Das Bundesverfassungsgericht zum Klimaschutz: Die Mathematik ist beim Gericht angekommen – wenn auch nur teilweise.

 

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Die Aufforderungen „Folgt der Wissenschaft!“ haben Frucht getragen: Bei dem am 29. April 2021 veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzpaket der Bundesregierung haben die Richterinnen nachvollzogen, was ihnen vorgerechnet worden war. Dennoch wird klar, dass sich deutsche Richterinnen die Durch-Mathematisierung, die im Klimarecht, auch im deutschen, in Detailregelungen schon voll etabliert ist, einfach nicht vorstellen können. Man sollte einen Kurs „Mathematik im Klimarecht“ im Rahmen der richterlichen Fortbildung anbieten.



 

Macht und Wirklichkeitswahrnehmung

Eine selbstkritische Charakterisierung der Justiz lautet „judex non calculat“. Zu deutsch: „Richter rechnen nicht.“ In Pennäler-Beobachtung übersetzt: Wer beim Abitur in Mathe eine Fünf hat, studiert Jura.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich zur Kimaschutzpolitik in Deutschland geäußert. Endlich. Die Aufforderungen „Folge der Wissenschaft!“ haben eine Frucht getragen. Beim Klimaschutz geht es um Zahlen. Und die Richter haben nachvollzogen, was ihnen vorgerechnet worden war.

Es ging um die deutsche Klimapolitik. Die hatte sich darauf eingerichtet, Klimapolitik immer nur „auf Sicht“ zu fahren, mit Vorgaben für die nächsten zehn bis höchstens 15 Jahre. Bloß nicht das Ganze in den Blick nehmen, war die Devise. Sie wussten, was sie taten. Der Blick auf’s Ganze hätte „der Politik“ genommen, was ihre Vertreter „Gestaltungspielraum“ nennen. Den Blick auf’s Ganze sahen sie als Einbuße an Macht. Deshalb verweigerten sie ihn. Galileis Kardinäle lassen grüßen.

Der Sinn aller Klimapolitik der OECD-Staaten aber ist die Heraufführung eines Modells, einer Blaupause, einer postfossilen Industriegesellschaft – der 300jährige Umweg, der mit der Erfindung der Dampfmaschine begann und zum Zugriff auf die gespeicherten Vorräte einstmals biogener, sogenannter „fossiler“ Energien führte, musste zu einem Ende kommen. Mit PV- und Windanlagen ist der Durchbruch geschafft, wir können Solarenergie direkt physikalisch, abiotisch, ernten ohne Umweg über Biosphäre und Verbrennungsprozesse. Und von ihr gibt es mehr als genug, das Problem der Kanppheit (fruchtbarer) Flächen, welches um 1800 zur fossilen Abstützung führte, ist überwunden. Das alles ist von Anbeginn, von 1990, an klar gewesen. Das implizierte Zweierlei:

  • Die postfossile Industriegesellschaft ist mit spezifischen Schlüsseltechnologien und (veränderten) Infrastrukturen verbunden – und dann auch mit veränderten Lebensstilen.
  • Die Emissionen von Treibhausgasen werden eines Tages, der einstmals, 1990, 60 Jahre entfernt war, heute aber nicht mehr so fern ist, die Nulllinie schneiden.

Die Mathematik der Kurven, von hier nach Null in 2050 zu kommen

Eine abwärts gerichtete Verbindung zwischen zwei Punkten, zwischen dem Stand heute und der Null, kann man in verschiedenster Weise zeichnen. Es gibt drei Grundformen:

