Zum Bericht des britischen Foreign Affairs Committee, wie der Westen die Entscheidung zum Regimewechsel in Libyen traf und den Flüchtlingsstrom übers Mittelmeer auslöste

 

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Politik-bewertende Berichte aus angelsächsischen Parlamenten sind etwas Besonderes. Sie gehen regelmäßig von einer konstruktiven, keiner anklagenden oder entlarvenden Fragestellung aus: Es wird nach den „lessons learnt“ gefragt, die der Politikbetrieb zu ziehen hat, die Berichte sind Ausdruck eines Konsenses zur Kultur gemeinsamen Lernens. Wer die zur Kenntnis nimmt, fragt sich unwillkürlich, weshalb dies in Deutschlands Politikbetrieb unmöglich zu sein scheint.

Anlass für diesen Stoßseufzer ist der Bericht des britischen Foreign Affairs Committee des House of Commons zur NATO-eingebetteten Libyen-Intervention durch Frankreich, Großbritannien und die USA. Das zusammenfassende Urteil im Bericht zu dieser Operation, zur Substantiiertheit ihres Anlasses sowie zu ihren Folgen liest sich wie folgt:

„In March 2011, the United Kingdom and France, with the support of the United States, led the international community to support an intervention in Libya to protect civilians from attacks by forces loyal to Muammar Gaddafi. This policy was not informed by accurate intelligence. In particular, the Government failed to identify that the threat to civilians was overstated and that the rebels included a significant Islamist element. By the summer of 2011, the limited intervention to protect civilians had drifted into an opportunist policy of regime change. That policy was not underpinned by a strategy to support and shape post-Gaddafi Libya. The result was political and economic collapse, inter-militia and inter-tribal warfare, humanitarian and migrant crises, widespread human rights violations, the spread of Gaddafi regime weapons across the region and the growth of ISIL in North Africa.“

Das heißt das massenhafte Sterben in Libyen und das Öffnen der Büchse der Migranten-Pandora im westlichen Mittelmeer, welches in der Konsequenz nun die etablierte Herrschaft in EU-Mitgliedstaaten bedroht, war mutwillig und willkürlich herbeigeführt. Mehr noch: Die erwähnte international community hatte – auf Antrag von Frankreich und Großbritannien, mit Unterstützung der USA, bei Verzicht auf Ausübung des Veto-Rechts, also Zustimmung, von Seiten Russlands und Chinas sowie bei wirklicher Enthaltung Indiens, Brasiliens und Deutschlands – mit Resolution 1973 ein Mandat des UN-Sicherheitsrats (UNSC) erhalten, „to protect civilians“. Es ging da um die erstmalige Inanspruchnahme einer im UN-Kontext konsensual neubegriffenen Verantwortung der Staatengemeinschaft in failed states, in der Konsequenz des Versagens der Staatengemeinschaft im Falle der grausamen Ruanda-Massaker im April 1994 – der sogenannten „responsibility to protect“ (r2p) beziehungsweise „Schutzverantwortung“.

Diese Schutzverantwortung wurde ausgerechnet bereits beim erstmaligen Umgießen in ein konkretes Mandat durch den UN-Sicherheitsrat und bei der erstmaligen Nutzung Opfer einer „Ausbeutung“ – es wurde, so das Foreign Affairs Committee in Großbritannien, für eine „opportunist policy of regime change“ genutzt. Das führte dazu, dass das Vertrauen im UN-Sicherheitsrat so zerrüttet wurde, dass im Wiederholungsfall eine russische beziehungsweise chinesische Zustimmung für einen Einsatz zum Schutz der Zivilbevölkerung nicht mehr zu erwarten ist. Einem zweiten „Ruanda“ würde die Weltgemeinschaft erneut entweder tatenlos zusehen – oder durch eine Koalition der Willigen einschreiten, ohne UN-Legitimation. Das gehört zu den Kosten, die mit der überdehnten Form der Libyen-Intervention in Kauf genommen beziehungsweise produziert wurden – wofür eigentlich?

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.

