Asymmetrische Militär-Haushalte und die Erfindung der US-Sanktionspolitik
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Die Biden-Administration hat eine Bilanz zum Einsatz vom Wirtschaftssanktionen gezogen, mit Vorschlägen, wie dieses nicht-militärische Waffenpotential und seine Anwendung weiter entwickelt werden sollen. Das Ergebnis lässt aufhorchen: Seit dem Jahr 2001 ist der Einsatz von Sanktionen durch das US-Finanzministerium um 933 Prozent gestiegen! Wirtschaftssanktionen stellen eine wirkliche Wachstumsbranche dar und bringen auch einen erheblichen Ertrag für den Fiskus in Washington.
Asymmetrische Ausgaben für’s Militär
Sich mittels Schußwaffen gegenseitig zu verletzen, gar mit nuklearen sich zu bedrohen, wo man beim Einsatz selbst als Gemeinschaft sich massiv dezimiert – das ist nicht heldenhaft, das ist schon super-atavistisch. Mit der Definition des Menschen als „animal rationale“ passt das zumindest im Adjektiv nicht zusammen. Dennoch ist so: Die USA geben jährlich rund 800 Milliarden US-Dollar für ihr Militär aus, also allein für die (potenzielle) Anwendung von Gewalt nach außen – mit wellenartig sich steigernder Tendenz. Die Aufwendungen für die Einhegung von Gewalt innerhalb der US-Gesellschaft sind da nicht mitgerechnet.
800 Milliarden Dollar pro Jahr sind ein Viertel des Bundeshaushalts beziehungsweise die Hälfte der frei verfügbaren Mittel der Bundesebene. Eine bemerkenswerte Analyse von Barry R. Posen, die ich zur Hand habe, besagt, dass die vier Nicht-US-NATO-Partner Kanada, Türkei, Norwegen und Großbritannien zusammen 300 Milliarden US-Dollar pro Jahr für ihr Militär ausgeben. Russland, gegen das sich vieles von all dem richtet, gibt davon ein Fünftel aus beziehungsweise in Kaufkraftparität gerechnet ein Drittel: das sind 100 Milliarden US-Dollar-Äquivalnt pro Jahr. Die Budgets der asymmetrisch agierenden Gegner, moralisierend „Terroristen“ gelabelt, sind noch einmal um Größenordnungen geringer.
Angesichts solcher Zustände und Zahlenrelationen liegt es auf der Hand zu schließen: So kann es nicht ernstlich gemeint sein. Da ist etwas völlig disproportional. Klar, wir haben Konflikte zwischen Menschen, zwischen Menschengruppen, also auch unter Staaten. Das war immer so, und das wird wohl immer so sein. Aber die Konflikte, zumindest die unter Staaten, weiterhin atavistisch, mit kinetischen Mitteln, zu Kosten, die völlig unproportional zu denen des Gegners sind, zum Austrag vorzubereiten, das kann nicht des Rätsels Lösung sein. Das ist unangemessen, zumindest heute geworden. Es liegt der Verdacht auf der Hand: Das ist völlig ineffizient. Da die ökonomische Wissenschaft, zumindest in Europa, das Militär nicht (kritisch) „begleitet“, merkt es aber niemand.
Résümée 20 Jahre US-Sanktionspolitik
Auf der Suche nach Alternativen ist man in den USA auf das Mittel der Wirtschaftssanktionen verfallen – das hat sich so ergeben, das war nicht als weitere Waffengattung konzipiert. Zu den klassischen Dreien (Land, Luft, See) sind in den USA neben der Marineinfanterie inzwischen die Gattungen „Weltraum“ und „Cyber“ hinzugekommen. Die neben „Cyber“ zweite nicht-kinetische Kampfform, die mit wirtschaftlichen Sanktionen, hingegen ist nicht dem Pentagon unterstellt sondern dem Finanzministerium. Das Waffenarsenal und auch die Kunstfertigkeit, damit umzugehen, wurden in den letzten 20 Jahren stetig gesteigert. Die neu ins Amt gekommene Biden-Administration, in Person der neuen Finanzministerin Yellen, hat den naheliegenden Schluss gezogen: Sie hat veranlasst, dass dazu eine Bilanz gezogen wird, mit Vorschlägen, wie dieses innovative nicht-kinetische Waffenpotential und dessen Anwendung weiter entwickelt werden sollen.
