Allfällige Sanktionen gegen Russland

 

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Wenn der Sinn von Wirtschaftssanktionen vor allem die Schädigung des Gegners bei In-Kauf-Nahme von Kollateralschäden bei einem selbst ist, dann ist schwer zu sehen, wie dieser Sinn gegenüber Russland mit einer Verweigerung der In-Betrieb-Nahme von Nord Stream 2 getroffen sein soll. Bei gleichem Gasfluss und voller Entschädigung ist der Schaden für Russland im Verhältnis zum Schaden, die der Sanktionierende für sich in Kauf nimmt, minimal. Wer Gazprom/Russland wirklich schädigen und das Klima schützen will, muss nicht einzelne Transportwege in einem Netz blockieren, er muss vielmehr den Gasbezug drosseln und damit seinen Verbrauch – eine Option, die völlig legitim ist und frei in seiner Hand liegt.



In den letzten zwei Wochen hat es innerhalb des Westens einen regen Austausch gegeben. Thema war offenkundig die Abstimmung von wirtschaftlichen Sanktionen, die man gegebenenfalls gegen Russland verhängen will. Wobei „Westen“ übertrieben ist, es ging nur um die USA und die großen Mitgliedstaaten der EU. Die NATO bekommt keine gemeinsame Linie hin ‑ dass die Türkei nicht mitmacht, ist eh beschlossene Sache und gilt schon nicht mehr als Gespaltenheit; sie profitiert als Trittbrettfahrer von den Sanktionen, die die Rest-NATO-Mitglieder verhängen wollen. Sanktionen sind bekanntlich immer auch Selbstbeschränkungen im bilateralen Verhältnis, damit Selbstschädigungen, die Dritten Raum eröffnen, also zu deren Vorteil sein können.

Welches Verhalten Russlands der Westen als Auslöser für die Verhängung von Sanktionen nehmen will, die Rote Linie des Westens also, bleibt weitgehend unbestimmt. Stichworte sind „further invades“ oder „further escalates“. Was das „further“ bedeuten soll, ist ungeklärt. Referenzpunkt ist das mögliche Szenario, dass Russland „nur“ die Rebellengebiete offiziell und offen vor der Weltöffentlichkeit besetzt, mit allen Rechten und Pflichten, die das mit sich bringt; und möglicherweise zudem die Selbständigkeit der Gebiete anerkennt, deren Sezession also legitimiert. Völkerrechtlich ist das wohl eine „Invasion“. Man kann es rein sachlich aber auch als Bekenntnis zum eh Vorliegenden verstehen, das „further“ würde dann nicht zutreffen. Man kann es auch als Durchsetzung der Kompromissformel von Minsk mit der Brechstange verstehen. Ob ein solcher Ablauf angesichts der verfahrenen Situation sanktionswürdig ist, wird in der Allianz unterschiedlich eingeschätzt.

Die Sanktionen des Westens sollen in ihrem Ausmaß differenziert werden in Abhängigkeit vom Ausmaß der Schwere der „Invasion“, diese Selbstverständlichkeit wurde offenbart durch einen Lapsus von Präsident Biden bei seiner Pressekonferenz aus Anlass des einjährigen Jubiläums seiner Amtszeit.

Sanktionsoption Ausschluss von SWIFT

Der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System scheint erwogen worden zu sein. Im Falle des Iran haben die USA bereits einmal zu dieser Waffe gegriffen, also hat man Erfahrungen. Im Ergebnis scheint dieser Pfeil aus dem Köcher genommen zu sein.

Der Hintergrund: SWIFT steht für „Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication“. Sie wurde im Jahre 1973 als Genossenschaft nach belgischem Recht gegründet. Eigentümer sind rund 2.400 Finanzinstitute. Die Organisation sorgt mit äußerst schneller Datenfernübertragung dafür, dass etwa 11.000 Finanzinstitute in mehr als 200 Ländern Informationen über finanzielle Transaktionen austauschen können. Beaufsichtigt wird SWIFT von den Zentralbanken der G 10 sowie von der Europäischen Zentralbank (EZB).

Den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System zu fordern, hat im Europäischen Parlament bereits eine etwas längere Geschichte. Ich basiere hier auf einer Analyse des ökonomischen Experten für Russland und andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Roland Götz. Der stellt das so zusammen:

  • „<Nach> der Krim-Annexion 2014 … fordert das EU-Parlament die EU <im September 2014> auf zu prüfen, „ob Russland von der Zusammenarbeit im Bereich Kerntechnik und aus dem Swift-System ausgeschlossen werden soll“.
  • Im Februar 2015 hielt der FDP-Europaabgeordnete Alexander Graf Lambsdorff allerdings einen Ausschluss Russlands aus SWIFT für „eine so scharfe Sanktion, dass man davor zurückschreckt“.
  • Am 29. April 2021 beschloss das EU-Parlament, dass es im Falle eines Einmarsches russländischer Truppen in die Ukraine darauf bestehen werde, dass „die Erdöl- und Erdgaseinfuhren aus Russland in die EU sofort eingestellt werden“ sowie dass „Russland gleichzeitig aus dem Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen werden sollte …“.
  • Und am 16. September 2021 forderte das EU-Parlament andere EU-Organe und die EU-Mitgliedstaaten zur Ausarbeitung einer neuen Russland-Strategie auf, zu deren Optionen es gehören soll „dass Russland vom Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen wird, um die russischen Staatsorgane von weiterem aggressivem Verhalten abzuhalten.““

