Die Entscheidung der Bundesregierung zur „Entwicklung und Stationierung von abstandsfähigen Präzisionswaffen“
Die Kolumne von Hans-Jochen Luhmann (August 2024)
Es entwickelt sich in Deutschland gerade eine Kontroverse um den Vollzug einer Entscheidung der USA. Diese stammt aus dem Jahre 2021, als die USA mit der Aufkündigung des INF-Vertrages rechtlich die Möglichkeit geschaffen hatten: Ab 2026 sollen in Ergänzung zu ihren see- und luftgestützten Fähigkeiten auf deutschem Boden drei Formen landgestützter abstandsfähiger Präzisionswaffen stationiert werden, die Reichweiten von 500 bis 2.800 km haben.
Zur Stationierung in Deutschland vorgesehen sind zwei ballistische Formen („Raketen“), überdies ein Marschflugkörper. Treiber der Kontroverse sind offensichtlich drei Charakteristika:
- Die Landstützung, welche eine besondere potentielle Betroffenheit der Bevölkerung des Stationierungsstaates mit sich bringt.
- Die Singularität, dass allein Deutschland in Europa zur Stationierung ausgewählt wurde.
- Die fehlende Analogie zum NATO-Doppelbeschluss im Jahre 1979, welcher ein Rüstungskontrollangebot enthielt und selbst in dieser Form in Deutschland die Generation derjenigen, die im Konflikt um die Ukraine erfolgreich als „Putin-Versteher“ diffamiert wurden, im Protest auf die Straßen trieb.
Diese Kontroverse fokussiert, medialen Gesetzen gehorchend, auf den lange vorbereiteten, global kalkulierten, für Deutschland und Europa als mögliches Schlachtfeld jedoch höchst problematischen Stationierungs-Entscheid der USA.
Dabei existiert eine deutlich grundsätzlichere Positionierung der Bundesregierung, die übergangen oder lediglich am Rande angesprochen wird. Ich werde hier versuchen, die Elemente so zu ordnen, dass es zu einem Dialog mit der grundsätzlicher angelegten Regierungsposition kommen kann.
Position der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat am 14. Juni 2023 ihre Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt, die Druckfassung trägt das Datum 21. Juni 2023. Die Erarbeitung dauerte mehr als ein Jahr, der Prozess war schwierig, die Federführung wurde schließlich vom Auswärtigen Amt ins Kanzleramt verlegt. Verabredet war diese Vorlage, eine Neuerung im deutschen Politikwesen, im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung.
Diese Strategie ist „umfassend“ konzipiert, das heißt ihr wurde ein breites, ressortübergreifendes Verständnis von Sicherheit zugrunde gelegt. Die Strategie soll ein „Dachdokument“ sein, auf das sich spezielle Strategien anderer Ressorts mit Sicherheitsaufgaben beziehen können. Sie sollte im Schwerpunkt koordinierend wirken. Die Ankündigung einer konkreten militärischen Fähigkeiten-Entwicklung in diesem Dokument war nicht zu erwarten.
Das Verteidigungsressort hat konzeptionsgemäß seine Spezialstrategie am 9. November 2023 unter dem Titel „Verteidigungspolitische Richtlinien 2023“ vorgelegt.
In der Nationalen Sicherheitsstrategie findet sich aber doch, recht unscheinbar, im Rahmen einer Aufzählungsliste, die (grammatikalisch etwas holperige) Formulierung (S. 34):
„Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähige Präzisionswaffen befördern.“
In die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2023 hat das Verteidigungsministerium (BMVg) diese Aussage in folgender modulierter Fassung übernommen worden (S. 25):
„ … sind Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähigen Aufklärungsmitteln und Präzisionswaffen gezielt zu befördern.“
Mit der Modulation in der Fassung des BMVg wurde verunklart, ob „abstandsfähig“ sich, wie in der Nationalen Verteidigungsstrategie, auch auf „Präzisionswaffen“ beziehen sollte oder nicht.
„Abstandsfähige Präzisionswaffen“ ist ein schillernder Begriff. Er stammt aus dem Luftwaffenjargon und meinte ursprünglich Lenkwaffen, die von Flugzeugen „auf Abstand“ eingesetzt werden können, bevor diese in die Reichweite der gegnerischen Luftverteidigung geraten. Rein vom Wortsinn her könnte man auch moderne Artillerie mit lenkbarer Präzisionsmunition und großer Reichweite unter diesem Begriff subsumieren. Am 10. Juli 2024 hat die Bundesregierung zur Überraschung der Fachkreise jedoch offenbart, sie habe entschieden, auch Mittelstreckenraketen mit strategischer Reichweite darunter fallen zu lassen. Das ist eine Interpretation, die der Verschleierung dient.
Der Fachjournalist Thomas Wiegold hat berichtet, dass er gelegentlich in Kreisen des BMVg nachgefragt habe, was es denn mit dieser angekündigten Planung auf sich habe. Er sei regelmäßig vertröstet worden, aber immerhin mit einem Verweis auf laufende koordinierende Absprachen mit anderen Regierungen – im Plural. Gemeint waren damit offenkundig europäische Partner-Regierungen, eindeutig nicht die USA.
