Bündnisbruch? Polen und Bulgarien erhalten von Gazprom kein Gas mehr

 

In der gegenwärtigen Phase des Ukraine-Krieges wird öffentlich fast allein über Mittel (Waffen), kaum aber über die damit jeweils unterstützten Strategien gestritten. Dadurch werden Risse im westlichen Bündnis zu militärstrategischen Konzepten übertüncht. Aktuell gibt es einen gaspolitischen Vorgang: Er bietet sich an, die Technik der Bündnisspaltung mit dem Ziel, die Regierungen der Bündnispartner unter dem Druck der öffentlichen Meinungen im je eigenen Lande in eine (unabgestimmte) Eskalation zu treiben, genauer zu analysieren, um das Muster festzumachen.



Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

In der gegenwärtigen Phase des Ukraine-Krieges wird öffentlich fast allein über Mittel (Waffen), kaum aber über die damit jeweils unterstützten Strategien gestritten. Dadurch werden Risse im westlichen Bündnis zu militärstrategischen Konzepten übertüncht. Der Streit über Mittel wird in Form eines Überbietungswettbewerbs geführt. Möglich ist das auf Basis der berechtigten öffentlichen Empörung über das grausame Geschehen. Dieses Streit-Muster aber ist nicht nur „natürlich“ emotional, es ist vielmehr auch strategisch kalkuliert, es ist die gewählte Austragsform eines bündnisinternen Konflikts, einer Akteursgruppe gegen andere.

Polen ist seit dem 24. Februar 2022 mehrfach dadurch aufgefallen, dass es gegen anscheinend beschlossene Konsens-Positionen des Westens opponierte, und das über intern unabgestimmte öffentliche Vorstöße. Das gilt sowohl für die „Flugverbotszone“ wie für die Lieferung von MiG-Kampfflugzeugen und betraf etliche Facetten der EU-Sanktionspolitik.

Aktuell gibt es einen gaspolitischen Vorgang gleichen Musters. Er bietet sich an, die Technik der Bündnisspaltung mit dem Ziel, die Regierungen der Bündnispartner unter dem Druck der öffentlichen Meinungen im je eigenen Lande in eine (unabgestimmte) Eskalation zu treiben, genauer zu analysieren, um das Muster festzumachen.

Bündnis-Charakter des EU-Gas-Systems

Entscheidend ist der Bündnis-Bezug. In einem Bündnis wird gegenseitige Solidarität versprochen. Die Gasversorgung der EU-Mitgliedstaaten hat Bündnis-Charakter. Seit 2009 gilt: Wenn irgendwo die Pipeline-Versorgung aus Drittländern ausfällt und es deswegen ein räumlich nahegelegenes Mitglied in besonderem Maße „trifft“, dann springen die anderen ein: Bestehende Leitungen wurden für den „reverse flow“-Modus eingerichtet, darüber erhalten sie Ausgleich und Unterstützung – so ist es versprochen. Anlass dafür, das so einzurichten, war ein Lieferstopp aus Russland, als es einen Konflikt über Gasrechnungen zwischen Gazprom und dem ukrainischen Gastransportunternehmen gab und Gazprom schließlich die Lieferungen an die Ukraine einstellte. Die Reaktion der Ukraine war, sich aus den über ihr Territorium nach Westen geleiteten Gasmengen zu bedienen – was Russland veranlasste, den Transport durch das Ukrainische Gas Transport System (UGTS) gänzlich zu unterbrechen. So, nach diesem „Warnschuss“, kam es zum EU-Solidaritätsmechanismus in der Versorgung mit Erdgas.