Doch über Sanktionen entscheiden die Mitgliedstaaten im Ministerrat, und dafür gilt das Erfordernis der Einstimmigkeit. Die „mutig“ anmutenden Mehrheitsbeschlüsse des Europäischen Parlaments sind aller Aufmerksamkeit wert, aber es sind auch nur mit Mehrheit erreichte Aufforderungen. Die Bereitschaft, gegebenenfalls „die Erdöl- und Erdgaseinfuhren aus Russland in die EU sofort <einzustellen>“, diese Leidensbereitschaft, also die Folgen zu tragen, ist in Europa nicht weit verbreitet. Man will den Bevölkerungen nicht zumuten, im Winter zu frieren und die Mobilität erheblich einzuschränken. Wozu auch?

Götz’ Analyse geht weiter der Frage nach, wie wirksam die SWIFT-Ausschluss-Sanktion denn sei, nachdem sie seit mehreren Jahren schon als möglich im Raume steht. Russlands Zentralbank hat im Jahr 2015 ein System für den Transfer von Finanznachrichten mit dem Ausland (Sistema peredači finansovych soobščenij Banka Rossii, SPFS) eingeführt, dessen Funktionsprinzip dem des SWIFT-Systems ähnelt. Ergebnis ist: Derzeit kann SPFS das SWIFT-System nicht adäquat ersetzen. Es wird nämlich bislang fast nur von Finanzinstituten in Russland selbst genutzt, Übrigens: Belarus will im Jahre 2022 seine Banken an das SPSF anschließen, um für einen möglichen Ausschluss aus dem SWIFT-System gewappnet zu sein.

Würde Russland vom SWIFT-System abgeschnitten, müssten Finanznachrichten ins Ausland zunächst wie früher über TELEX oder andere Kanäle geleitet werden. Das würde lediglich den Zeitbedarf für Überweisungen erhöhen. Für eine volle Blockade von Finanzgeschäften müsste westlichen Banken jegliche Form der Kontakte mit russischen Banken verboten werden.

Zur politischen Wirkung Götz’ Einschätzung:

„… nur wenig spricht dafür, dass Moskau durch Sanktionen politisch verwundbar ist. Das „System Putin“ ist weitgehend immun gegenüber äußeren Einmüssen. … Das Land wird durch äußeren Druck seinen innen-, außen- und militärpolitischen Kurs kaum ändern, denn dafür sitzt die Führungsschicht zu fest im Sattel.“

… und zur ökonomischen Wirkung:

Wegen der breiten ökonomischen Wirkungen einer SWIFT-Abtrennung Russlands … wird oft von einer „nuklearen Option“ der Sanktionsgeber gesprochen. Aber auch in diesem Zusammenhang gilt die Doktrin des „Gleichgewichts des Schreckens“, der sicheren gegenseitigen Vernichtung (mutually assured destruction, MAD-Doktrin). Im Unterschied zum Nuklearkrieg droht der „Zweitschlag“ sogar unmittelbar und ohne Zutun des Gegners, denn zeitgleich mit den nach Russland gesendeten Finanzinformationen werden alle aus Russland über SWIFT in das Ausland transferierten Finanzinformationen gestoppt. Russland würde zumindest mittelfristig als wichtiger Lieferant von Erdöl und Erdgas weitgehend ausfallen. Weil genau dies die USA und die EU nicht wollen, haben sie den Energiesektor Russlands bislang von Sanktionen praktisch ausgenommen.

Sanktionsoption Canceling von Nord Stream 2

Bei Nord Stream 2 (NS2) handelt es sich um ein Investitionsprojekt, welches die rechtlichen Genehmigungen in Jurisdiktionen mehrerer Rechtsstaaten erhalten hat, vor allem in Deutschland. Hier steht nur eine noch aus, die der energierechtlichen Zulassung des betreibenden Unternehmens. Dieses letzte Verfahren läuft, die zuständige Behörde ist dieserhalb nicht weisungsgebunden. Die herrschende Stimmungslage unterstellt zwar beziehungsweise fordert ein, der Bundeskanzler könne agieren wie ein absolutistischer Herrscher, dennoch gilt: Wir leben in einem funktionierenden Rechtsstaat. Das hat Konsequenzen für die Verhinderung der Nutzbarkeit dieser Pipeline, einer genehmigten Anlage im Wert mehrerer Milliarden Euro.

