Blut, Geld und Gas. Das Verhältnis Ukraine und Europäer in Gelddingen
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann (Januar 2025)
1. Objektiv müssten Ukraine und EU in Gelddingen an einem Strang ziehen
Die Ukraine kämpft ihren heroischen Kampf gegen Russland mit dem Blutzoll seiner Soldaten als Speerspitze des Westens in singulärer Manier. Aus der Koalition des Westens ist niemand bereit, eigene Soldaten im Kampf einzusetzen – entgegengesetzt zum Allianzverhalten auf der gegnerischen Seite. Die Koalition des Westens war zudem immer nur kurzfristig gedacht, das vollmundig klingende Versprechen von Solidarität „as long as ist takes“ war implizit kurzfristig gemeint. US-Präsident Biden hat denn auch in einer beeindruckenden Kehrtwende, aus Anlass des Vorweihnachtsbesuchs von Präsident Selenskyj im Dezember des Jahres 2023 in Washington, diesem persönlich öffentlich zur wirklichen Dauer der Solidarität der USA gesagt „as long as we can“. Diese Kehrtwende war die Konsequenz der USA aus dem Scheitern des Versuchs im Frühsommer 2023, die Ukraine militärisch in die Offensive zu bringen. Seitdem gibt es westlicherseits kein realistisches Ziel für den Kampf der Ukraine mehr.
Nun ist es soweit gekommen, dass der Allianzpartner USA abspringt, zumindest was die finanzwirksame Seite der Unterstützung angeht. Der US-Kongress hat die von Präsident Biden erbetene Unterstützung der Ukraine für das Haushaltsjahr 2025 in Höhe von 24 Milliarden Dollar abgelehnt. Unter einem neuen Kongress, mit Mehrheit der GOP in beiden Kammern, und mit einem installierten Präsidenten Trump wird sich daran nichts mehr ändern. Die USA beenden auch diesen Stellvertreter-Krieg für sich, bevor er für sie ein „forever war“ wird.
Der Krieg in der Ukraine trägt aber alle Züge eines „forever war“. Die Europäer sehen dies auch so. Sie haben zwar kein realistisches Ziel in diesem Krieg, aber negativ, hinsichtlich dessen, was sie nicht eintreten sehen wollen, sind sie sich mit der ukrainischen Führungsriege unter Präsident Selenskyj einig. Ob die Verhinderungs-Einigkeit auf realistischen Annahmen beruht, wird beidseits nicht gecheckt. Also wird einerseits alle Hoffnung auf Präsident Trump gesetzt, dass der seiner Wahlkampf-Aussage gemäß ein baldiges Ende des für den Westen aussichtslosen Krieges mit Russland aushandeln wird. Was schon seltsam anmutet, da sich, gestützt auf Erfahrung, nur eines sicher sagen lässt: Trump redet viel, auf seine Aussagen ist bekanntlich kein Verlass. Dass die Ukraine explizit und die Europäer implizit darauf ihre Hoffnung setzen, dass Trump ein Wunder vollbringt, ist bemerkenswert.
In Brüssel herrscht andererseits auch etwas Realismus, hinter verschlossenen Türen. Man tastet sich gerade dahin vor, als EU beziehungsweise Europäer den ausfallenden Finanzierungsanteil der USA zu übernehmen – zu dem kommenden Zeitpunkt, da die USA ihre Negativ-Entscheidung auf Dauer denn offiziell machen. Diesen Zeitpunkt möglichst lange hinauszuzögern, ist essentiell für die Europäer, denn solange, nach Verkündung des US-Abgangs aus der Koalition der Ukraine-Unterstützer, zu der Hoffnung auf die Trumpsche Initiative noch nichts Konkretes an Ergebnissen vorliegt, ist die EU aus taktischen Gründen verpflichtet, ihre finanzielle Unterstützungszusage langfristig zu formulieren, auch wenn sie dazu nicht wirklich bereit beziehungsweise in der Lage ist. Dieses Dilemma umgeht sie, wenn ein Ende des Krieges absehbar wird.
Für die Zukunft, für die aussichtsarme Weiterverfolgung des Kriegs in der Ukraine, wird Europa das Versprechen abzugeben haben, pro Jahr rund 50 Milliarden Euro zusätzlich zu zahlen für die Ukraine, als Ersatz für den bisherigen Anteil der Amerikaner. In Summe sind es dann rund 100 Milliarden Euro pro Jahr, etwa die Hälfte für Waffen, die dann zum Gutteil in den USA einzukaufen sind. Die andere Hälfte ist für „humanitäre“ Zwecke bestimmt, das heißt da geht es darum, den ukrainischen Staat nicht zur puren Hülle werden zu lassen, sondern ihm solche Leistungen zu ermöglichen, dass er von der Bevölkerung als funktionierend akzeptiert wird.
2. Die Ukraine provoziert negative finanzielle Beiträge für sich und Verbündete
100 Milliarden Euro pro Jahr ist viel Geld aus den Kassen der Europäer. Das haben die zusätzlich aufzubringen. Doch auch die Ukraine hat es in der Hand, Handlungen vorzunehmen, die zu finanziellen Zusatz-Belastungen entweder von Mitgliedern der europäischen Allianz oder der Ukraine selbst führen, welche zwangsläufig von der EU ausgeglichen werden müssen. Im Zentrum dieser Möglichkeiten steht das Energiesystem der Ukraine. Eine Zeit lang hat die Ukraine wegen des kriegsbedingten Rückgangs der Nachfrage im eigenen Lande über Überkapazitäten in der Stromerzeugung verfügt, die zum Stromexport in die EU und so zur Generierung eigenen Einkommens genutzt wurden – das aber ist zwischenzeitlich keine Option mehr.
Bleiben die Möglichkeiten des Öltransportnetzes sowie vor allem des sehr rentierlichen Gastransitsystems. Bei Öltransit hat die Ukraine bereits vorexerziert, was sie dann beim Gastransit wiederholt hat. Öl aus russischen Quellen läuft durch die „Freundschaft-Pipeline“, Einspeiser sind verschiedene russische Öl-Unternehmen. Die Öl-Raffinerien in etlichen mitteleuropäischen Staaten, die an die Ukraine angrenzen, werden mit Rohöl aus Russland versorgt. Die Produkte werden nicht nur in diesen Staaten abgesetzt, auch die Ukraine selbst wird aus diesen Raffinerien versorgt in ihrem Krieg gegen Russland, der einen hohen Bedarf des Militärs mit sich bringt. Gegen eines der russischen Unternehmen, Lukoil, hatte die Ukraine bereits seit 2018 Sanktionen erlassen, die hat sie, ohne Abstimmung mit den Empfängern von Lukoils Lieferungen, am 14. Juni 2024 verschärft, woraufhin Lukoil die Lieferungen einstellte. Diese ukrainische Vorgehensweise hatte im Sommer 2024 bereits zu einem schweren Konflikt zwischen der Ukraine einerseits und Ungarn und der Slowakei andererseits geführt. Die Ukraine hatte offenbar das Motiv, die beiden europäischen Staaten, die nach EU-Beschlusslage das Ausnahmerecht hatten, weiter Öl aus Russland zu beziehen, dazu zu zwingen, weiter zu gehen als der EU-Beschlusslage entspricht. Der Fachausdruck für diese Art des Umgangs mit einem von Energiezufuhr abhängigen Drittstaat ist „Energie als Waffe einsetzen“.
Für den Erhalt der Nutzung des Gastransitsystems durch Russland hatte die Ukraine mit Unterstützung der Europäer, insbesondere der aus Mitteleuropa, lange gekämpft. Dominantes Motiv war, der Ukraine das üppige Transitgebührenaufkommen, welches Russland zahlt, entweder durch Verhinderung von Nord Stream 2 oder schließlich, nach deren Inbetriebnahme, durch garantierte Weiternutzung des ukrainischen Systems zu erhalten. Zuletzt hatte Bundeskanzlerin Merkel erfolgreich eine Verlängerung des lukrativen Transitabkommens im Spätherbst des Jahres 2019 initiiert, mit einer Laufzeit von fünf Jahren, also bis Ende 2024. Daraus erzielte die Ukraine ein Einkommen von knapp 1,5 Milliarden Euro pro Jahr.
Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung der Ukraine zu sehen, dass sie eine Verlängerung des auslaufenden Gas-Transitabkommens mit Russland ablehnt. Diese Entscheidung hat die Regierung der Ukraine anscheinend bereits zu Anfang 2024 gefällt, in diesem Wortlaut – das heißt es ging ihr nur um die Symbolik, mit Russland nicht verhandeln und kein Abkommen abschließen zu wollen. Diese Positionierung musste kein Ende des physischen Betriebs des Gastransitsystems auf dem Boden der Ukraine bedeuten, dem Wortlaut nach geht es der Ukraine allein um die Form, um die rechtliche Fassung.
Sofern es aber zu einem physischen Ende des Erdgas-Transits von Russland via Ukraine in die Slowakei, nach Ungarn und Moldawien/Rumänien kommt (vgl. die Abbildung im externen Link), so hat das für diese Staaten erhebliche negative Folgen.
Das aus Russland nicht länger gelieferte Pipeline-Gas muss, auf welchen Wege auch immer, durch LNG-Gas ersetzt werden, und das ist zwangsläufig mindestens doppelt so teuer – und wird die Texaner in den USA und ihren Präsidenten freuen. Der hat bekanntlich kurz vor Weihnachten 2024 wie folgt Position bezogen:
„I told the European Union that they must make up their tremendous deficit with the United States by the large scale purchase of our oil and gas,”
Davon wird auch Präsident Selenskyj wissen – beziehungsweise wie ernst das gemeint sei, wird er unter vier Augen nachgefragt haben. Trump ist ein Meister der Spaltung …
Eine Einstellung des Transits brächte für die Ukraine weitere kostenträchtige Folgen über das Entfallen des Transitgebührenaufkommens hinaus mit sich. Das Funktionieren des innerukrainischen Systems von internem Transport und Verteilung, auch aus den westlich gelegenen ukrainischen Gasvorkommen, lebt bislang von dem gelieferten Druck, der gerichtet ist, weil von russischer Seite in das innerukrainische System gen Westen eingespeist wird.
Die Ukraine selbst nimmt für sich seit Jahren in Anspruch, kein Gas von Gazprom/Russland mehr zu beziehen. Rechtlich/wirtschaftlich ist diese Aussage korrekt. Faktisch aber wird der Gasbezug seitens der Ukraine durch sogenannte swap-Geschäfte realisiert, das heißt physisch verbraucht die Ukraine schon Gasmoleküle, die aus Westsibirien kommen, sie sind nur vertraglich für Abnehmer jenseits der ukrainischen Westgrenze bestimmt, werden aber nicht dorthin geliefert. Die dortigen Vertragspartner Russlands haben vielmehr zugestimmt, dass die Ukraine vorher einen Teil der Lieferungen abgreift und für sich nutzt – und den im Westen gelegenen Unternehmen diese Mengen vergütet.
Kommt die Einspeisung von Osten zu einem endgültigen Ende, dann muss das ukrainische Gassystem in der Fließrichtung total umgemodelt werden. Dann fließt netto Gas vom Westen in die Ukraine, zum Ausgleich der Differenz zwischen Nachfrage und Eigenproduktion. Damit das gelingt, ist erst einmal eine Investition erforderlich, abgeschätzt in der Größenordnung von einer weiteren Milliarde Euro. Der Gasnetzbetreiber in der Ukraine hat schon reagiert, er hat die Gasnetztarife für innerukrainische Kunden um den Faktor Vier angehoben.
Die Fragen sind: Wieso werden der Ukraine Alleingänge zu Lasten ausgewählter unter ihren Allianzpartnern, also eine Politik der Spaltung, ohne Abstimmung widerspruchslos gestattet? Und: Was sagt uns das dazu, was wir in mittlerer Frist, nach Ende des Kriegs mit Russland, aus der Ukraine zu erwarten haben?
3. EU-Gipfel 19./20. Dezember: Schweigen zu offenem Konflikt mit Ukraine in Gelddingen
Einer tiefgründigen Antwort näher kommt man, wenn man sich den Konfliktaustrag, wie er beim EU-Gipfel am 19./20. Dezember 2024 in Brüssel stattfand, auf der Zunge zergehen lässt. Bei dem Gipfel war auch der ukrainische Präsident anwesend, der Konflikt mit dem Premieminister der Slowakei, Fico, wurde offen ausgetragen. Aus vertrauenswürdigen Quellen beider Seiten, einem Bericht der tschechischen Nachrichtenagentur CTK und einer Indiskretion Selenskyjs, wissen wir vom zentralen Teil im Wortlaut, wie es sich zugetragen hat.
Fico habe Selenskyj vorgehalten, dass die Slowakei wegen des Ukraine-Kriegs Geld verliere. Daraufhin habe Selenskyj erwidert: Es sei unmoralisch, über finanzielle Einbußen wegen des Kriegs zu reden, während die Ukraine täglich Menschenleben verliere. (FAZ 24.12.2024)
Bei einer Pressekonferenz hat sich Selenskyj über die Vertraulichkeitsvereinbarung der Sitzungen des Europäischen Rates hinweggesetzt. Auf eine Frage hin habe er geantwortet, und in diesem Kontext Fico namentlich erwähnt: Die Ukraine werde den Transit von russischem Gas nicht verlängern, denn man werde nicht zulassen, „dass unser Blut für weitere Millionen an Profit vergossen wird.“
Das bedeutet: Die Differenz, dass innerhalb der westlichen Allianz gegen Russlands Angriff allein die Ukraine Soldaten stellt, wird von der Ukraine moralisch verwendet. Sie wird aber auch bei ihren Partnern als ein Mangel solcher Qualität empfunden, dass der Ukraine zugebilligt wird, hinsichtlich der Höhe ihres Unterstützungsbedarfs autonom zu agieren und eine Spaltungsagenda zu tolerieren. Zumindest in Europa wird dies so gesehen, in den USA ist es anders.
Die Asymmetrie des Einsatzes von Menschen macht den Krieg westlicherseits zum „Stellvertreterkrieg“. Die definierende amoralische Differenz hat eine solche Kraft, dass sie auch nach Ende der Kampfhandlungen das Verhältnis zwischen der Ukraine und den Europäern prägen wird.
Aktuell wird der Konflikt weiter ausgetragen, die Slowakei ist nicht bereit, die einseitige Entscheidung der Ukraine und die stillschweigende Unterstützung seitens der EU zu akzeptieren. Die Slowakei droht der Ukraine ihrerseits mit Vergeltung, Gleiches mit Gleichem zu beantworten. Im Raum steht eine Blockade von Leitungen, zur Stromversorgung der Ukraine, die dafür weitgehend auf Zuflüsse aus dem EU-Raum angewiesen ist.
Die Slowakei will die Vorgehensweise der Ukraine in Brüssel grundsätzlich klären lassen. Sie macht einen Schaden von 500 Millionen Euro geltend und verlangt Kompensation.
Hans-Jochen Luhmann, Mitglied der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).