Der Stand an der Gasembargo-Front

Nach der militärischen Invasion Russlands in die Ukraine 2022 hat der Westen umgehend zu harten Wirtschaftssanktionen gegriffen. Die bisherigen Sanktionspakete der EU sind weitgehend abgestimmt mit Nicht-EU-Mitgliedern des Westens. EU-intern sind sie selbstverständlich abgestimmt, die Kompetenz für Sanktionsmaßnahmen liegt schließlich bei der EU. Ausgespart dabei wurde explizit der Gassektor, Import von Erdgas aus Russland in die EU-Mitgliedstaaten sollte weiter möglich sein. So die Beschlusslage. Das ist ein Minimum. Gewisse EU-Partner wollen mehr, in dieser Frage geht ein Riss durch die Europäer und den Westen generell – auch innerdeutsch besteht er. Dieser Riss betrifft eigentlich den gesamten Ansatz der Strategie gegenüber Russland, das Gasthema ist nur ein Symptom. Aber eines, welches gerade hochkocht.

Russland hat auf dem Feld der Wirtschaftskriegsführung kaum mit Gegensanktionen reagiert. Zu den wenigen Ausnahmen gehört die Ansage vom 23. März 2022, für Gaslieferungen aus Russland sei ab Ende April 2022 in Rubel zu zahlen. Formalisiert wurde das in Form des Dekrets des Präsidenten der Russischen Föderation Nr. 172 vom 31. März 2022 „Über ein besonderes Verfahren zur Erfüllung der Verpflichtungen ausländischer Käufer gegenüber russischen Erdgaslieferanten“.

Die für die Medien bestimmten Reaktionen des Westens gehören in die Schublade „Desinformation“: Man warf Russland/Gazprom „Vertragsbruch“ vor – welch eine Kategorie bei Kriegsführung mit Wirtschaftssanktionen! Die G7-Runde der Energie- und Wirtschaftsminister am 28. März 2022 forderte, aus dem Handgelenk, die Gas importierenden Unternehmen auf ihrem Territorium auf, nur gemäß derjenigen Währung zu zahlen, die jeweils in den Verträgen steht, also in aller Regel in Euro beziehungsweise US-Dollar. Wer den Schaden trüge, wenn die Chefs von Aktiengesellschaften auf Zuruf mal eben deren gesamtes in Infrastrukturen investiertes Vermögen „versenken“ – keine Ansage dazu von den Ministern.

Folglich wurde die Aufforderung nicht so heiß gegessen wie sie in der Polit-Show gekocht worden war. Russland machte einen Verfahrensvorschlag; die EU prüfte, ob er mit dem Wortlaut der EU-Sanktionsgesetzgebung kompatibel sei. Am 22. April 2022 teilte die EU-Kommission mit, dass EU-Unternehmen für russisches Gas über ein Doppelkonto Dollar-Rubel beziehungsweise Euro-Rubel bei der Gazprombank bezahlen können, ohne europäische Sanktionen gegen Moskau zu verletzen. Im Wortlaut: „EU-Unternehmen können ihre russischen Geschäftspartner auffordern, ihre vertraglichen Verpflichtungen auf dieselbe Weise zu erfüllen wie vor der Verabschiedung des Dekrets, das heißt durch Hinterlegung des fälligen Betrags in Euro oder Dollar.

Inzwischen beziehen mindestens zehn Unternehmen aus EU-Mitgliedstaaten weiterhin Gas aus Russland und begleichen ihre Rechnungen, unbeanstandet, kompatibel mit der Sanktions-Rechtslage sowohl in der EU als auch in Russland. Es war gemäß dem Motto gelaufen: Wo ein Wille (zur Embargo-Vermeidung) ist, da ist auch ein rechtlicher Weg.

Polen schert aus – Bulgarien zieht mit

Am 27. April 2022 gab Gazprom öffentlich bekannt, dass es die Gaslieferungen an Bulgargaz (Bulgarien) und PGNiG (Polen) wegen nicht fristgerechter Zahlung in Rubel vollständig eingestellt hat. Am 26. April 2022 hatte Gazprom den polnischen und bulgarischen Importeuren intern mitgeteilt, dass sie ab dem 27. April 2022 keine Gaslieferungen mehr erhalten. Zum Hintergrund teilte PGNiG mit

Nach einer gründlichen Analyse des Dekrets lehnte der Vorstand der PGNiG solche vorgeschlagenen Abwicklungsbedingungen als unvereinbar mit den geltenden Bestimmungen des Jamal-Vertrags ab und beschloss, Zahlungen gemäß den bestehenden Regeln des Vertrags zu begleichen.

