Die durch den Ukraine-Krieg bedingte Welternährungskrise und die Mitverantwortung des Westens
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann
Zum Krieg gehört auch der Kampf an der Propagandafront. Da gibt es die Defensiv- und die Offensiv-Abteilung. Aufgabe der Defensiv-Abteilung ist der Schutz der eigenen Bevölkerung vor gegnerischen Narrativen, Aufgabe der Offensiv-Abteilung ist die Verbreitung eigener Narrative beim Gegner. Soweit so klar.
Pikant wird es, wenn man das Kommunikationsverhalten in konkreten Fällen analysiert. Der Effekt des Ukraine-Krieges (samt Wirtschaftskrieg) auf die bedrohliche Lage der Welternährung ist dafür ein geeignetes Sujet. Russland und die Ukraine sind beide potente Spieler auf den hier relevanten Weltmärkten. Beide Länder zusammen halten die folgenden Anteile an den weltweiten Exporten an Basis-Lebensmitteln:
gemeinsam | davon Russland | davon Ukraine | |
Weizen | 30 % | 17 % | 13 % |
Mais | 20 % | ||
Sonnenblumenöl | 60% |
Bei den Düngemitteln ist allein Russlands Stellung global zentral, sowohl bei Stickstoff als auch bei Phosphor und Kali.
Für die Welternährungslage, gerade in dem wenig entwickelten Ländern (LDC) und insbesondere in Ländern mit geringem Einkommen und Lebensmitteldefizit (LIFDC), spielen weniger Nahrungsmittelimporte als vielmehr die Düngemittelimporte eine zentrale Rolle. Dazu trägt die Ukraine kaum etwas bei. Wer es um die Welternährung, gerade in Afrika, ernst meint, muss also insbesondere um die Exporte Russlands besorgt sein.
In der Anfangssituation des Krieges fielen zwangsläufig Lieferungen aus. Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine war klar und offensichtlich, dass Russland es auch auf die Südküste der Ukraine abgesehen hatte, auch um die Verbindung zur Krim zu sichern. Folglich ventilierte Russland amphibische Operationen, wogegen die Ukraine sich durch Verminung ihrer Schwarzmeerküste schützte. Damit fielen die drei Häfen der Ukraine aus, über die bislang ein Großteil des Exports ukrainischen Getreides abgewickelt wurde – das sind Odessa, Chernomorsk und Yuzhny. Eine Besonderheit ist der Hafen Yuzhny, über den rund die Hälfte der globalen Ammoniak-Exporte Russlands abgewickelt wurde.
Russland mit seinem Krieg konnte für die Blockade zu Recht verantwortlich gemacht werden. Der Westen etablierte denn auch umgehend das darauf gegründete Narrativ. Doch im Sommer 2022 hat sich Entscheidendes verändert.
Kooperationsdruck mit dem Schwarzmeer-Getreide-Abkommen (BSGI)
Den Stand der Entwicklung habe ich hier auf „Blog der Republik“ am 7. November 2022 dargelegt. Die Bedrohung der Welternährung, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, hatte zu einer Initiative des UN Generalsekretärs geführt, die von Erfolg gekrönt wurde. Es kam am 22. Juli 2022 zu zwei komplementären Vereinbarungen ‑ wobei die Komplementarität nicht die der rechtlichen Formate ist, es geht um eine sachliche Komplementarität: Die Ukraine und die Russische Föderation unterzeichneten jeweils separate trilaterale Teilabkommen mit den Vereinten Nationen und der Türkei.
Beide Dokumente sind Teil der sogenannten „Initiative für den sicheren Transport von Getreide und Lebensmitteln aus ukrainischen Häfen“, der sogenannten Black Sea Grain Initiative (BSGI) der Vereinten Nationen, der Türkei, der Ukraine und Russlands. Zweck der Initiative ist die Erleichterung der sicheren Schifffahrt für den Export von Getreide und verwandten Lebensmitteln sowie von Düngemitteln, einschließlich Ammoniak – und zwar nicht nur für Exporte aus der Ukraine sondern auch für die aus Russland. Beide sind eben für die Ernährungssicherheit von höchster Bedeutung.
