„Wollt ihr das Zwei Grad Ziel wirklich?“
Der Konflikt zwischen Klimaphysik und Klimaökonomie in der Politikberatung
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Die Umweltwissenschaften modellieren den Zusammenhang zwischen menschlichem Handeln und seinem Ergebnis in Form veränderter Umweltqualität. Für das Klima nimmt diese Wirkungskette ihren Ausgang bei den Aktivitäten „unsachgemäße Art von Agrarwirtschaft“ beziehungsweise „Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas“, schreitet über daraus entstehende Treibhausgasemissionen fort und endet schließlich bei der Temperaturerhöhung in der Atmosphäre.
Nun hat die internationale Staatengemeinschaft 2010 im Rahmen der UN-Klimakonvention beschlossen, den von ihr tolerierten Temperaturanstieg auf maximal zwei Grad Celsius gegenüber dem Niveau aus vorindustrieller Zeit zu begrenzen. Ist der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang bei der Klimaänderung verlässlich modelliert, kann man das Modell von einer festgelegten Zielvorgabe aus auch rückwärts laufen lassen. Es geht dann darum, eine Antwort auf die Frage zu erhalten: Wenn die Erdmittel-Temperatur nur um bis zu maximal zwei Grad ansteigen darf, was bedeutet das für die menschlichen Aktivitäten „unsachgemäße Art von Agrarwirtschaft“ beziehungsweise „Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas“?
Das Budget-Ergebnis der Klimawissenschaft im jüngsten IPCC-Bericht
Im jüngsten Bericht des Weltklimarates (IPCC) ist das Ergebnis gebündelt dargestellt. Zunächst bleibt die Aktivität „Beendigung einer unsachgemäßen Art von Agrarwirtschaft“ ausgeklammert – für die hat man unterstellt, dass sie getrennt einer Lösung zugeführt wird. Für den (großen) Rest, die Entlassung von CO2 aus fossilen Quellen, weit überwiegend aus Verbrennungsprozessen, ist vorab Zweierlei unterstellt:
(i) Es wurde diejenige Modellierung gewählt, in der die Zwei Grad Grenze mit (lediglich) 66 Prozent Wahrscheinlichkeit eingehalten wird;
(ii) der Vergleichsmaßstab „gegenüber vor-industrieller Zeit“ wurde operationalisiert als „im Vergleich zu 1870“ (= Mittelwert von 1861 bis 1890).
Mit diesen Vorgaben lautet das Ergebnis: Das mit dem Zwei Grad Ziel verträgliche Gesamt-Emissionsbudget liegt bei etwa 2.900 Gigatonnen CO2. Bis zum Jahre 2011 wurden davon bereits etwa 1.900 Gigatonnen CO2 emittiert. Die Schlussfolgerung daraus: Ein Restbudget von nur noch etwa 1.000 Gigatonnen CO2 steht zur Verfügung, wenn die Zwei Grad Grenze eingehalten werden soll.
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Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH. |
Nun sind wir Zeugen eines höchst merklichen Anstiegs der CO2-Emissionen (aus fossilen Quellen) in der ersten Hälfte der gegenwärtigen Dekade, mit einem neuen Rekord-Hoch im Jahre 2013 von 35,3 Gigatonnen CO2 (PBL/JRC 2014). Das bedeutet: Selbst wenn dieser Trend im Anstieg bis 2020 erfolgreich gestoppt werden sollte, jenem Jahr, in dem das Paris-Abkommen von COP21 in Kraft treten soll, so wird dann ein Drittel des als verblieben bestimmten Budgets bereits ausgeschöpft sein.
Was die Klimaökonomie daraus macht
Nun tritt die wissenschaftliche Disziplin „Klimaökonomie“ auf den Plan. Die Klimaökonomie als Sektion im Weltklimarat (IPCC) opponiert sowohl gegen die physikalische Klimawissenschaft als auch gegen die multilaterale Klimapolitik – und das drückt sich in zwei Entscheidungen aus.