Für den „regime change“, den Fall Gaddafis als Person? Das klingt so, als wenn geglaubt würde, dass Einzelpersonen das Subjekt von Politik und Geschichte seien; es klingt jedenfalls unverhältnismäßig. Offen gesagt: Es gab auch kein abwägendes Kalkül. In den westlichen Führungszirkeln nämlich gab es nicht einmal eine gemeinsame Strategie. Das britische Militär hingegen war zumindest für sich ursprünglich angetreten mit einer einzigen Strategie, nämlich jener, nach einem Erfolg beim Schutz der Zivilisten bei Benghazi eine militärische Pause einzulegen, um einer politischen Lösung Raum zu geben. Gaddafi meldete sich tatsächlich im Februar 2011 telefonisch bei Tony Blair, vermutlich um Bedingungen eines Ganges seinerseits ins Exil in Venezuela zu ventilieren. Doch fanden die Militärs dann schon nicht mehr den Rückhalt beim britischen Premierminister, der dem Rufe der Straße folgen wollte. Blair mit seinen Gaddafi-Nachrichten wurde von ihm entsprechend uninteressiert behandelt. Großbritannien wurde „überspielt“ von Frankreich. Dessen leitendes Kalkül kann nun nachgezeichnet werden.

Die Motivlage hinter der Initiative für die Intervention

Frankreich war der eigentliche Initiator des Einsatzes. Der Bericht des britischen Foreign Affairs Committee enthüllt dessen Motive. Die vorgetragenen humanitären Motive waren nur Anlass, lagen an der Oberfläche. Quelle des Wissens darum ist eine Aussage von Sidney Blumenthal, der seinerzeit inoffizieller Geheimdienstberater der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton war. Er berichtete von seinen Gesprächen mit französischen Geheimdienst-Offizieren den folgenden Eindruck:

„… Sarkozy’s plans are driven by the following issues:

  1. A desire to gain a greater share of Libya oil production,
  2. Increase French influence in North Africa,
  3. Improve his internal political situation in France,
  4. Provide the French military with an opportunity to reassert its position in the world,
  5. Address the concern of his advisors over Qaddafi’s long term plans to supplant France as the dominant power in Francophone Africa.“

Ich zumindest habe mir die Augen gerieben und mich an die ungezählten Beiträge aus der westlichen akademischen Sicherheits-Community erinnert, die nach dem Crash in der Ukraine darstellten, dass Russland „zurückgefallen“ sei in etwas längst Überholtes, in ein (geopolitisches) Denken in Einflusssphären, das im Westen längst überwunden sei. Nun schwant mir, dass diese Kreise die westliche Politik vielleicht nur idealistisch, nur aus dem Feuilleton und aus Sonntagsreden, wahrgenommen haben könnten. Deswegen ihre Überraschtheit und Herablassung.

Diese Ziele Frankreichs waren damals weder frisch erfunden noch sind sie heute obsolet geworden; sie sind vielmehr unverändert dieselben. Geändert hat sich lediglich ihre Maskierung; heute heißen die Kostüme, die getragen werden, „Terrorabwehr“ und „Russlands expansive Politik“ beziehungsweise „Einigung Europas“. Vielleicht sollten diese Erinnerungen an die stehenden Ziele französischer Politik in Deutschland Anlass sein, den Mali-Einsatz der Bundeswehr, der nach den Pariser Anschlägen beschlossen wurde, doch einmal zum Gegenstand einer Betrachtung zu machen, die über die (eingebettete) Truppenbesuchs-Berichterstattung hinausgeht.

Der Druck auf die USA – via “Es muss etwas geschehen!” (nach Heinrich Böll)

Wie die USA da hineingerieten, ja hineingezogen wurden, ist bemerkenswert. Die USA wollten eigentlich nicht. Großbritannien und Frankreich aber „bearbeiteten“ die USA, schließlich erfolgreich, auch mit Hilfe des medialen Drucks nach dem Motto der Böllschen Satire „Es muss etwas geschehen!“. Der damalige US-Botschafter bei der NATO, Ivo Daalder, schilderte den Prozess der „Überzeugung“ mit wunderbarem Sprachwitz so:

„Cameron and Sarkozy were the undisputed leaders, in terms of doing something. The problem was that it wasn’t really clear what that something was going to be. Cameron was pushing for a no-fly zone, but in the US there was great scepticism. A no-fly zone wasn’t effective in Bosnia, it wasn’t effective in Iraq, and probably wasn’t going to be effective in Libya. When President Obama was confronted with the argument for a no-fly zone, he asked how this was going to be effective. Gaddafi was attacking people. A no-fly zone wasn’t going to stop him. Instead, to stop him we would need to bomb his forces attacking people.“

Die „Lösung“, die sich später als Ticket für die Fahrt ins Desaster erweisen sollte, war, dass die USA sich kollaborativ darin zeigten, das Mandat in der Resolution 1973 begrifflich auszuweiten, über die Errichtung einer no-fly zone hinaus. Die Authorisierung für “all necessary measures” (to protect civilians) wurde eingeschoben. Drei unscheinbare Wörtchen nur. In der Praxis waren sie es, die zur „imposition of a ‘no-drive zone’“ führten – und auch zu der Annahme, die beiden „undisputed leaders“ seien authorisiert, das Kommando- und Kommunikations-Netzwerk des Staates Libyen als Ganzes zu attackieren. Also eine Art ‚Enthauptung’. Und vermutlich eine Blaupause in den NATO-Schubladen für Anwendungsfälle anderswo.

Die Auslegung der Authorisierung für “all necessary measures” (to protect civilians)

Der Auswärtige Ausschuss des britischen Parlaments ging die Klärung dieser Frage so an, dass er die Hauptakteure auf britischer Seite nach dem sie damals leitenden Verständnis dieser Formel aus drei Wörtchen befragte – nur der (inzwischen generell fahnenflüchtige) damalige Premierminister entzog sich einer Mitwirkung. Die antworteten auf die Frage, wieso die NATO zwischen April und Oktober 2011 noch in ganz Libyen Luftschläge durchführte, wo sie doch schon im März 2011 den Schutz der bedrohten Zivilisten in Benghazi erreicht hatte:

„Gaddafi’s forces remained a clear danger to civilians. Having been beaten back, they were not then going to sit quietly and accept the situation.“ (Außenminister Lord (‚William’) Hague)

sowie

„the UN resolution said to take all possible measures to protect civilians, and that meant a constant degradation of command and control across the country. That meant not just in the east of the country, but in Tripoli.” (Verteidigungsminister Dr (‚Liam’) Fox)

Das heißt beide Vertreter der damaligen Regierung nahmen eine Position ein, die für die legitimierte Aufgabe, den „Schutz der Zivilbevölkerung“, lediglich eine ganz weit vorgeschobene Grenze vorsah. Sie definierten die pure „Existenz der Truppen unter Gaddafis Kommando“ selbst als diejenige Gefahr, vor der die Zivilbevölkerung in Libyen zu schützen vom UNSC vorgegeben worden sei. Aus dieser extrem extensiven Definition von „Gefahr“ im Schutzauftrag folgt die Aufgabe der „Vorne-Verteidigung“, das ist die „Truppen unter Gaddafis Kommando“ zur Nicht-Existenz zu bringen. Dafür gibt es zwei Optionen. A) die abschlachtende, die Truppen in persona zu vernichten; und b) die „köpfende“, die Truppen am Leben zu lassen, sie lediglich der Kommandogewalt Gaddafis zu entziehen, indem man diese zerstört. Letztere Option wurde gewählt.

Begrifflich war das ein Akt der Totalüberdehnung. Rechtlich gebundenes Handeln ist begrifflich angeleitetes Handeln. Dessen Sinn wird verfehlt, wenn ausgewählten unter einem Ensemble leitender Begriffe ihre begrenzte Bedeutung zu Lasten der anderer Begriffe genommen wird. Gerade begrifflich hat die Maxime guter Politik zu gelten: Man muss kompromissfähig sein.