Die Ansprüche Russlands beziehen sich weit überwiegend auf Aufhebung von Behinderungen durch beziehungsweise im Gefolge kriegsbedingter Sanktionen des Westens. Dieses Anliegen ist überwiegend Gegenstand einer Vereinbarung Russlands mit den Vereinten Nationen – die Wirtschaftskrieg führenden Staaten des Westens sind schließlich keine Vertragspartner in der Black Sea Grain Initiative (BSGI). Die diesbezügliche Vereinbarung besteht also lediglich in einer Selbstverpflichtung der UN gegenüber Russland, sich gegenüber den Staaten des Westens für die Aufhebung von Behinderungen im Gefolge von Sanktionen einzusetzen, die diesem Ziel entgegenstehen, die also die Ernährungssicherheit insofern gefährden.
Nebenläufig geht es um den Spezialfall des Exports von in Russland produziertem Ammoniak, wovon die Hälfte etwa bislang über eine Pipeline zum ukrainischen Hafen Yuzhny gepumpt und dort verschifft wurde – mit Beginn des Krieges hat die Ukraine diese Umladestation sanktioniert. Es geht um eine Menge von bis zu 2,5 Millionen Tonnen pro Jahr und einen Wert von etwa 2,4 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Die UNO drängt, vereinbarungsgemäß, den Westen zur Kooperation, also dazu, entsprechende Hindernisse seinerseits beiseite zu räumen. Für den Westen ist das delikat. Er hat ein gespaltenes strategisches Interesse:
- Einerseits will er keine Ernährungskrise provozieren,
- andererseits will er Russlands „Kriegskasse“ durch Ausfall von Exporterlösen mindern.
Das macht Schwierigkeiten im Narrativ. Im Westen hat man sich offenkundig verabredet, weiter auf Russlands Alleinverantwortung abzustellen. Mittel ist in erster Linie, in Darstellungen des Schwarzmeer-Abkommens so zu tun, als ob es allein aus dem Teil bestünde, nämlich jenem, die Getreide-Exporte der Ukraine zu ermöglichen. Die Nachrichtenagenturen auch des Westens folgen traditionsgemäß einem – in diesem Fall kalkuliert ausblendenden – Narrativ ihrer jeweiligen Regierung; und folglich übernehmen das die Newsrooms der Medien. Der Vorteil: Es schützt vor Nachfragen in der Sache und zum Interessenkonflikt des Westens. Der Anteil eines Dünger-Mangels an der Wirkung auf die Versorgungslage bei Nahrungsmitteln ist zudem komplex, weil es hier um einen zeitverzögerten Effekt geht. Fehlt Dünger bei der Aussaat, folgt der Mangel, gegebenenfalls der Hunger, zeitversetzt. Die Gefahr, um die es da geht, ist nicht „imminent“.
Die so stratifizierte mediale Nachrichtenlage wird gestört, wenn eine Regierung, in diesem Fall die Deutschlands, präzise zu ihrer Haltung befragt wird, wie sie zu den via UN transportierten Forderungen Russlands stehe. Also zu der Möglichkeit, dass die westlichen Regierungen Anteil haben an dem Aufrecht-Erhalten, gar der Verschärfung, der Welternährungskrise – wenn diese Frage mit ja zu beantworten sein würde, wäre das etablierte Narrativ des Westens mit der Alleinverantwortung Russlands nicht mehr länger zu halten. Ob es bei den Regierungen der betroffenen Staaten, insbesondere Afrikas, noch verfängt, ist eh eine offene Frage.
Die Kooperationsbereitschaft der Bundesregierung auf dem Prüfstand, Stand Ende November 2022
Die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag hat am 19. Oktober 2022 eine Kleine Anfrage zu diesem Themenkomplex an die Bundesregierung gerichtet. Deren Antwort wurde am 30. November 2022 veröffentlicht. Demnach gilt zu den Schlüsselfragen (Frage 7) Folgendes – wobei methodisch die Knappheit der Aussagen der Bundesregierung in ihren Antworten auffällt:
- Zu den Vorhaltungen Russlands, übernommen von der UN-Beauftragten Rebeca Grynspan: Gefragt wurde nach der Kenntnis der Bundesregierung von
„Auswirkungen der von der Bundesregierung mitgetragenen EU-Sanktionen gegen Russland auf Russlands Lebensmittel- und Düngemittelexporte, zum Beispiel in den Bereichen Versicherung, Finanzierung und Verschiffung,“
In ihrer Antwort weist die Bundesregierung solche Auswirkungen zurück, weil das Sanktionsregime des Westens die relevanten Bereiche ausgeklammert habe. Dass der Westen auf die UN-Vorhalte hin die Ausnahmen im Sanktionsregime inzwischen verbessert hat, Auswirkungen damit implizit eingestanden wurden, wird schon nicht mehr berichtet.