(i) Die Budget-Rechnung wie eben aufgemacht findet sich im ersten Berichtsteil des jüngsten IPCC-Sachstandsberichts, das ist derjenige, für den die (physikalische) Klimawissenschaft (AG1) zuständig ist. Die Budget-Vorgabe ist von den Autoren vermutlich wörtlich verstanden, wie sie da steht: Die von der Politik vorgegebene Zwei Grad Grenze ist so zu interpretieren, dass die Menschheit mit der Emission von noch weiteren 1.000 Gigatonnen CO2 wirklich auskommen sollte. Nicht erlaubt ist es, zunächst einmal zum Beispiel 1.300 Gigatonnen zu emittieren und später 300 Gigatonnen wieder aus der Atmosphäre zurückzuholen; mit dem Ergebnis, dass dann netto ebenfalls und irgendwann die Budget-Grenze von 1.000 Gigatonnen eingehalten worden sein wird.
Auf diese Weise allerdings interpretieren die Klimaökonomen die 1.000-Gigatonnen-Marke, festgehalten im dritten Berichtsteil desselben Reports. Sie nehmen in ihre Kalkulationen die Option des Schulden-Machens auf und generieren damit einen größeren Raum von Optionen menschlichen Handelns. Das Motiv dafür ist ihre Auffassung, nach der auf diese Weise eine deutlich kosteneffizientere Lösung möglich wird als wenn man den Schuldendeckel bei Null hält. Das mag sein – aber ist es legitimiert? Wo hier kein Menschheitsteil eingestimmt hat, die Schulden zurückzahlen zu wollen. Kann man, bei fehlendem Schuldner, überhaupt von einem „Kredit“ sprechen?
(ii) Nach meinem Verständnis lautet die legitime Frage an die Klimaökonomie allein: Was ist der wirtschaftlich vorteilhafteste Weg der Menschheit unter der von der Politik formulierten Maßgabe maximal zwei Grad Temperaturerhöhung? Was ist die kostenminimale Lösung – in diesem Rahmen, bei politisch längst vorgegebenem Ziel?
Die Klimaökonomie jedoch verfolgt nicht diese Frage nach der kostenminimalen Lösung für das erklärte Ziel der Klimapolitik. Vielmehr meditiert sie, um wie viel teurer das 3 Grad Ziel gegenüber dem 4 Grad Ziel sei, das 2 Grad Ziel gegenüber dem 3 Grad Ziel, das 1,5 Grad Ziel gegenüber dem 2 Grad Ziel und so weiter. Das Ergebnis, eine Linie von Mehr-Kosten-Punkten, steigt progressiv an. So ist es im jüngsten Sachstandsbericht des IPCC zu lesen, im Beitrag der für Ökonomisches zuständigen Arbeitsgruppe 3. Die Anmutung dieses Ergebnisses ist: Bescheide Dich in Deinem Vermeidungsanspruch! Mit steigendem Anspruchsniveau wird es nämlich immer teurer, den Klimawandel zu verringern. Erwäge noch einmal, ob es wirklich ein so anspruchsvolles Ziel sein soll wie das Zwei Grad Ziel.
Fazit
Die Haltung der Klimaökonomie ist nicht allein legitimatorisch kritikwürdig. Sie ist es auch methodisch und weil sie zu Lasten der Verletzlichsten auf dieser Erde geht. Was die Klimaökonomie da optimiert, sind nämlich nur die Kosten der Vermeidung von Treibhausgasemissionen – der Nutzen daraus, der vermiedene Klimawandel, ist von ihr nicht eingerechnet, mit dem Argument „zu schwer“. Der nicht-vermiedene Klimawandel aber steht für ein Meer von Tränen, um es vorsichtig auszudrücken. Mit einer reinen Netto-Betrachtung anzutreten, um die multilaterale Klimapolitik zu beraten, zeugt von einem hohem Selbstbewusstsein – aber auch nur davon.
Und sie war erfolgreich. Das Abkommen von Paris wird voraussichtlich einen Satz enthalten, in Art. 3 (1), der in etwa lauten wird: „Parties aim to achieve the global temperature goal, in accordance with the best available science, through global transformation, with a 40-70 per cent net emission reduction below the 2010 level by 2050.”