  • Eine Gerade, die Linie. Sie ist bekanntlich durch die „Steigung“, einen sogenannten „linearen Faktor“, mathematisch bestimmt. Die Vorkehrung für die Sektoren, die dem Begrenzungsmechanismus der EU, deren Emissionshandel (EU ETS) unterstellt sind, lautet EU-seits entsprechend wie folgt:
    Die unionsweite Menge der Zertifikate, die ab 2013 jährlich vergeben werden, wird ab der Mitte des Zeitraums von 2008 bis 2012 linear verringert. Die Menge wird um einen linearen Faktor von 1,74 %, … verringert. Ab 2021 gilt ein linearer Faktor von 2,2 %.
    Diese Formulierung in Art. 9 bedeutet: Die EU-rechtlich definierte Gerade, mit direkter Wirkung für diejenigen Unternehmen, die Großemittenten sind und in Deutschland für die Hälfte aller Emissionen verantwortlich sind, geht stetig abwärts, schneidet die Nulllinie und geht anschließend, schon im Negativen, stetig abwärts.
  • Eine konvexe Kurve, die an einen eingezogenen Bauch beziehungsweise Halfpipe erinnert – da geht es anfangs steil bergab, um später eher asymptotisch auf die Ebene, auf Null-Niveau zuzulaufen.
  • Eine konkave Kurve, die an einen wirklichen Bauch, an einen Träger mit Übergewicht, erinnert. Deren Gestalt folgt dem Grundsatz: „Was Du heut’ nicht willst besorgen, das verschiebe gern auf morgen!“ Da lässt man es anfangs sachte angehen, später hingegen muss es sturzflutartig gehen.

Mit allen drei Kurven, mit allen drei Arten von Gestalt, gelangt man in 2050 auf Null – so die Mathematik. Ob man aber wirklich bei einer sturzflutartigen Gestalt, die für die Politikform der „Aufschieberitis“ kennzeichnend ist, auch auf eine wirtschaftsverträgliche Weise auf Null noch kommen kann, ist offen. Von dieser Implikation der seit Jahrzehnten in Deutschland betriebenen Politik der Verzögerung, des „einen dicken Bauch vor sich hertragen“, haben die Träger dieser Politik nie wissen wollen, eine Untersuchung haben sie folglich nie in Auftrag gegeben.

Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Kurvengestalt vor Augen, als es zum Bundesklimaschutzgesetz in der Fassung von Oktober 2019 urteilte. Es bemängelte, dass für den Zeitraum ab 2030 keine sektoralen Verpflichtungen mitgesetzt worden seien. Sein Argument war, dass bei dem, was hier mit „sturzflutartig“ eingeführt wurde, Freiheitsrechte absehbar nur noch Schall und Rauch seien:

Um das <’Paris-Ziel’> zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern.

Die Bedeutung des Integrals, des Budget-Prinzips, eher heruntergespielt

Kurven, Linien, sind eindimensionale Gebilde im Raum. Aufgemalt werden sie im zweidimensionalen Raum. Folglich sind sie auch als Begrenzung von Flächen zu lesen. Das Dreieck unter einer negativ geneigten Gerade bezeichnet die Fläche unter der Gerade. Die drei eingangs skizzierten Kurvenverläufe sind zwar insofern alle gleich, dass alle drei auf Null in 2050 führen.

Ungleich aber sind sie in der Fläche, die sie unter sich skizzieren. Die mit dem eingezogenen Bauch markiert die geringste Fläche, die konkave Kurve braucht am meisten, die Gerade bezeichnet den Mittelwert. Darauf hat das Verfassungsgericht nicht geschaut. Wenigstens explizit nicht.

Klimapolitisch aber ist diese zweidimensionale Charakterisierung der Kurven, die zur Auswahl stehen, entscheidend. Seit etwa 15 Jahren vertritt die Klimawissenschaft die Einsicht, dass angesichts der Langlebigkeit dessen, was einmal emittiert ist, es nicht auf den Zeitpunkt einer Emission ankomme. Die menschgemachte Temperaturerhöhung sei der Menge emittierter Treibhausgase insgesamt, seit der Industriellen Revolution, äquivalent. Das Klimaziel, als maximale Temperaturerhöhungsgrenze formuliert, entspreche vielmehr einem Budget noch emittierbarer Mengen an Treibhausgasen. Das BVerfG übersetzt diese klimapolitisch grundlegende Äquivalenzbeziehung gleichsam umgekehrt proportional in Einbußen von Freiheitsrechten:

Ein umfangreicher Verbrauch des CO2-Budgets schon bis 2030 verschärft … das Risiko schwerwiegender Freiheitseinbußen, weil damit die Zeitspanne für technische und soziale Entwicklungen knapper wird, mit deren Hilfe die Umstellung von der heute noch umfassend mit CO2-Emissionen verbundenen Lebensweise auf klimaneutrale Verhaltensweisen freiheitsschonend vollzogen werden könnte.

Doch das Gericht sieht bislang keinen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Klimaschutzgebot aus Art. 20a GG. Es zitiert zwar den entscheidenden Text der Wissenschaft, doch es überspielt das mit dem quantifizierungsscheuen Argument, es gelte ein Spielraums-Recht für den Bundesgesetzgeber.