Die beiden Staatsvertreter standen aber nicht zu dem, was offensichtlich die (auch von ihnen verfolgte) damalige Intention war. Der Ausschuss berichtet:

„Throughout their evidence, Lord Hague and Dr Fox stuck to the line that the military intervention in Libya was intended to protect civilians and was not designed to deliver regime change.“

Das, eine solche Entgegensetzung, ist Winkeladvokaten-Argumentiererei. Korrekt und kooperativ wäre gewesen, wenn die beiden ehemaligen Minister, die offenkundig zum Sinn der Suche nach gemeinsamen Lehren für den Betrieb des Politiksystems standen, zugegeben hätten: Ja, wir haben „Schutz der Zivilbevölkerung“ so ausgelegt, dass die „Zerstörung der Kommando-Strukturen“ des Regimes dazu gehörte – und dass ein „Regime ohne Kommando-Strukturen“ nicht mehr zu herrschen vermag, also keines mehr ist, das war uns schon klar.

Die erwartbaren Folgen einer „Enthauptungs-Lösung“

Hätte man abwägen wollen, so hätte sich die Frage gestellt: Was war als zwingende Implikation einer „Enthauptung“ Libyens damals zu erwarten? Dazu führt die Untersuchung diese Einschätzung an:

„Muammar Gaddafi spent 40 years building an authoritarian regime in Libya. When his Administration collapsed in October 2011, security, basic governmental services and the rule of law collapsed with it. Alison Pargeter told us that “Libya was a country with no institutions to speak of. When you took Gaddafi away, you took everything away.”“

Das kann man lesen als eine Behauptung derart: Wenn es nicht zu einer von außen moderierten Machtübergabe kommt, wenn lediglich Gaddafi qua „Enthauptung“, Zerstörung der staatlichen Kommando- und Kommunikationsstrukturen, entfernt wird, dann ist der Kollaps der rule of law in diesem Lande unausweichlich – und was das konkret, in Gewalt und Zerstörung, bedeutet, kann man sich leicht vorstellen.

Der Blick nach vorn: Was wurde gelernt?

Insbesondere der ehemalige Verteidigungsminister brachte sich sehr offensiv mit Lehren aus dem ein, was für Großbritannien mit dem analogen Verlauf im Irak bereits eine Serie von Desastern in der Stabilisierung nach einer militärischen Intervention war.

„Dr Fox helpfully explained his strategic criteria for UK participation in a military intervention:

«No. 1: what does a good outcome look like?

No. 2: is such an outcome engineerable?

No. 3: do we have to be part of the engineering?

No. 4: how much of the aftermath would you like to own?

I think that there is, and has been in our history, a tendency to answer No. 1 without answering the rest of the questions. It is not responsible for any Government at any time to go into any conflict and to deploy our armed forces without answering all four questions

Das ist eine so überzeugende Auflistung der Fragen, die vor einer Interventions-Entscheidung zu klären sind, dass der Außenpolitische Ausschuss sie für die ihm auferlegte Beurteilung der UK-Beteiligung an der Libyen-Intervention selbst zur Leitlinie machte. Das Ergebnis:

„The answer to question No. 1 was “civilian protection” in February 2011. In that case, the UK Government had plausible answers to questions Nos. 2 to 4. As Lord Richards explained, it had a coherent strategy based on protecting civilians and pausing to explore political options [see paragraph 50]. However, it could not influence its coalition partners to agree and implement that strategy. Instead, it suddenly changed its answer to question No. 1 to “regime change” without addressing questions Nos. 2 to 4. This strategic incoherence formed the root of the international community’s failure to stabilise Libya.“

So ist es gewesen. So, aufgrund eines Mangels im Denken, im Konzept, nahm das libysche Drama seinen Lauf. Eine dessen Folgen, das ISIS-Erstarken, hatte erhebliche Konsequenzen im militärischen Engagement auch für uns in Deutschland, nicht nur für die unmittelbaren Akteure Frankreich, Großbritanien und die USA. Zumindest in London scheint man gelernt zu haben. Die offene Frage ist, wie es mit Frankreich steht.

Vielleicht sollte Deutschland als Teil seines Mali-Engagements auf eine Pariser Wahrheits-Kommission zu den Hintergründen des dortigen führenden Anteils an der Libyen-Intervention drängen. Denn in Mali löffelt die Bundeswehr mit die Suppe aus, die Frankreich mit seinem Drängen auf eine Libyen-Intervention in der strategisch inkohärenten Form, wie sie dann stattfand, eingebrockt hat.

 

 

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>