Die Regierenden können lediglich dafür sorgen, dass die Bedingungen, unter denen die Genehmigung erteilt wurde, eingehalten werden – mit den begrenzten Mitteln des Rechts. Ob ein Stop mit den Mitteln des Rechts erreichbar ist, ist offen – und unwahrscheinlich. Es bleibt dann nur noch die Option „Verhinderung qua Rechtsbruch“. Auch das Widergesetzliche kann legitim sein. Muster ist dann der Sanktions-Vorgang nach der Ukraine-Krise 2014, die Verhinderung der Ablieferung von zwei bereits fertiggestellten Hubschrauberträgern („Mistral“) an Russland von Seiten Frankreichs. Obwohl es da lediglich um 1,8 Milliarden Euro ging, wurde immerhin, auf Wunsch Frankreichs, nach Lösungen Ausschau gehalten, wie organisiert werden könne, dass die Last nicht allein auf Frankreichs Schultern liegen bleibe. Erwogen wurde die Option, dass die NATO oder die EU die Schiffe kaufen. Letztlich wurden die Schiffe an Ägypten verkauft.

Rechtsstaatlich gemacht würde das allein den deutschen Staat mehr als zehn Milliarden Euro kosten – die Summe dürfte deutlich über den Errichtungskosten für NS2 liegen, da mit einer solchen Sanktionierung auch die Ableitungs-Pipelines (EUGAL, OPAL) entwertet werden. Zu zahlen wäre der Betrag an die Finanzierer des NS2-Vorhabens, das sind neben Gazprom BASF/Wintershall und Uniper (vormals E.ON) in Deutschland, OMV in Österreich, Engie (vormals GDF Suez) in Frankreich und Royal Dutch Shell in den Niederlanden. Teil der Gespräche mit den europäischen Partnern, insbesondere dem profitierenden Polen, hat dann eine Mitbeteiligung an dem Schadensersatz, den Deutschland zu zahlen verpflichtet ist, zu sein.

Diese gut zehn Milliarden Euro aber sind lediglich gleichsam peanuts. Hinzu kommt zur Rechnung der Schaden aus der Sanktion für die Gas-Endverbraucher – Handelsbeschränkungen, um eine solche handelt es sich hier, gehen regelmäßig mit erhöhten Preisen einher. Die sind im Falle non-NS2 (in Vollfunktion, also inklusive beschränkungsfreier Ableitung via EUGAL und OPAL,) auf Kosten (Mittelwerte; szenarienabhängig) allein für die Kunden in Deutschland in Höhe von 11 bis 28 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt worden. Auf eine Amortisationszeit von 15 Jahren bezogen sind zu den mehr als 10 Milliarden Euro aus den Investitionsaufwendungen noch einmal 165 bis 420 Milliarden Euro zu addieren und ins Abwägungskalkül einzustellen.

Gegenzurechnen ist, was Gazprom an Durchleitungsgebühren zu zahlen hat wegen Weiternutzung des UGTS. Das dürfte maximal in der Größenordnung von zwei Milliarden Euro pro Jahr liegen, also 30 Milliarden Euro in 15 Jahren. Das Ergebnis der Rechnung, in Mittelwerten: 300 Milliarden Euro über 15 Jahre oder 20 Milliarden Euro pro Jahr.

Zusammengenommen gilt: Wenn der Sinn von Sanktionen vor allem die Schädigung des Gegners bei In-Kauf-Nahme von Kollateralschäden bei einem selbst ist, dann ist schwer zu sehen, wie dieser Sinn mit einer Verweigerung der In-Betrieb-Nahme von Nord Stream 2 getroffen sein soll. Bei gleichem Gasfluss und voller Entschädigung ist der Schaden für Russland im Verhältnis zum Schaden, die der Sanktionierende für sich in Kauf nimmt, minimal. Und in der westlichen Gemeinschaft findet sich nicht einmal, so sieht es bislang aus, die Bereitschaft für ein „burden sharing“ der Sanktions-Kollateralschäden. Es wird nicht einmal thematisiert.

Zudem gibt es offensichtlich weit klügere Alternativen: Wer Gazprom/Russland wirklich schädigen und das Klima schützen will, muss nicht einzelne Transportwege in einem Netz blockieren – das Wesen eines Netzes ist, dass sich das Fließende immer einen neuen Weg suchen kann, um zum Ziel zu gelangen. Er muss vielmehr den Gasbezug drosseln und damit seinen Verbrauch – eine Option, die völlig legitim ist und frei in seiner Hand liegt. Dann aber schädigt er auch den Eigner des UGTS, da der Ertrag aus der Durchleitung sinkt – wenn das UGTS denn dann noch Bestand hat. Man kann eben nicht immer alles haben, insbesondere wenn man auch unseren Partner Ukraine in ein klimagerechtes Zeitalter führen will.


Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>