- Einen Schritt weiter geht die Frage (Frage 8), ob Hindernisse möglicherweise nicht wörtlich aus den Sanktionsverordnungen abzulesen seien, sondern sie eigentlich vielleicht darin bestehen, dass eine
„Unsicherheit in der privaten Wirtschaft, dass eine Ausfuhr vermeintlich europäische Sanktionen verletzten könnte, den Export vor allem russischen Düngers einschränke, wie UN-Beauftragte Rebeca Grynspan festgestellt hat“.
Dabei handelt es sich um einen aus der Sanktionshandhabung der USA gut bekannten Mechanismus. Sanktionen werden hoch strafbewehrt, ihr Wortlaut aber verbleibt absichtsvoll in einer Ambiguität, die für Unternehmen nicht vorab auflösbar ist. Das Instrument der klärenden Voranfrage, wie im Steuerrecht Praxis, wird nicht angeboten. Dahinter steht selbstverständlich ein Abschreckungskalkül, welches rechtspolitisch in höchstem Maße fragwürdig ist.
In ihrer Antwort auf die Frage, die darauf zielt, spielt die Bundesregierung das Stück „Kannit verstahn“ beziehungsweise „bin machtlos, weil unzuständig“. Im Wortlaut:
„Der Bundesregierung ist bekannt, dass sich westliche Unternehmen – auch aus eigenem Antrieb – aus dem russischen Markt umfassend zurückziehen. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, dass sich Unternehmen nicht aus Sektoren zurückziehen, die für die weltweite Ernährungssicherheit relevant sind und für die die Sanktionen deshalb Ausnahmen vorsehen. Es handelt sich letztendlich jedoch um eine privatwirtschaftliche Entscheidung des jeweiligen Unternehmens. Hierbei spielen nach Kenntnis der Bundesregierung eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt auch gestiegene Kosten und Reputationsrisiken.“
- Schließlich wird (Frage 15) nach den 300.000 Tonnen russischer Düngemittel gefragt, die nach Auskunft von Präsident Putin in europäischen Häfen festgesetzt worden seien. Dabei erweisen sich die Fragesteller selbst als Opfer der spärlichen Thematisierung in deutschen Medien, als sie diese Behauptung via Reuters abstrakt der russischen Regierung zurechnen. Sie versäumen die Pointe, dass Präsident Putin dies in seinem Telefonat mit Bundeskanzler Scholz am 13. September 2022 zum Thema gemacht hat und die kostenlose Überlassung an bedürftige Staaten angeboten hat, wenn die Europäer die 300.000 t freigeben. Man hätte nach einer Reaktion des Bundeskanzlers fragen können.
Die Antwort der Bundesregierung hierzu ist maximal ausweichend. Sie lautet:
„Die Bundesregierung hat keine Kenntnis über die konkrete Gesamtmenge an Düngemitteln aus Russland, welche sich derzeit insgesamt in den Häfen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union befindet.“
Merke: Es war nicht gefragt worden, ob es vielleicht 298.365 oder 310.277 Tonnen sein mögen.
Résümée
So sieht es aus, wenn eine Regierung einen hybrid war führt, um Propagandaziele auch in der eigenen Bevölkerung durchzusetzen. Nun ist strategische Kommunikation einer Regierung auch in Demokratien nichts Besonderes. Das durch Aufklärung in Grenzen zu halten, ist in einer Demokratie Aufgabe der „freien“ Medien, deshalb ihre Funktion, „kritisch“ zu sein.
Ich habe den Eindruck, dass diese wegen des andauernden Kompetenzabbaus diese Rolle zunehmend weniger auszufüllen vermögen; und dass sie, um dies in Interviews zum Beispiel zu überspielen, zunehmend „kritisch“ mit „frech“ übersetzen. „Frech“ aber ist kein angemessenes Surrogat für „kritisch“. Es ist die Kritik-Rolle, wenn sie in der sachlichen Substanz ausgezehrt wurde.