Unrecht Gut gedeihet wohl

 

Das deutsche Rechtssystem und die kriminellen Machenschaften von Unternehmen

Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann

Ein Vertreter der Jurisprudenz betrachtet Texte und legt sie aus. Wir als Beobachter hingegen reiben uns allzu oft die Augen und fragen, wo denn die Gerechtigkeit bleibt. Wir schauen auf unser Rechtssystem und fragen, ob es funktioniert, das heißt ob es Gerechtigkeit produziert. Und wir reden dabei nicht von unglücklichen Einzelfällen.

Wir reden von systemischen Mängeln. Edda Müller, seit 2010 Vorsitzende von Transparency International Deutschland, formulierte 2015 in ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Max Friedländer Preises durch den Bayerischen AnwaltVerband beispielsweise über die Rolle von Verbraucheranwälten:

„Ihre Möglichkeiten, den Verbrauchern Recht zu verschaffen, sind wegen fehlender rechtlicher Instrumente beschränkt. Höchst unbefriedigend ist […] die Effektivität kollektiver Klagerechte hinsichtlich des Ziels der Marktbereinigung. Ich bewundere die Sisyphusarbeit der Verbraucheranwälte etwa bei der Anwendung des UWG [Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, d.Red.]. Und finde es mehr als unbefriedigend, wenn trotz richterlichem Urteil zur Unlauterkeit bestimmter Werbemethoden die Verbraucher an den rechtlich unzulässig zustande gekommenen Vertrag gebunden sind.

Ihre Diagnose lautet somit: Selbst eine gerichtliche Feststellung von Unrecht führt nicht (i) zur Aufhebung dieses Unrechts-Tatbestands – er darf weiter wirken; und sie führt auch nicht (ii) zur Aufhebung der festgestellten Marktverzerrung – die irregulär erworbenen Vorteile werden dem abgeurteilten Wirtschaftsunternehmen gelassen.

Edda Müller ging dann über zu einem weiteren Fall. Sie deutete ihn in seiner Spezifität jedoch nur an und bediente sich sofort einer abstrakten Sprache:

Auch dient es nicht der Markthygiene und dem allgemeinen Rechtsempfinden, wenn betrügerische Unternehmen ihre Gewinne behalten können, weil es derzeit im deutschen Recht keine praktikablen Rechtsinstrumente gibt, den millionenfachen Verstoß gegen Verbraucherrechte wirksam zu ahnden.

Dass es so ist, dass Unternehmen selbst die Erträge, die sie durch Betrug „erwirtschaften“, in Deutschland behalten können – von einem statistischen Aufschlag, wie bei ertappten Schwarzfahrern im ÖPNV üblich, oder gar von einer Strafe im eigentlichen Sinne, über die Gewinnabschöpfung hinaus, also etwas Abschreckendem, gar nicht zu reden –, diese Einschätzung substantiiert sie am aktuellen VW-Fall:

„Sollte VW diese <betrogenen> Kunden nicht freiwillig zufriedenstellen, kann es gelassen die Einzelklagen abwarten. Gelassen kann es auch einer Einziehungsklage nach § 79 Absatz 2 Nr. 3 der Zivilprozessordnung entgegen sehen. Die Erfahrungen der Verbraucherzentralen mit diesem Rechtsinstrument sind schlecht. Die Organisation einer Massenklage ist sehr aufwändig. Am Ende profitieren selbst bei einem positiven Urteil nur diejenigen Verbraucher, die in einem Rechtsstreit vertreten waren. Die anderen gehen leer aus, oder ihre Ansprüche sind zwischenzeitlich verjährt.“

Viele kleine Kunden gehen leer aus, ihr betrügerisch abgegriffenes Geld verbleibt beim Großen, dem Unternehmen. In den USA wäre ein solches Rechts- und Wettbewerbsverständnis undenkbar: Durch Betrug erworbene Einkünfte nach Aufdeckung beim Täter zu belassen, ist im Fall von Unternehmen offenkundig wettbewerbsverzerrend. Wenn schon nicht Gerechtigkeitsziele im Verhältnis von vielen Kleinen und wenigen Großen durchgesetzt werden, so müsste doch wenigstens der Schutz der Marktordnung verlangen, dass solche irregulären Gewinne abgeschöpft werden – womit auch der Anreiz verschwinden würde, es immer wieder zu versuchen.

Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH.

Der spezielle aber exemplarische Fall

Hintergrund der sehr grundsätzlichen Einschätzung ist eine Schlüsselerfahrung, die beim Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) einmal gemacht wurde, im Zusammenhang mit der Währungsumstellung von DM zu Euro im Übergang der Jahre 2001/02. Ein Telekommunikations-Unternehmen (O2) hatte im Zuge der Währungsumstellung die Preise zu seinen Gunsten um 0,7 Prozent „gerundet“, also die Kosten der Kunden entgegen der Vertragslage erhöht. Für jeden einzelnen Kunden ging es nur um wenige Cents, die den Aufwand nicht lohnten, sich zu wehren. Gegenüber 400.000 betroffenen Kunden aber brachte diese Chuzpe für das Unternehmen einen Zusatz-Ertrag über mehrere Jahre in zweistelliger Millionen-Höhe.