Der stellvertretende US-Finanzminister Wally Adeyemo übernahm diese Aufgabe. Neun Monate hat er gebraucht, die Praxis der wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen seitens der USA zu überprüfen. Mitte Oktober hat er seinen schmalen Bericht vorgelegt. Das Ergebnis lässt aufhorchen:
Seit dem Jahr 2001 ist der Einsatz von Sanktionen durch das US-Finanzministerium um 933 Prozent gestiegen! Also eine Verdoppelung alle 6 Jahre. Der Welthandel ist in derselben Zeitspanne lediglich um den Faktor Zwei gewachsen. Wirtschaftssanktionen stellen eine wirkliche Wachstumsbranche dar, und bringen auch einen erheblichen Ertrag für den Fiskus in Washington – ein Aspekt, den Adeyemo in seinem Bericht verdeckt hält. Wäre die Sanktionsabteilung des US-Finanzministerium, das OFAC, ein Start-up, so hätte man das Management schon zweimal ausgetauscht, um mit diesem enormen Wachstum mithalten zu können.
Der Bericht empfiehlt, Sanktionen weiterhin ein wesentliches und wirksames Instrument der nationalen Sicherheit der USA bleiben zu lassen – bei dem enormen Ertrag naheliegend. Die Wirksamkeit der Sanktionen stehe jedoch vor zahlreichen Herausforderungen. Genannt werden Ausweichstrategien der Zielsubjekte wie die Verwendung von Kryptowährungen und alternativen Zahlungssystemen. Im Wortlaut:
„… technological innovations such as digital currencies, alternative payment platforms, and new ways of hiding cross-border transactions all potentially reduce the efficacy of American sanctions. These technologies offer malign actors opportunities to hold and transfer funds outside the traditional dollar-based financial system. They also empower our adversaries seeking to build new financial and payments systems intended to diminish the dollar’s global role. We are mindful of the risk that, if left unchecked, these digital assets and payments systems could harm the efficacy of our sanctions.“
Das heißt es geht im Zentrum darum, dem US-Dollar seine überkommene Rolle als „die“ globale Währung weiterhin zu belassen, und zwar aus dem schlichten Motiv, die Bedingungen einer Kriegsführung mit Instrumenten wirtschaftlichen Zwangs für die USA zu erhalten. Auch Tendenzen der EU, dem Dollar diese Rolle streitig zu machen, werden somit als Aktivitäten eingeordnet, welche malign actors begünstigen. Anders gesagt: Die Bundesgenossenschaft, welche die USA einfordern, bezieht sich für Europa nicht allein auf das Militär der NATO, im Bereich der Kriegsführung mit Mitteln wirtschaftlichen Zwangs gibt es ein Äquivalent, das ist die Akzeptanz des US-Dollars als ausnahmslose Weltwährung für grenzüberschreitende Transaktionen.
Beschäftigt war man zudem mit der Abwehr dessen, was etwas „Cyberkriminalität“ genannt wird – eine etwas unprofessionelle Bezeichnung, da es im Kampf gegen Gegner nach außen gerade nicht um deren „kriminelles“ Verhalten geht. Genannt wird zudem der zunehmende Druck, dem die Arbeitskräfte im Finanzministerium ausgesetzt sind; aufgeführt wird zudem der Nachbesserungsbedarf bei der IT-Infrastruktur. Es ist ja klar, dass ohne die elektronisch erlangten Kenntnisse des NSA dieses extraordinäre Wachstum undenkbar gewesen wäre. Die unfassbare Größenordnung der geleisteten Arbeit wird mit dem Satz deutlich gemacht, dass man seit 9/11 mehr als 1.600 terroristische Gruppen und Einzelpersonen identifiziert habe, die seitdem Zielobjekte seien, die man als Gruppen zu unterminieren und deren Operationen man zu verhindern suche.
Adeyemo erschien auch vor dem Bankenausschuss des Senats, um die Ergebnisse seines Berichts zu diskutieren und Fragen zur US-Sanktionspolitik zu beantworten – Neues hat er da allerdings nicht gesagt.