Das Unternehmen habe die Möglichkeit, Gas sowohl aus der Europäischen Union zu beziehen, dank der Verbindungen mit Deutschland und der Tschechischen Republik, als auch aus dem internationalen LNG-Markt über das Terminal in Świnoujście. Auch stünden die Gasspeicher in Polen zur Verfügung, deren Füllstand derzeit bei etwa 80 Prozent liege.

Polen weist somit darauf hin, dass das Unvereinbarkeitsergebnis seiner Vertragsprüfung nichts mit der Sanktionsgesetzgebung der EU zu tun habe sondern ein Alleingang ist. Es erklärt von sich aus, dass die Partner in der Gas-Allianz EU zum Ausgleich des mutwillig herbeigeführten Mangels beitragen werden – das ist eine Anspruchshaltung. Hinsichtlich der gaspolitischen EU-Solidarität, die selbstredend in beiden Richtungen zu gelten hat, tut Polen so, als ob die Gasspeicher auf polnischem Territorium allein für die Endverbraucher in Polen reserviert beziehungsweise reservierbar seien.

Das polnische Innenministerium hat weitere Sanktionen gegen natürliche und juristische Personen aus Russland verhängt. Auf der Liste stehen 15 Einzelpersonen und 35 auf dem polnischen Markt tätige Unternehmen mit Verbindungen zu Russland und Belarus. Bestraft wurden auch die Energieunternehmen Gazprom und Novatek.

Die Entscheidung über die Sanktionen wurde ermöglicht mit einem Sondergesetz, das von Staatspräsident Duda Mitte April unterzeichnet worden war. Das polnische Innenministerium hat Sanktionen auch gegen russische Firmen verhängt, die nicht von den Sanktionen der EU betroffen sind, wie zum Beispiel der Gazprom-Konzern. Die 48-Prozent-Beteiligung von Gazprom an EuRoPol Gaz, dem Eigentümer des polnischen Abschnitts der Jamal-Gastransitpipeline von Russland nach Deutschland, wurde zum Beispiel eingefroren.

Polen eskaliert somit nun in der Wirtschaftskriegsarena unilateral. Mehr noch: Polen geht damit über die Sanktionshoheit der EU hinaus, stellt diesen Teil der EU-Rechtsordnung in Frage. Der Hintergrund in Bulgarien scheint ähnlich zu sein, das dortige Staatsunternehmen Bulgargaz hat sich entschieden, nach Erhalt einer Vertragsergänzung mit Gazprom, in einen Prozess der rechtlichen Klärung einzusteigen – und solange bei der alten Zahlungsweise zu bleiben.

Die Reaktion aus Brüssel

Die Reaktion in Brüssel: Der vermutliche EU-Vertragsbruch wird von der „Hüterin der Verträge“, der Kommission, beklatscht, Solidarität seitens der EU wird ungeachtet des Solidaritätsbruchs der beiden Mitgliedstaaten zugesagt. Frau von der Leyen sagt

„<es> kommt nicht überraschend, dass der Kreml fossile Brennstoffe versucht zu nutzen, um uns zu erpressen. … Heute haben sich die Mitgliedstaaten in der Koordinierungsgruppe Erdgas getroffen. … Sowohl Polen als auch Bulgarien erhalten jetzt Gas von ihren EU-Nachbarn. Dies zeigt vor allem unsere große Solidarität miteinander,

Mit keinem Wort spricht die Kommissionspräsidentin das strategisch Entscheidende an. Erpressbar ist das gaspolitische Bündnis EU nämlich durch ein Gasexportembargo Russlands im nächsten Winter. Alle Anstrengungen der gaspolitischen Gemeinschaft Europas richten sich darauf, möglichst viel an geliefertem Gas-Überschuss noch in diesem Frühling und Sommer in die Erdgas-Speicher zu leiten, um mit einem möglichst hohen Füllstand in den nächsten Winter gehen zu können – um dann, in der Zeit wirklicher Abhängigkeit von Russland, nicht erpressbar zu sein. Das ist das Ziel der gegenwärtig mit Hochdruck betriebenen Politik der Speicherfüllung. Das ist die eigentliche Front, an der gegenwärtig gaspolitisch gekämpft wird.