Die Verbraucherzentrale Hamburg, das dortige Mitglied des vzbv, hatte geklagt. Zunächst hatte die Klage allein auf Abstellung der falschen Währungsumrechnung abgezielt und war nach mehreren Instanzen im Mai 2005 gewonnen. In der Zwischenzeit war durch die als unrechtmäßig erwiesene Verhaltensweise der erwähnte Gewinn qua Betrug entstanden.

Seit dem 8. Juli 2004 gilt eine Vorschrift im Wettbewerbsrecht (§ 10 UWG), die es erlaubt, Unrechtsgewinne abschöpfen. Die wollte das Hamburger vzbv-Mitglied erstmals anwenden. Seine Schätzung des betrügerischen Gewinns machte klar, dass es um einen Streitwert in Millionenhöhe ging, das Prozessrisiko des Pilot-Prozesses somit für es untragbar war. Die Verbraucherzentralen stellen eben einen gemeinnützigen Verband dar, der im wesentlichen von Landes- und Bundeszuschüssen getragen wird und nicht über eine eigene Kapitaldecke verfügt.

Für einen Prozess nach § 10 UWG benötigte die Verbraucherzentrale Hamburg eine Abdeckung des Prozessrisikos. Der Bundesverband ging dazu auf das Bundesfinanzministerium zu; was nahelag, da im Erfolgsfall der abgeschöpfte Gewinn der Staatskasse zufließt, nicht dem klagenden vzbv-Mitglied. Faktisch entscheiden damit die Regierungen, in diesem Fall der Bundesfinanzminister, über die Rechtsdurchsetzungspolitik des Verbraucherverbandes.

Das verstörende Phänomen: Der Bundesfinanzminister hat in diesem faktisch sonnenklaren Erst-Fall, bei dessen erfolgreichem Ausgang er den eingezogenen Gewinn erhielte, nicht zugestimmt. Dass ein rechtliches Risiko bestand, ist klar. Aber das auszutesten, müsste das Anliegen der Bundesregierung sein, wenn sie denn zum Inhalt der Maxime der Gewinnabschöpfung stünde. Seitdem ich von diesem Fall gehört habe, rätsle ich über die möglichen Motive für das seltsam uneigennützige Verhalten des Bundesfinanzministers – mag Parteienfinanzierung eine Rolle spielen?

Der vzbv hat für diesen Erst-Fall nach Absage des Bundesfinanzministers eine Alternative gefunden. Der Prozessfinanzierer FORIS AG wurde gewonnen, das Risiko zu übernehmen. So kam es zum Prozess – und das Hamburger vzbv-Mitglied verlor (20.5.2010). Das doppelte Ergebnis dieses klärenden Prozesses:

  1. i) Der zweistellige Millionenbetrag blieb unangefochten bei dem „betrügerischen“ Unternehmen, gelangte nicht in die Staatskasse, wo er hingehört.
  2. ii) Das OLG München verneinte den Vorsatz von O2 bei der Verwendung eines Umrechnungsfaktors von 0,51 Euro statt des rechtlich korrekten von 0,5062 Euro. Der neugefasste § 10 UWG erwies sich somit als unpraktikabel. Die Reaktion des Gesetzgebers auf diese Erfahrung war gleich Null.

Es ist also weiterhin in Deutschland: Unternehmen können ihre betrügerisch erlangten Gewinne behalten, weil es derzeit im deutschen Recht keine praktikablen Rechtsinstrumente gibt, den millionenfachen Verstoß gegen Verbraucherrechte wirksam zu ahnden.

 

 

Es wird vom Lion Air Flug am Tag zuvor (28. Oktober 2018) berichtet, dass die Piloten mit demselben Problem zu kämpfen hatten, zufällig aber ein nicht-diensthabender erfahrener Pilot mit im Cockpit war und sagen konnte „Ich kenne das Problem, Ihr müsst den Hebel X drücken.“

Die Untersuchungen in Seattle haben inzwischen etwas weit Ärgeres herausgebracht: Für die gesamte 737-Serie wurde das Duplizitätsprinzip für die Computersteuerung an Bord zwar hardwareseite eingebaut – dann aber wurden die faktisch nicht sinngemäß laufen gelassen, also einer aktiv, éiner im Stand-by, um im Fall des Ausfalls übernehmen zu können. Die beiden Bordcomputer waren vielmehr so eingestellt, dass die pro Flug abwechselnd nur einzeln eingeschaltet wurden.

Vgl. dazu die folgende Meldung vom 6.6.14 (Interfax Ukraine):
<<Interior Minister Arsen Avakov has said. „I have decided that a hundred percent of combat and patrol units of the Interior Ministry will take part in the antiterrorism operation. This is not only a necessity but also a test of their proficiency, spirit and patriotism. The tempering of units with real threats and challenges is a factor of the creation of a new police force which will be trusted by the public,“ … Avakov reported that 21 officers of the Chernihiv special-purpose patrol battalion comprising volunteers refused to go on a patrol mission in Luhansk region. „The battalion was assigned a patrolling mission in Luhansk region the day before yesterday. Eighty-six men departed to the designated sector to do a man’s job and to accomplish a combat mission in the regime of antiterrorism patrols. Twenty-one persons refused to go and submitted their resignations… They were dismissed immediately,„>>