Zwei Nebenbeschlüsse am Rande des Washingtoner NATO-Jubiläums-Gipfel
Am Rande des NATO-Gipfels, also ausdrücklich außerhalb des NATO-Rahmens, wurde als erstes am 10. Juli 2024 die schmallippige Erklärung zur Entscheidung der USA verkündet, der Deutschland zustimmt. Die entscheidende Passage lautet:
„The United States will begin episodic deployments of the long-range fires capabilities … in Germany in 2026, as part of planning for enduring stationing of these capabilities in the future.”
Einen Tag später, am 11. Juli 2024, wurde in Washington ein letter of intent für eine eigenständige Entwicklung von landgestützten weitreichenden Cruise Missiles aus europäischer Produktion unterzeichnet. Unterzeichner sind Polen, Deutschland, Frankreich und Italien. Mit Großbritannien ist man offenkundig noch im Gespräch. Das Dokument selbst ist nicht öffentlich. Die Erklärung des deutschen BMVg dazu lautet:
„… die Absicht, mit Frankreich, Großbritannien und weiteren Partnern die kritische Fähigkeitslücke im Bereich der weitreichenden Abstandswaffen zu schließen. Es soll eine europäische Kooperation bei Entwicklung, Beschaffung, Betrieb und Ausbildung gefördert werden. Die Waffensysteme aus der Kategorie Deep Precision Strike (DPS) haben Reichweiten von über 500 Kilometern.“
Man ist versucht, das Verhältnis beider Erklärungen in folgender Weise zu deuten: Kurzfristig sollen US-Waffen stationiert werden, über die die Europäer noch nicht verfügen. Wenn die Europäer soweit sind, sollen die weitreichenden US-Waffen durch eigene Systeme der Europäer ersetzt werden. Also als ein Schritt hin zu mehr Autonomie der Europäer in der NATO. Doch die Texte geben das als Konzept nicht her. Dagegen spricht erstens, dass die US-Erklärung für eine Zeitweiligkeit keine Basis bietet; und zudem umfasst die US-seitige Erklärung drei Typen von weitreichenden Waffen, der europäische letter of intent hingegen geht nur zu Cruise Missiles.
Hinzu kommt, dass die politische Verlautbarung zum europäischen Projekt zur Wahl der Abschusseinrichtung – Luft, See, Land – schweigt; selbst das Wort „deployment“, dass die geförderte Entwicklung darin münden solle, dass stationiert werde, fehlt. Ein Vergleich mit den Aussagen in den beiden zentralen deutschen Dokumenten zeigt die Differenz, dass Deutschland durchaus von „Einführung“, also Stationierung, redet. Zudem soll unter der ELSA Initiative anscheinend allein eine weitreichende landgestützte Cruise Missile entwickelt werden, für die beiden Raketenformen, welch die USA stationieren werden, ist hingegen kein europäisches Substitut in Sicht.
Was sind “abstandsfähige Präzisionswaffen“?
„Abstandsfähig“ meint „fähig, mit Abstand Wirkung zu erzielen“, also „fernwirkend“ – wobei „fern“ prinzipiell beliebig weit angenommen werden kann. Die Fernwirkung kann dem Zweck der Abwehr dienen oder dem Zweck des Angriffs – der Beschluss der Bundesregierung vermeidet diesbezüglich eine Festlegung.
„Flugabwehr“ beziehungsweise „Luftverteidigung“ sind termini technici für Abwehrwaffen, die also Schutz bieten. Die diesbezügliche Aufrüstung in Deutschland läuft, sie ist wenig strittig – obwohl da anscheinend ein Fehler unterlaufen ist, indem Bundeskanzler Scholz direkt nach dem 24. Februar 2022 mit dem System Arrow-3 die Anschaffung eines Abwehrsystem verabreden ließ, welches auf ballistische Raketen eines Typs ausgelegt ist, über welche Russland nicht verfügt. Zudem gilt: Schutz gegen fernwirkende Waffen des Gegners ist bei weitem nicht allein mit fernwirkenden Mitteln, mit Sprengköpfen, zu erreichen.
In diesem Kontext ist die magere Erfolgsbilanz des Einsatzes westlicher Cruise Missiles unter steuerbaren Artilleriegeschossen kürzerer Reichweite in der Sommeroffensive 2023 der ukrainischen Armee von Interesse. Insgesamt hatten Frankreich und Großbritannien der Ukraine 300 Storm Shadow und SCALP zur Verfügung gestellt. Der Effekt des Einsatzes auf die Logistik und die Befehlszentren der russischen Streitkräfte war gering, erfolgreich waren diese Waffen lediglich gegenüber der russischen Schwarzmeerflotte – doch für das Ergebnis, das Scheitern der ukrainischen Sommeroffensive, trug dieser Erfolg nichts aus. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Erfolgsstatistik des sogenannten „Präzisions“-Artillerie-Geschosses „M982 Excalibur“ (aus US-Herstellung). Am Beginn, im Frühjahr 2022, lag die Treffer-Häufigkeit dieses gesteuerten Geschosses bei 70 Prozent; im August 2023, also auf dem Höhepunkt der Sommeroffensive, war sie auf sechs Prozent herabgefallen und lag damit unterhalb der Treffer-Häufigkeit ungesteuerter Artillerie-Geschosse zur selben Zeit. Das war zu einem Gutteil Effekt der angepassten elektromagnetischen Abwehrsysteme der russischen Armee.
