere mögen in die Solidaritätszahlungen an die Ukraine, die über die nächsten zehn Jahre erforderlich sein werden, eintreten?
5. Die Abstützung auf den „Reparation Loan“ wäre ein Missbrauch der Reparationsmittel
Um die Option „Absicherung durch beschlagnahmtes Vermögen der russischen Zentralbank“ wurde im Vorfeld des Brüsseler Gipfels medial viel Schaum geschlagen, was der Bundeskanzler mit seiner Stilisierung zur „einzigen Option“ gespiegelt hat. Der Bundeskanzler behauptet zwar, man habe die „Wahl, europäische Schulden oder russisches Vermögen für die Ukraine einzusetzen.“ Aber das ist nicht wirklich eine Alternative.
Der Titel der Option „Reparation Loan“ sagt es bereits: Dieses Vermögen soll zum Wiederaufbau nach Ende der Kampfhandlungen reserviert sein und dann für den Wiederaufbau eingesetzt werden – in Übereinstimmung mit dem 28-Punkte-Plan der Trump-Administration, einer Regelung, der Russland anscheinend und bemerkenswerterweise zugestimmt hat. Wird dieses Vermögen stattdessen zur Weiterführung des Krieges an die Ukraine gegeben, dann fehlen diese Mittel später zur Finanzierung von Reparationsleistungen. Der Wiederaufbau der Ukraine aber ist unabweisbar. Für die vorab zur Ermöglichung einer verlängerten Kriegsführung verpulverten Mittel ist Ersatz zu stellen. Wer anders als die Europäer sollte das tun? Auch beim erwogenen Zugriff auf die Mittel Russlands handelt es sich faktisch um ein Verschieben von Verpflichtungen für Europa in die Zukunft.
6. Innenpolitische Bedeutung
Der nachfolgenden Generation halsen wir seit langem Renten- und Klimawandellasten auf. Hinzu kommen aktuell noch die Solidaritätslasten aus dem Konflikt um die Ukraine sowie gegebenenfalls die Wehrpflicht.
Die jungen Menschen scheinen im Begriffe, das wahrzunehmen. Also werden sie sich wehren. Wir provozieren den nächsten Generationenkonflikt mit dem entsprechenden Aufstand dieser Generation. Die Behauptung des Bundeskanzlers, wir könnten unsere Lasten vermindern, indem wir die Weiterführung des Krieges Russlands Staat bezahlen lassen, ist kontrafaktisch. Solange wir aber keine mittelfristige Finanzplanung für die Lasten aus der Unterstützung der Ukraine im kommenden Jahrzehnt vorgelegt bekommen, fallen wir schutzlos herein auf Narrative, wie sie vom Bundeskanzler an der Spitze verbreitet werden.
Hans-Jochen Luhmann, Mitglied der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).