… der Sachverständigenrat für Umweltfragen <hat> … für Deutschland ein ab 2020 verbleibendes konkretes nationales Restbudget ermittelt, das mit dem Paris-Ziel vereinbar wäre. Aufgrund der hierin enthaltenen Ungewissheiten und Wertungen kann die ermittelte Budgetgröße zwar derzeit kein zahlengenaues Maß für die verfassungsgerichtliche Kontrolle bieten. Dem Gesetzgeber bleibt Entscheidungsspielraum. Diesen darf er jedoch nicht nach politischem Belieben ausfüllen. Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, erlegt Art. 20a GG dem Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht auf.

Das Kalkulieren in Flächen, in Integralen unter den Linien, hat das BVerfG sich somit nicht zu eigen macht. Im Wortlaut:

Durch die in … KSG … geregelten Emissionsmengen würde das vom Sachverständigenrat für Umweltfragen … ermittelte Restbudget bis zum Jahr 2030 weitgehend aufgebraucht. Das Maß an Verfehlung bildete jedoch verglichen mit den derzeit in der Berechnung des Restbudgets enthaltenen Unsicherheiten keine hinreichende Grundlage für eine verfassungsgerichtliche Beanstandung.

Für das Gericht stellt sich das Abwägungsproblem als eine Aufgabe der Bruchrechnung. Im Zähler steht der Spielraum des Gesetzgebers, im Nenner stehen die Unsicherheiten bei der Bestimmung des Restbudgets. Das wird vom BVerfG gegenseitig gekürzt – und schon ist das Ergebnis der Wissenschaft, vertreten durch den Sachverständigenrat für Umweltfragen, ‚Restbudget bis zum Jahr 2030 nahe Null’,verfassungsrechtlich weggezaubert. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hingegen betont in seiner Reaktion auf das Urteil, durch sein Mitglied Wolfgang Lucht, noch einmal die Quantifizierung:

„… Deutschland als führendes Industrieland <hat> seine CO2-Emissionen … auf maximal 6,7 Mrd. Tonnen ab 2020 begrenzen, um seiner sachlich, moralisch und nun auch rechtlich begründeten internationalen Verpflichtung nachzukommen.

Auch wenn das Gericht sich die Bestimmung des Restbudgets seitens des zuständigen wissenschaftlichen Beratungsgremiums der Bundesregierung, des Sachverständigenrat für Umweltfragen, nicht zu eigen macht, so stellt er doch fest, dass an der Korrektheit dessen Ableitung keine Zweifel bestehen – an der Ableitung eines Restbudgets in Höhe von 3,5 Milliarden Tonnen CO2 seitens der Kläger hingegen schon. Deren Restbudget wäre bei der bis 2030 geltenden Klimapolitik im Jahre 2025 schon aufgebraucht, bei einem Restbudget wie vom Sachverständigenrat für Umweltfragen bestimmt würden im Jahre 2030 noch etwa eine Milliarde Tonne CO2 für die Zeit bis 2050 übrig bleiben.

Die Konsequenz des Gerichts – gewohnt mathematik-scheu

Im Ergebnis gibt das BVerfG dem Gesetzgeber Nachbesserung vor:

Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Fortschreibung der Minderungsziele der Treibhausgasemissionen für Zeiträume nach 2030 bis zum 31. Dezember 2022 näher zu regeln.

Auch zur Form dieser Nachbesserung gibt das Urteil Hinweise. Der zentrale ist negativ formuliert und lautet:

„<Es> kann nicht verlangt werden, dass die absinkenden Emissionsmengen bereits jetzt bis zur Erreichung der für 2050 angestrebten Klimaneutralität konkret bestimmt werden.

Damit schließt das Gericht die Forderung aus, man solle in Deutschland rechtlich dasselbe tun, was auf EU-Ebene seit 15 Jahren etabliertes Recht ist. Schon seltsam. Ich vermute, es ist Unwissen im Spiel. Deutsche Richter können sich die Durch-Mathematisierung, die im Klimarecht, auch im deutschen, in Detailregelungen schon voll etabliert ist, einfach nicht vorstellen. Man sollte einen Kurs „Mathematik im Klimarecht“ im Rahmen der richterlichen Fortbildung anbieten.


Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>