Polen unterläuft diese Politik der Vorsorge, das polnisch-bulgarische Eskalations-Verhalten tut dem eigentlich gemeinsamen strategischen Ziel Abbruch. Diese beiden Staaten eskalieren unabgestimmt in der Gegenwart, in der Erwartung, dass sie im nächsten Winter ohne Abstriche am gemeinsamen Solidaritätspolster werden teilhaben können. Gleichsam in Nibelungentreue, um die gemeinsame Front gegen Russland auch mit den unsolidarischen EU-Mitgliedstaaten zu halten, sieht sich Brüssel gezwungen, dazu zu schweigen.

Polens Gasbezug aus Russland wird mit 50 Prozent angegeben, der von Bulgarien mit über 90 Prozent. Für beide Staaten gibt es nun eine Lücke im Gasbezug, die zu schließen ist. Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten Gaslieferungen aus anderen Mitgliedstaaten an Polen und Bulgarien. Sollen diese Bezüge dort keine Lücke reißen, so kommen sie natürlich (zum Teil) aus zusätzlichen Lieferungen aus Russland, welche diejenigen zehn Unternehmen in der EU beziehen, die pragmatisch und sinngemäß mit dem Stand des Wirtschaftskrieges umgehen. In den Medien wird berichtet, dass das an Polen und Bulgarien gelieferte Gas nicht aus Russland komme ….; na ja, das ist wieder das rhetorische Spiel, als ob man dem einzelnen Gas-Molekül einen physischen Herkunftsnachweis anheften könne. Strategisch entscheidend ist allein, dass netto auf EU-Territorium weniger eingespeichert wird. Das ist der Schaden: eine erhöhte Verletzlichkeit für Erpressung.

Bündnisse und ihre Fallen

Kriegsvorsorge wird in aller Regel von Allianzen betrieben, geht es schief, so werden die Kriege von Bündnissen geführt. Da gibt es das Phänomen der „schlafwandlerischen“ Verstrickung in einen umfassenden Krieg – Christopher Clark hat mit seinem Buch „Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ aus dem Jahre 2012 dieses Narrativ für die (angeblich) unwillentliche Kriegsführung geprägt.

Dieses angeblich „Unwillentliche“ ist regelmäßig Ergebnis einer bemerkenswerten bündnis-internen Dynamik. Die Wissenschaft vom Konflikt hat das inzwischen auf eine gute Formel gebracht. Im Hintergrund steht als Modell das Verhalten, welches aufgrund des Solidaritätsversprechens an Österreich seitens des Deutschen Reiches zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt hat – da hat, so die Fachsprache, ein manipulativer „client“ den „patron“ zum Präventiv-Angriff (auf Frankreich) verführt, der Schwanz hat mit dem Hund gewedelt.

Theoretische Sicherheitspolitiker haben daran erinnert, dass es sich hier um einen aus der Versicherungsökonomie bekannten Schematismus handelt, das sogenannte „moral hazard“-Verhalten. Damit wird ein risikobereites Verhalten eines Subjekts beschrieben, welches die eventuellen Folgen seines Handelns nicht selbst tragen muss sondern an eine größere Haftungsgemeinschaft abwälzen kann. Man müsse, so die Konsequenz, unterscheiden zwischen einem „beneficial ally“ und einem „dangerous security client“.

Konsequenz daraus ist die Lehre, in der Situation eines akuten Konflikts den Nebel der behaupteten Interessen-Einigkeit zu verscheuchen, den Blick stetig auch auf die erwartbaren Risse in einem Bündnis zu richten. In der gegenwärtigen Phase des Ukraine-Krieges werden die Risse im westlichen Bündnis zu militärstrategischen Konzepten übertüncht. Das Gas-Beispiel vermag Bände zu sprechen.



Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>