Bleiben die Angriffswaffen, die Cruise Missiles und Raketen mit Mittelstrecken-Reichweite, also innerhalb des im INF-Vertrag einstmals definierten Abstandsbereichs. Nun muss man auf nuklear bestückte Waffen zu sprechen kommen, auch wenn die westlicherseits stationierten weitreichenden Raketen definitiv keine Nuklearsprengköpfe tragen.
Provokation des Kuba-Moments
Der Sinn der Einführung von sogenannten „taktischen“ nuklearen Waffen bestand zunächst in ihrer weit höheren Sprengkraft – deswegen fliegen Raketen mit Nuklearsprengköpfen deutlich weiter als dieselben mit konventionellem Sprengstoff. Für den Einsatz musste in den 1970/80er Jahren mit einem Streukreisradius (CEP) von bis zu mehreren Kilometern kalkuliert werden, was durch mehr Sprengkraft auszugleichen war, um sicher den intendierten Schaden beim Ziel zu erreichen. Deswegen die Überlegenheit des Einsatzes taktischer Atomwaffen, wenn die Intention zum Beispiel die Zerstörung verbunkerter Ziele war. Mittlerweile hat die technologische Welle der Digitalisierung die Präzision der weitreichenden Geschosse so wachsen lassen, dass ein großer Teil solcher Ziele, die früher nur mit Einsatz taktischer Atomwaffen sicher zu zerstören waren, heute konventionell zerstört werden können (mit Streukreisradien von 5 bis 40 Metern). Das gilt teilweise auch für gehärtete Ziele, aber insbesondere für nicht tief verbunkerte Shelter und weitgehend offene Angriffsflächen wie Basen strategischer Bomber, U-Boote in Häfen oder Frühwarnsysteme. Weitreichende Präzisionswaffen haben heute, das ist die Pointe, Funktionen, die früher Nuklearwaffen hatten. Nuklearwaffen und konventionelle fernwirkende Waffen interferieren, sie sind nicht Gegenstände völlig getrennter Welten.
Die Stationierung von weitreichenden Waffen/Raketen in Deutschland greift sogar in die nuklear-strategische Balance zwischen den USA und Russland ein. Die Stationierung in Deutschland schafft einen „Kuba-Effekt“ – damals hatte die Sowjetunion in großer Nähe zum Sanktuarium der USA mit der Stationierung von Mittelstrecken-Raketen eben jener Fähigkeiten begonnen, wie sie die für die Stationierung in Deutschland geplanten US-Waffen (mindestens) ebenfalls haben. Und das gilt in gleicher Weise, das darf ob der Fokussierung der Debatte auf die Stationierung von US-Waffen nicht übersehen werden, für die Mittelstrecken-Waffen, welche die Europäer autonom zu entwickeln sich gerade verabredet haben.
Zauberlehrlinge der Sicherheitspolitik?
Diese Entscheidungen rücken Deutschland in den Fokus präemptiver Schläge, möglicherweise Nuklearschläge, in der Frühphase eines militärischen Konflikts. Die Erklärung des BMVg in einem nachgeschobenen „Prozent Erklärungsvideo“ besagt: Raketenabschussrampen in der Tiefe Russlands sollen zerstört werden, bevor sie selbst ihre Raketen starten. Damit redet das BMVg einem überraschenden Entwaffnungsschlag seitens des Westens das Wort. Eine Einlassung solcher Qualität zeigt das Problem des Zauberlehrlings.
Wenn das das Kalkül wäre, so darf man das als Profi selbstverständlich nicht öffentlich sagen. Wir erleben eine Führungsmannschaft, die das, was sie positiv entschieden hat, offenkundig selbst noch nicht durchschaut und versteht. Das erklärt dann auch, weshalb Christoph Habermann im Hinblick auf die militärstrategische Kompetenz dieser Führung diese drei Fragen stellt:
„Warum betreibt die Bundesregierung in dieser Frage eine öffentliche Kommunikation, die mehr an Propaganda erinnert als an Information?
Warum nimmt die Bundesregierung nicht Stellung zu den grundlegenden Fragen und Problemen, die ganz offensichtlich mit der Entscheidung verbunden sind, in Deutschland zum ersten Mal seit mehr als drei Jahrzehnten wieder Mittelstrecken-Raketen unter Entscheidungsgewalt der USA zuzulassen?
Warum scheinen weder der Bundeskanzler noch der Bundesverteidigungsminister zu verstehen, dass es für ihre Entscheidung nicht einmal in der Logik der konventionellen oder nuklearen „Abschreckung“ gute Gründe gibt?“
Warum? Aus schlichtem Unverständnis? Ich befürchte, dass dies die Antwort ist.
Hans-Jochen Luhmann, Mitglied der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW).